Sonntag, 23. Oktober 2011, 14:56h

Die Zahlen explodieren – Kettenreaktionen in der sozialen Arbeit

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In der psychosozialen Arbeitsgruppe, in der sich einmal monatlich Vertreter der diversen Einrichtungen unseres Bezirks treffen, wurde beim letzten Treffen über die Zunahme der Anträge auf Einrichtung einer Betreuung gesprochen, die mittlerweile so zahlreich sind, dass es nur noch möglich ist, mit Hilfe einer Deckelung die Bearbeitung zu bewältigen. Gleichzeitig hat sich in der Zeit, in der ich an der psychosozialen Arbeitsgruppe teilnehme, die Zahl der Teilnehmer, die einem Anbieter von PPM (Personenbezogene Hilfen für psychisch kranke Menschen) angehören, erhöht. Von zwei Seiten – der rechtlichen und der pädagogischen – wird folglich eine Zunahme des Bedarfs an Betreuung deutlich, der wiederum zeigt, dass immer weniger Menschen in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.

Ich glaube allerdings, dass es auch noch einen anderen Faktor gibt, der bei der augenfälligen Zunahme des Bedarfs an Betreuung eine Rolle spielt. Hierzu muss man sich die verschiedenen Hintergründe der Antragstellung auf Betreuung ansehen. Es kommt nämlich sowohl vor, dass ein PPM-Träger eine rechtliche Betreuung beantragt als auch dass ein rechtlicher Betreuer eine pädagogische Betreuung beantragt. Was sind die Gründe hierfür?

Zum einen gibt es den Grund, dass man seinen Betreuten so gut wie möglich versorgt wissen will. Er oder sie soll die Hilfen erhalten, die zur Bewältigung des Lebensalltags erforderlich sind. Rechtliche Betreuung spielt sich in der Regel nicht vor Ort ab und erfüllt somit nicht den Bedarf der Alltagsbegleitung. Pädagogische Betreuung ist vorrangig Beziehungsarbeit und kann einen hohen Anfall von administrativen Aufgaben somit meist nicht befriedigend erfüllen. Aufgrund der völlig verschiedenen Arbeitsaufträge kann unter Umständen die Beantragung der jeweiligen anderen Betreuungsform folglich eine unumgängliche Erfordernis sein.

Ich habe aber die Vermutung, dass es noch ein weiteres Motiv für die Beantragung der jeweiligen anderen Betreuungsform gibt. Eine Betreuung stellt oftmals auch ein sehr hohes Maß an Verantwortung dar. Und vielleicht spielt es eine Rolle, dass man Verantwortung lieber teilen möchte, als sie allein zu tragen. Was nicht unbedingt als Furcht vor der Verantwortung einzustufen ist, sondern vielmehr als Furcht davor, in seiner Arbeit mangelhaft zu sein. Wenn man beispielsweise einen psychisch kranken Menschen rechtlich betreut, kann man – wenn man Glück hat – den Bereich des Wohnens, der Finanzen und der Antragstellungen ausreichend regeln. Aber zusätzlich auch noch den Bereich der sozialen Einbindung zufriedenstellend zu regeln, übersteigt dann allerdings meist die Möglichkeiten. Ein pädagogischer Betreuer wiederum kann – auch nur wenn er Glück hat – erreichen, dass der Betreute seinen Lebensalltag so verändert, dass er wieder in der Lage ist, eigenständig am sozialen Leben teilzunehmen. Wenn der Betreute sich allerdings auch weiterhin so verhält, dass er immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten gerät, stößt der pädagogische Betreuer an seine Grenzen.

Diese Grenzen, an die man in der sozialen Arbeit zwangsläufig immer wieder stößt, sind etwas, das nicht nur auf Dauer schwer auszuhalten ist, sondern das auch immer wieder in Rechtfertigungsnöte bringt. Ob pädagogischer oder ob rechtlicher Betreuer – wenn der Betreute nicht in der Lage ist, sich zu verändern und beispielsweise immer wieder in stationäre Behandlung kommt oder immer wieder in Konflikt mit dem sozialen Umfeld gerät, dann wird die Ursache unweigerlich nicht in der Person des Betreuten gesehen, sondern im Betreuer. Dem wird plötzlich Allmacht (in der Sozialpädagogik wird dies gern Omnipotenz genannt) zugesprochen und somit hat man auch endlich das, was soziale Missstände und Konflikte so schön einfach und übersichtlich macht: einen Sündenbock! Je nach Naturell wird sich dann dieser Schuh mehr oder weniger auch angezogen. Ich selbst tue mich oftmals auch schwer damit, ungerechtfertigte Vorwürfe an mir abprallen zu lassen.

Aber selbst wenn ein pädagogischer oder rechtlicher Betreuer in der Lage ist, die Schuldzuweisungen Dritter von sich zu weisen, so bleibt doch immer noch die ganz persönliche Ebene, auf der man mit den Grenzen seines Handelns leben muss. Und da erfordert es ein hohes Maß an Abgrenzung, wenn der Versuch, eine Verbesserung der Situation des Betreuten zu erreichen, scheitert. Wenn man trotz sehr viel Aufwands an Grenzen stößt und kaum Veränderungen bewirkt und man sich irgendwann unweigerlich fragt: „Was tue ich hier eigentlich?“.

Ich glaube, dass dieses latent oftmals vorhandene Ohnmachtsgefühl dazu beiträgt, dass man versucht, das Netzwerk der Hilfsmöglichkeiten zu erweitern und sich andere Helfer „mit ins Boot“ zu holen. Dies ist wohlgemerkt nur ein Aspekt des Phänomens der steigenden Betreuungszahlen im Bereich rechtlicher und pädagogischer Betreuung. Natürlich sind die Ursachen des steigenden Bedarfs sehr viel komplexer und beruhen in erster Linie auf gesellschaftlichen Veränderungen in den sozialen Beziehungen. Aber dennoch ist es wichtig, sich auch mit diesen Aspekt der „Kettenreaktion“ sozialer Arbeit auseinander zu setzen.

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Donnerstag, 11. August 2011, 12:26h

Ratlosigkeit

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Gestern wurde wieder über einen Fall von Kindesvernachlässigung berichtet. Vor Gericht wird der Fall einer 31jährigen Mutter verhandelt, die ihre vier Töchter (2 – 12 Jahre) eine Woche ohne Lebensmittel allein in einer völlig vermüllten Wohnung ließ. Das ganze ereignete sich vor 2 Jahren, inzwischen leben die beiden älteren Töchter bei der Oma und die beiden jüngeren in einer Pflegefamilie.

Es wird berichtet, dass sich bei den älteren Töchtern eine starke Verlustangst und Verschlossenheit ausgebildet hat. Die Mutter hat sie die ganzen letzten zwei Jahre nicht besucht. Die jüngste Tochter leidet an einer Essstörung, die vermutlich eine Folge des erlittenen Hungers ist. Es mussten außerdem sämtliche alle Zähne gezogen werden, weil alle verfault waren.

Die Mutter hat insgesamt sechs Kinder von fünf Männern, das jüngste kam vor sechs Monaten zur Welt. Von den Vätern der vier Töchter hat sich anscheinend keiner um sein Kind gekümmert.

Das brisante an dem Vorfall ist, dass die Familie schon seit Jahren von einer Familienpflegerin des Jugendamtes betreut wird. Die Zustände in der Familie waren also bekannt.

Und wieder Erstaunen und Empörung bei der Öffentlichkeit. Fälle wie dieser kommen immer häufiger vor. Nicht nur die Mütter sind überfordert, sondern auch die Helfer. Es entsteht eine Dreieckskonstellation aus abwesenden Vätern, überforderten und unfähigen Müttern und hilflosen Helfern. In diesem Dreieck wachsen dann Kinder auf, die von Anfang an keine Chance auf eine normale und kindgerechte Entwicklung haben.

Es tut weh, davon zu lesen. Ich mag mir nicht vorstellen, wie sich Kinder fühlen, die hungernd und von der Mutter verlassen in einer vermüllten Wohnung leben. Und deren Beziehung zur Mutter dann plötzlich und unvorbereitet abbricht. Ich bin mir sicher, dass die Mutter, die ja erst 31 Jahre alt ist, noch weitere Kinder in die Welt setzen wird, die diesen Leidensweg ebenfalls gehen müssen.

Was bleibt, ist Ratlosigkeit.

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Samstag, 23. Juli 2011, 01:26h

Und es gibt sie doch – Helden!

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Eine Nachricht, die sehr viel Mut macht: die Altenpflegerin Brigitte Heinisch erstritt vor dem Europäischen Gerichtshof eine Entschädigung für die Kündigung durch ihren Arbeitgeber, ein Berliner Pflegeheim. Grund für die Kündigung war die angebliche Rufschädigung, die durch ihre Anzeige wegen der Missstände im Pflegeheim verursacht wurde. Während die Prozesse vor dem Arbeitsgericht, dem Landesarbeitsgericht und dem Bundesverfassungsgericht scheiterten, entschied jetzt der europäische Gerichtshof, dass das öffentliche Interesse in dieser Sache wichtiger ist als die mögliche Rufschädigung des Unternehmens.

Brigitte Heinisch hat ihre Erfahrungen als Altenpflegerin niedergeschrieben in dem Buch „Satt und sauber“? Ich habe dieses Buch noch nicht gelesen, was ich aber nachholen werde.

Was mich zutiefst berührt, ist die große Mut, den diese Frau aufgebracht hat. Bei Missständen nicht einfach zu ducken und zu kuschen. Und auch nicht gleichgültig mit den Schultern zu zucken, da es ja „nur“ um andere geht und nicht um die eigene Person (oder die lieben Kleinen). Und mich beeindruckt das Durchhaltevermögen, das diese Frau aufgebracht hat. Sich durch sämtliche Instanzen bis zum Europäischen Gerichtshof durchzubeißen – Hut ab!

Diese mutige Frau versöhnt mich ein wenig. Man darf eben nicht vergessen, dass es auch diese Menschen gibt. Menschen, denen es nicht nur auf einen möglichst hohen Verdienst und ein möglichst guten Eindruck ankommt. Menschen, die Missstände nicht einfach hinnehmen und etwas dafür tun, dass sich Dinge verändern. Menschen, denen wir soziale Verbesserungen und mehr Humanität verdanken.

Es macht Hoffnung, dass es doch noch Menschen gibt, die aufrecht gehen und nicht kriechen. Helden eben.

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Samstag, 21. Mai 2011, 03:33h

Kleine Philosophie der Maxime des Nichtzuständigseins

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Es gibt viele Dinge, in denen sich Menschen unterscheiden – politische Ansichten, religiöse Überzeugungen, unterschiedliche Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Einstellung zur Gewalt und was-sonst-noch-alles. Für mich ist einer der entscheidendsten Unterschiede zwischen Menschen die Art des Umgangs mit der Frage der Verantwortlichkeit. Und hier gibt es eine Aussage, die eine ganze Lebensphilosophie in einem einzigen Satz vereinigt. Dieser Satz lautet: „Dafür bin ich nicht zuständig“.

Zuerst einmal möchte ich betonen, dass dieser Satz auch durchaus seine Berechtigung haben kann. Zum Beispiel, wenn ein Patient seinen Zahnarzt bittet, auch seine Magenschmerzen zu behandeln. Oder wenn jemand bei einem Kauf im Supermarkt verlangt, dass ihm von der Verkäuferin die Ware nach Hause gebracht wird. Oder wenn jemand bei seiner Krankenkasse auch die Kostenübernahme für eine Autoreparatur beantragt. In all diesen Fällen ist klar – es liegt keine Zuständigkeit vor.

Auch bei Betreuern gibt es klare Definitionen unserer Aufgaben. Wir sind nicht dazu da, Socken oder Zahnbürsten zu unseren Betreuten ins Krankenhaus oder ins Heim zu bringen. Wir sind ebenfalls auch nicht dazu da, Einkäufe zu tätigen. Und es ist auch nicht unsere Aufgabe, den Betreuten zum Arzt zu begleiten. Und es ist auch nicht unsere Pflicht, am Wochenende oder nachts bei Krisensituationen Gewehr-bei-Fuß zu stehen.

Aber von diesen eindeutig definierten Bereichen abgesehen, gibt es viele Situationen, in denen es nicht mehr eindeutig ist, ob wir tätig werden sollten oder nicht. Und hier gibt es dann gravierende Unterschiede im Umgang mit der Zuständigkeit.

Bei einer Fortbildung zum Thema Büroorganisation für Betreuer, an der ich vor kurzem teilgenommen habe, ging es unter anderem auch um die Frage der Zuständigkeit. Und hierbei kam ich aus dem Stauen darüber nicht mehr heraus, welch – fast schon religiös wirkende – Bedeutung diese Frage bei manchen Betreuern hat.

Sicher, wir sind nach dem Tod des Betreuten formal nicht mehr zuständig. Aber wenn ein Nachlasspfleger noch ein paar Auskünfte benötigt, weil sich sonst die Bestattung des Betreuten – an dem wir übrigens jahrelang (manchmal sogar Jahrzehnte!) verdient haben – verzögert, dann könnte man auch trotz der formal beendeten Zuständigkeit einen kurzen Rückruf (da meist jeder eine Flatrate hat, ist dies auch kostenfrei) tätigen. Wenn Angehörige des Verstorbenen, die manchmal verständlicherweise mit den zu regelnden Angelegenheiten überfordert sind, noch die ein- oder andere Unterlage benötigen, könnte man sich fragen, ob man nicht diese fünf oder vielleicht auch zehn Minuten investiert, damit diese Menschen nicht tagelang in irgendwelchen Behörden verbringen müssen.

Wie gesagt – könnte man. Muss man aber nicht. Bei einer der Teilnehmerinnen löste meine Ansicht tiefstes Unverständnis aus. Und dann kam er wieder – dieser Satz, mit dem alles, was übers Plansoll hinausgeht, erbarmungslos abgeschmettert wird: „Dafür bin ich nicht zuständig“. Die gleiche Betreuerin, die erwartet, dass vom Pflegedienst Bekleidung ins Krankenhaus gebracht wird (was eindeutig nicht Aufgabe des Pflegedienstes ist und auch nicht bezahlt wird) und die von der Haushaltshilfe Tätigkeiten erwartet, die nichts mit deren Aufgaben zu tun hat, rührt aus tiefster Überzeugung keinen Finger mehr, wenn die Betreuung formal beendet ist. Man könnte meinen, dass in diesem Fall die Frage der Zuständigkeit vielleicht existenzielle Bedeutung hat, weil die Betreuerin so wenig verdient, dass sie rigoros jede Hilfeleistung ablehnen muss. Weit gefehlt – die betreffende Betreuerin führt fast doppelt so viel Betreuungen wie ich.

Ich halte die Frage der Zuständigkeit für eine hochphilosophische Frage des Umgangs mit Menschen. Und es löst bei mir Grauen aus, wenn man von anderen fordert, was man selbst nicht bereit ist zu geben. Es ist die Verhältnismäßigkeit, die dabei so erschreckend ist. Wenn man weiß, dass der Angehörige eines Verstorbenen vielleicht wochenlang einem Papier hinterrennen muss, und man keinen Finger rührt, obwohl man diese Notlage durch eine Gefälligkeit von ein paar Minuten verhindern kann, dann stellt dies eine Degeneration menschlicher Beziehungen dar.

Ich weiß, dass dies Phänomen nicht nur bei Betreuern zu finden ist. Vor ein paar Jahren erlitt ich auf einem auf einer Insel gelegenen Campingplatz eine schwere Lebensmittelvergiftung. Nach einer Nacht stundenlangen Erbrechens schleppte ich mich morgens schwankend zum Campingplatzinhaber, um zu erkunden, wie ich schnell zu einem Arzt kommen könnte. Der war offensichtlich sehr verärgert über die frühe Störung und verwies mich an die Anschläge am schwarzen Brett. Er sah auch keinen Grund, mich mit seinem Telefon das Taxi anrufen zu lassen, denn „er sei ja kein öffentliches Telefon“. Erst als ich der Angestellen zwei Euro für ein Telefonat bot, konnte ich den Transport zum Arzt veranlassen. Die Vergiftung war so schlimm, dass ich trotz Spritze mehrere Stunden am Tropf hängen musste.

Wenn jemandem in einer Situation, in der er kurz vorm physischen Zusammenbruch steht, von jemanden verärgert „Dafür bin ich nicht zuständig“ gesagt wird, dann stellt dies eine gefährliche Entwicklung dar. Allerdings nur aus menschlicher Sicht, nicht aus kaufmännischer. Vom kaufmännischen Standpunkt gibt es nichts zu beanstanden. Dem Campingwirt kann kein Fehlverhalten vorgeworfen werden, denn er ist weder Telefonvermittlung noch Krankenschwester. Betriebswirtschaftlich korrekt hat er sich an seine Aufgaben gehalten. Er war: „nicht zuständig“.

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Mittwoch, 27. April 2011, 12:56h

Auch das Private ist politisch - warum es Frauenhäuser gibt

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Diese Frage hört sich naiv an und jeder wird sofort antworten „Weil es Schutzräume für Frauen geben muss, die vor Beziehungsgewalt flüchten“.

Aber mir geht es bei der Frage nicht um die gesellschaftliche Funktion von Frauenhäusern. Meine Frage nach dem „Warum“ bezieht sich auf die Frage nach der Entstehung. Nicht so sehr in soziologischer Hinsicht, sondern als Beispiel dafür, was möglich ist, wenn Menschen Missstände nicht einfach hinnehmen, sondern an Veränderungen arbeiten. Wenn Menschen Interesse daran haben, in gesellschaftliche Zusammenhänge einzugreifen und diese selbst mitzugestalten.

Sollte man die Entstehungsgeschichte in einem Satz zusammenfassen, so wäre dies die Aussage: „Auch das Private ist politisch“. Entstanden sind die Frauenhäuser in den 70er Jahren. Gewalt in der Familie gab und gibt es aber natürlich schon seit Menschengedenken, Neu war jedoch, dass man einen als rein privat bezeichnetem gesellschaftlichen Umstand aus der beschützten Sphäre des Privaten herausgeholt hat und ihn öffentlich gemacht hat. Und damit handelte es sich um nicht mehr und nicht weniger als einen riesigen Tabubruch.

Die alte Philosophie des Vertuschens und Beschwichtigens wich der völlig neuen Philosophie der Öffentlichmachung. Nestbeschmutzung wurde dies von so manchem genannt, dem es wichtig war, am Bild von der Familie als harmonischen und reibungslos funktionierenden Ort festzuhalten. Aber es kamen nicht nur Vorwürfe aus konservativen Kreisen. Auch der männliche Teil der linken Szene schüttelte den Kopf. Was hatte das noch mit Klassenkampf zu tun? Hatte man nicht Wichtigeres zu tun, als sich mit privaten Gefühlsduseleien zu befassen? Allen Ernstes wurde behauptet, dass der erfolgreiche Klassenkampf auch die Gewalt gegen Frauen beenden würde. Und allen Ernstes wurde vehement daran festgehalten, dass es in der DDR keine Frauenhäuser gäbe, weil sozialistische Männer nicht gewalttätig wären (ach, schön wär’s…).

Allen Anfeindungen aus konservativen und linken Kreisen zum Trotz etablierten sich Frauenhäuser. Schmutz wurde nicht mehr unter den Teppich gekehrt, sondern der Öffentlichkeit preisgegeben. Das, was als Nestbeschmutzung diffamiert wurde, war in Wirklichkeit ein Reinigungsprozess. Gewalt in der Familie wurde nicht mehr vertuscht sondern an den Pranger gestellt. „Seht her, das ist die Realität“. Und das war auch genau das, was die Zeit der Entstehung von Frauenhäusern prägte und auch für andere Bereiche galt. Ob Atomkraft, Umweltverschmutzung, Benachteilung von Randgruppen – lautstarke und wütende Thematisierung statt freundlicher Ignoranz. Dabei geht es mir nicht darum, diese Zeiten zu verklären, sondern darum, aufzuzeigen, auf welchem Weg erforderliche Veränderungen erfolgen.

Ich selbst habe im Zwischenpraktikum meines Studiums im Frauenhaus gearbeitet. Und wenn es auch so manches gab, was mir nicht gefiel und mit dem ich nicht übereinstimmte – das Grundgefühl der damaligen Zeit war das der Veränderung und des Vorgehens gegen Missstände. Und am Anfang stand das Öffentlichmachen. Rigoros und unversöhnlich. Ohne Wenn und Aber, denn ein Missstand muss zuerst einmal benannt werden, um ihn zu bekämpfen.

Mir kommt es vor, als lägen Äonen zwischen gestern und heute. Wie weit entfernt ist das „Seht her, das stinkt zum Himmel!“ vom „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt“. Wie abgrundtief ist der Unterschied zwischen dem „Wir müssen auf Missstände aufmerksam machen“ vom „Wir müssen einen guten Eindruck machen“. Was für Welten liegen zwischen dem Begriff des „Klientels“ und dem des „Kunden“. Und last not least – wie schwer hatten es Alphamännchen zur damaligen Zeit. Kritikverbote oder Androhung von Unterlassungsklagen hätten damals wahrscheinlich eine kleine Revolte ausgelöst.

Meine Nichte sagt mir, dass ich nicht immer so negativ sein soll und deswegen schließe ich mit einer kleinen Anekdote. Unser Alphamännchen schilderte vor einiger Zeit empört, dass er früher bei einer Demonstration (daran hat er tatsächlich früher teilgenommen) aus dem Lesbenblock geworfen wurde. Abgesehen davon, dass ich nicht verstehe, wieso ein Alphamännchen ausgerechnet im Lesbenblock mitmarschieren will (weil da keine anderen Alphas angetroffen werden?? Weil Frauen männliche Unterstützung brauchen??) genieße ich die Vorstellung, dass es Zeiten gab, in denen Frauen alles andere als nett und freundlich waren und man ab und zu mal ein schön lautes „Nein“ hören konnte.

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Donnerstag, 10. März 2011, 12:41h

Chapeau - Gründung der Hamburger Kulturloge

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Gerade habe ich aus der Presse erfahren, dass sich im Januar ein Verein namens „Hamburger Kulturloge“ gegründet hat. Dieser Verein arbeitet nach dem "Tafelprinzip", das heißt, es wird Menschen mit niedrigem Einkommen bzw. staatlicher Unterstützung ermöglicht, wieder am kulturellen und vielfältigen gesellschaftlichen Leben, sowie Freizeitaktivitäten der Stadt Hamburg teilzunehmen. Veranstalter geben nicht verkaufte Karten ab und diese werden dann kurzfristig vom Verein an Bedürftige verteilt.

http://www.kulturloge-hamburg.de/die-kulturloge.phtml

Zu der Idee dieses Projekts kann man nur gratulieren. Sozial Benachteiligte sind von kulturellen Veranstaltungen nahezu ausgeschlossen. Insbesonders Heimbewohner und Familien mit Kindern trifft es dabei besonders hart. Und es stimmt hoffnungsvoll, dass es nicht nur Menschen wie einige Kollegen gibt, die es als Anspruchsdenken ansehen, wenn auch sozial Benachteiligte am sozialen Leben teilhaben wollen, sondern auch Menschen, die der Ansicht sind, dass jeder ein Recht auf Teilnahme an der Gesellschaft hat. Hoffnungsvoll stimmt auch, dass es doch immer wieder Menschen gibt, die sich ohne jegliche finanziellen Interessen und einfach um einer Sache willen für etwas ihre Zeit und Arbeit investieren.

Bleibt zu hoffen, dass sich möglichst viele Kooperationspartner finden, denn das Projekt steht und fällt natürlich damit, dass möglichst viele ihre nichtverkauften Karten dort spenden. Immerhin gibt es zur Zeit aber schon 15 Kulturelle Einrichtungen.

Durch diese Seite bin ich noch auf eine weitere interessante Website gestoßen:
http://www.hamburg-for-free.de/
Wie der Name schon sagt, geht es um Veranstaltungen, die keinen Eintritt kosten.

Übrigens gab es früher grundsätzlich ermäßigte Eintrittspeise für Arbeitslose in Museen. Dies ist merkwürdigerweise nicht mehr so und ich habe den Dachverband der Hamburger Museen angeschrieben, um mich zu erkundigen. Der wies mich dann darauf hin, dass jedes Museum eigenständig über Ermäßigungen entscheidet. Schade - die vorherige Lösung fand ich besser und transparenter, denn die Ermäßigung wurde früher direkt bei der Nennung der Eintrittspreise genannt.

Um so besser, dass es so ein Engagement wie das der Hamburger Kulturloge gibt. Und nochmals: Chapeau!

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Donnerstag, 13. Januar 2011, 01:54h

EX-IN – Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen in psychosoziale Arbeit

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Einer meiner Betreuten nimmt seit einiger Zeit an einem Projekt teil, in dem die Teilnehmer zum Mitarbeiter in psychosozialen Diensten qualifiziert werden. Das Besondere an dem Projekt ist, dass es sich speziell an Psychiatrie-Erfahrene richtet, also an Menschen, die selbst eine psychische Erkrankung durchlebt haben.

Das Projekt nennt sich Experienced-Involvement - kurz EX-IN - und hat das Ziel, Betroffene in psychosoziale Arbeitsfelder mit einzubeziehen. Dabei geht man davon aus, dass es gerade die konkrete eigene Erfahrung ist, die das Verständnis von psychischen Erkrankungen und das Wissen über Genesung fördert und die die Kenntnisse des psychiatrischen Fachpersonals erweitert.

Ein Baustein des Projekts ist der „Trialog“, bei dem es sich um den Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Therapeuten handelt. Ein Ansatz, den man übrigens auch auf die Betreuungsarbeit übertragen kann und sollte – denn der Betreute befindet sich nicht in einem sozialen Vakuum sondern ist Teil von sozialen Beziehungen und in manchen Fällen kann sehr viel mehr erreicht werden, wenn Angehörige miteinbezogen werden.

Ich begrüße dieses Projekt und hoffe, dass dieser Ansatz Schule macht. Es ist längst überfällig, sich viel mehr mit den Betroffenen auseinanderzusetzen. Bisher gab es die klassische Aufteilung in Experten und Laien. Der Kranke ist auf seine Rolle festgelegt, und zwar auf Lebenszeit. Natürlich kann niemand, der gerade einen akuten psychotischen Schub erleidet, in diesem Zustand andere beraten. Aber eine Psychose ist kein statischer Zustand und wenn die akuten Symptome abgeklungen sind, ist es durchaus möglich, dass jemand stabil genug ist, um anderen beratend zur Seite zu stehen. Gerade weil er selbst psychotische Symptome erlebt hat und diese nicht nur aus der Sicht eines Betrachters kennt.

Ich würde mir diesen Ansatz noch viel öfter wünschen. Zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, wann Kinder zu ihrem Schutz aus einer Familie hinausgenommen werden müssen. Warum bezieht man nicht viel öfter all diejenigen mit ein, die selbst in einer Familie aufwuchsen, in der es Gewalt oder Sucht oder Missbrauch gab? Bei den Fällen von selbst Betroffenen, die mir bekannt sind, gibt es eine klare Kritik an dem Grundsatz, einem Kind erst dann einen Wechsel in ein anderes Umfeld zuzugestehen, wenn es schon fast zu spät ist.

Aber auch in anderen Bereichen halte ich das Prinzip der Mitbeteiligung für dringend erforderlich, wie zum Beispiel auch im Bereich der Verwaltung. Wir werden ständig mit wechselnden Voraussetzungen, Zuständigkeiten und Abläufen konfrontiert, die oftmals völlig an der Praxis vorbeigehen. Meine Idee ist die eines Sprecherrates, der sich aus Mitarbeitern psychosozialer Stellen zusammensetzt, aber auch aus Betroffenen. Ein Beispiel wäre die Gestaltung von Bescheiden. Niemand außer den Behördenmitarbeitern kann die amtlichen Bescheide verstehen und nachvollziehen. Eben darum benötigen immer mehr Menschen professionelle Hilfe. An der Bescheidsgestaltung sollten zwingend auch Vertreter der Bescheidsempfänger beteiligt sein.

„Willst du etwas wissen, frage Erfahrene, nicht Gelehrte“ – dieses chinesische Sprichwort steht auf dem EX-IN-Infoblatt. Und genau das sollte endlich Schule machen – die eigentlich Betroffenen in Gestaltungsprozesse mit einzubeziehen. Es geht dabei um viel mehr als nur um ein Zugeständnis an Betroffene - es geht darum, endlich die Chance wahrzunehmen, wirkliches Fachwissen zu erwerben.

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Donnerstag, 2. Dezember 2010, 01:21h

Thema Einsparungen - der Unterschied zwischen betriebswirtschaftlichem und volkswirtschaftlichem Denken

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Einmal im Monat treffen sich Vertreter von verschiedenen sozialen Einrichtungen und behördlichen Stellen unseres Bezirks zum Austausch in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft – kurz PSAG. Es geht um einen Informationsaustausch über die den sozialen Bereich betreffenden Neuigkeiten. Neue Einrichtungen, neue Rechtssprechungen, Veränderungen in Verfahrensabläufen, politische Hintergründe und vieles mehr. Heute fand unser jährliches Weihnachtsfest statt, das traditionsgemäß von den Elbewerkstätten, einer Werkstatt für Menschen mit psychischen Erkrankungen, veranstaltet wird.

Diesmal ging es unter anderem um das Problem, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen die erforderliche Hilfeleistung verweigert wird, indem die Kriterien für die Hilfegewährung als nicht erfüllt angesehen werden. Im Klartext: jemand möchte Hilfe, wird aber als zu gesund eingestuft. Dies kann sowohl bei psychosozialen Hilfeleistungen wie PPM (personenbezogene Hilfe für psychisch kranke Menschen) als auch bei rechtlicher Betreuung passieren. Staatliche Hilfen – egal aus welchem Topf – kosten Geld und nach Meinung der Politiker eben viel zuviel. Also werden die Maßstäbe enger angelegt.

Man dreht sich bei diesen Diskussionen im Kreis. Denn wenn eine beantragte erforderliche Hilfeform abgelehnt wird, bleibt der Hilfebedarf natürlich nach wie vor bestehen, so dass sich die Situation meist irgendwann verschlimmert und andere Hilfen erforderlich werden. Hinzu kommt die merkwürdige politische Tendenz, soziale Einrichtungen immer mehr in private Unternehmen zu wandeln. Aus Beratungsstellen werden dann plötzlich GmbHs, Holdings oder KGs.

Ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn dies auch zum gewünschten Erfolg führen würde. Aber leider ist das nicht so. Und einer der Kollegen hat dies auf den Punkt gebracht: die sozialen Einrichtungen werden immer mehr betriebswirtschaftlich geführt anstatt volkswirtschaftlich. Es werden Heime oder Krankenhäuser privatisiert, weil man sich davon wirtschaftlicheres Arbeiten verspricht, was sich jedoch meist nicht erfüllt. Konsequenz dieser Umwandlung ist aber außerdem, dass sich durch strukturelle Veränderungen Defizite in anderen Bereichen ergeben können. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene ist das dann schnurz-piepe-egal, auf der volkswirtschaftlichen aber eben nicht. Wenn man z.B. die Aufnahmekriterien für eine Arbeitsstelle in einer Werkstatt für Behinderte erhöht, mag es sein, dass die Werkstatt dann wirtschaftlicher arbeitet. Es fallen dann aber Menschen aus dieser Einrichtung heraus, für die dann irgendwann eine andere Hilfe erforderlich wird.

Eine wahre Hiobbotschaft ist die Absicht der Stadt, die bezirkliche Seniorenberatung einzusparen. Die Seniorenberatung ist eine eng an das Sozialamt angeschlossene Stelle, die für die älteren Menschen zuständig ist, wenn diese Hilfe bei der Organisation ihrer Versorgung benötigen. Ältere Menschen haben oftmals noch nie etwas mit dem Sozialamt zu tun gehabt und wissen daher überhaupt nicht, wo und wie man einen Antrag stellt. Meist ist die bezirkliche Seniorenberatung nur mit einer, manchmal auch mit zwei Personen besetzt, die die älteren Menschen in ihrer Wohnung aufsuchen. Oftmals geht es um die Beauftragung eines ambulanten Pflegedienstes und die damit verbundenen finanziellen Hilfen, oder es geht um die Beantragung eines Platzes in einer Tagespflegestätte oder in einem Heim. Auf jeden Fall geht es meist um sehr existentielle Probleme.

Und diese Stellen will die Stadt nun einsparen. Wer kümmert sich dann um hilfebedürftige alte Menschen? Wahrscheinlich erstmal niemand, bis die Situation so eskaliert, dass jemand eine rechtliche Betreuung benötigt, die alles weitere veranlasst. Oder aber jemand muss dann ins Heim, wodurch die Versorgung gewährleistet ist. Aber das sind ja andere Finanzierungstöpfe und deswegen interessiert es schlichtweg niemanden.

Wir haben alle diese unerfreulichen Neuigkeiten mit Galgenhumor aufgenommen – schließlich war es ja unser Weihnachtsfest und wir wollten ein wenig feiern. So negativ der Anlass zur Diskussion auch war – immerhin gab es wenigstens eine Diskussion. Es wäre unvorstellbar, die besprochenen Themen beim Treffen der Berufsbetreuer zu diskutieren. Niemand ist daran auch nur ansatzweise interessiert, da diese Themen nicht unmittelbar mit unserer Vergütung zusammenhängen. Und dies ist genau das, worum es in im Grunde bei der Diskussion ging – der Unterschied zwischen betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Denken.

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Mittwoch, 10. November 2010, 12:22h

Qualitätsmanagement

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Vor kurzem wurde mir von einem großen Hamburger Träger von Pflegeheimen ein Fragebogen zugeschickt. Es ging um die Frage, wie zufrieden man mit der Pflege und dem Service ist, wozu verschiedene Bereiche abdeckende Fragen gestellt wurden. Auch manche Pflegedienste befragen ihre Patienten direkt, um zu erfahren, was es für Kritik es gibt und wo ein Bedarf nach Veränderung besteht.

Seit einiger Zeit wird die Arbeit der Heime und auch die der ambulanten Pflegedienste vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse kontrolliert, indem ohne Voranmeldung ein Besuch bei einem Patienten erfolgt und dieser dann ganz konkret befragt wird. Als Betreuerin werde ich dann kurzfristig telefonisch um Erlaubnis gebeten – wobei mir dies ein wenig merkwürdig erscheint, denn wenn der Betreute gern an der Befragung teilnehmen möchte, wäre es fraglich, ob ein Betreuer dies überhaupt untersagen dürfte. Aber um diese Problematik soll es hier nicht gehen, sondern darum, dass dies eigentlich genau der Weg ist, die Betroffenen in die Gestaltung ihrer Pflege und Versorgung mit einzubeziehen.

Der Begriff Qualitätsmanagement ist mir eigentlich – wie die meisten der werbewirksam konstruierten Begriffe – zuwider. Aber hier kann ich mich doch damit anfreunden. Denn in diesem Fall handelt es sich ausnahmsweise um keine Sprechblase wie beispielsweise das unerträgliche „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt“ sondern eine konkrete und ehrliche Maßnahme, um Mängel aufzudecken und deren Behebung zu ermöglichen.

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Montag, 27. September 2010, 19:03h

Reiselektüre und Aha-Erlebnis

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Habe mir als Urlaubslektüre das Buch „Mein Weg führt nach Tibet“ von Sabriye Tenberken ausgesucht. Die Autorin hat vor mehr als 10 Jahren in Tibet eine Schule für blinde Kinder gegründet. Sabriye Tenberken ist selbst blind.

Das Ungewöhnliche an dem Buch ist der Mut und die Tatkraft der Autorin. Am Anfang gab es einfach nur eine Idee, deren Umsetzung dann in einem Land erfolgte, das – wie viele andere asiatische Länder auch – kaum über soziale Einrichtungen verfügt und dessen Infrastruktur alles andere als hoch entwickelt ist.

Angefangen von dem Bereisen des Landes, um blinde Kinder ausfindig zu machen bis zur Umsetzung der Finanzierung des Projektes hat Sabriye Tenberken alles selbst in die Hand genommen. Während schon die meisten nicht erblindeten Menschen bei der Reise durch ein Land wie Tibet an ihre Grenzen stoßen, hat die Autorin alle Schwierigkeiten mit bewundernswertem Mut und viel Hartnäckigkeit gemeistert – Ritte durch gefährliche Schluchten, Übernachtungen in unwirtlichen Lagern und die Konfrontation mit einer völlig anderen Lebensweise.

Das Projekt drohte kurz vor Erreichen des Zieles zu scheitern, weil sich die Motivation des Kooperationspartners – des Direktors eines Waisenhauses – als reiner Eigennutz entpuppte und außerdem von dem Trägerverein überhaupt keine Unterstützung geleistet wurde, sondern nur Steine in den Weg gelegt wurden. Trotzdem hat Sabriye Tenberken nicht aufgegeben und als alles zu scheitern drohte, in völliger Eigenregie weitergemacht.

Heute gibt es in Tibet nicht nur die Blindenschule, sondern auch eine Ausbildungsstätte für Blinde. Und alles, weil jemand eine Vision hatte und sich von niemandem an der Verwirklichung dieser Vision hindern ließ. Und das ist mein Aha-Erlebnis: soziale Projekte sind selbst trotz größter Widrigkeiten möglich, wenn die Intention nicht durch finanzielles Interesse geprägt ist, sondern allein in dem Anliegen selbst begründet ist. Man kann ein florierendes Restaurant oder ein lukratives Marketingbüro allein aus Geschäftssinn und finanziellem Interesse heraus aufbauen, aber bei pädagogischen oder sozialen Projekten funktioniert dies nicht. Denn wenn Entscheidungskriterien von finanziellen Aspekten bestimmt werden, wird meist nicht im Interesse der Betroffenen entschieden - aber genau das ist bei einem sozialen oder pädagogischen Projekt nun mal unverzichtbar. Und pädagogische oder soziale Ziele decken sich nun mal äußerst selten mit finanziellem Gewinn.

Wir bräuchten viel mehr Menschen wie Sabriye Tenberken. Dann könnte so manches verbessert und erreicht werden. Ich bewundere insbesondere die Art, wie Sabriye Tenberken mit den vielen Rückschlägen umging - ohne eine Spur von Verbitterung hat sie mit dem gleichen Elan weiter gemacht.

Ürigens ist das Buch auch unabhängig von dem Thema der Gründung einer Blindenschule sehr lesenswert und spannend, denn es gibt Einblick in die Welt Tibets und in die Welt der Nicht-Sehenden.

Edit
Möchte noch hinzufügen, dass Sabriye Tenberken doch nicht völlig allein dastand, denn als sie ihr Projekt startete, hat sie Freundschaften geschlossen und auch ihren jetzigen Partner kennen gelernt. Es ist ja eigentlich auch kaum möglich, dass so eine ungewöhnliche Frau nicht irgendwann andere mit ihrer Begeisterung und ihrem Mut ansteckt.

Wie formuliert es doch Mr. Hobbs in Frances Hodsgon-Burnetts „Der kleine Lord“? „Kein Weg ist zu schwer mit einem Freund an der Seite!“

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