Mittwoch, 23. Juni 2021, 16:14h

Identitätspolitik

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Bis vor kurzem war mir der Begriff der Identitätspolitik überhaupt nicht geläufig. Aber inzwischen kommt man um diesen Begriff nicht herum. Das Merkwürdige an dem Begriff Identitätspolitik ist, dass er für etwas steht, das schon seit langem existiert und das auch schon seit ewigen Zeiten zur Politik dazugehört. Es geht um interessenspezifisches Engagement, das sich nicht nur in politischen Bewegungen, sondern oft auch in den einzelnen Ressorts der Ministerien widerspiegelt. Die Liste der einzelnen Gruppierungen ist lang: Frauen, Senioren, Behinderte, Menschen mit Migrationshintergrund, Homosexuelle etc.

Was ist dann eigentlich das Gegenteil von Identitätspolitik? Im Lexikon wird dies als Universalismus benannt, eine Überzeugung, die ihre Wert- und Zielvorstellungen grundsätzlich auf ausnahmelos alle Menschen bezieht. Das erklärt für mich allerdings immer noch nicht, warum in Diskussionen plötzlich ein Begriff zum Schlagwort wird, der vorher anscheinend durchaus verzichtbar war.

Was könnte ein Unterschied sein, zwischen dem schon seit langem selbstverständlich zur Politik gehörendem interessenspezifischen Engagement und der jetzt als politische Kategorisierung fungierenden Identitätspolitik? Gibt es das sogenannte "Große Ganze" nicht mehr und falls dies so ist, wodurch wurde es verdrängt? Was ist überhaupt das "Große Ganze"?

Mir fällt da spontan die Friedensbewegung der 80er Jahre ein. Als 400.000 (auch ich war da) Menschen auf dem Hamburger Rathausplatz gegen die Aufrüstung, bzw. den Nato-Doppelbeschluss demonstrierten. Mit der kleinen Einschränkung, dass einige linke Gruppierungen auch hier versuchten, das Thema zu instrumentalisieren, indem sie dem gänzlich bösen Westen einen gänzlich friedfertigen Osten gegenüberstellten, ging es dennoch tatsächlich um das universelle Thema des Weltfriedens, das ausnahmslos jeden betrifft.

Aber dann setzten grundlegende Veränderungen ein, denn durch das Ende des Kalten Krieges verlor aufgrund des Wegfalls der unmittelbaren Bedrohung das Thema Weltfrieden an Brisanz. Gleichzeitig gewann in der Parteienlandschaft die Partei der Grünen an Bedeutung, zu deren Hauptprogrammpunkten neben Umweltschutz auch Friedenspolitik gehörte - beides ganz klar übergeordnete universelle Themen, die ausnahmslos jeden Menschen betreffen. Weitere Themen waren auch die von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, wie eben Frauen, Homosexuelle, Behinderte, Migranten, Geringverdiener. Das Parteiprogramm war breit gefächert.

Hat sich diese Politik, die mittlerweile auch von anderen Parteien mehr oder weniger übernommen wurde, im Jahr 2021 geändert? Nein, es ist in erster Linie die Gesellschaft, die sich massiv verändert hat, indem für viele Minderheiten und Randgruppen entscheidende Verbesserungen erzielt wurden. Aber trotz einer erheblich veränderten Gesellschaft ignoriert die Politik hartnäckig alle Veränderungen, so als würden wir uns nach wie vor in den 80ern befinden. Dabei haben sich allerdings die Prioritäten der Wichtigkeit einzelner Probleme eigenartig verschoben, indem bestimmte gesellschaftliche Probleme nahezu ausgeblendet werden.

Was sich seit den 80ern tatsächlich verändert hat, ist die besorgniserregende Zunahme sozialer Verelendung mit existenzieller Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung. Ebenso haben Drogenkonsum und psychische Erkrankungen zugenommen. Und es gibt inzwischen einen religiösen Fundamentalismus, durch den das bisher als selbstverständlich definierte Recht auf freie Meinungsäußerung entscheident bedroht wird. Auch schon seit längerem gibt es eine erschreckende Zunahme an Gewalt und organisierter Kriminalität, die schon längst nicht mehr auf Rotlichtviertel beschränkt ist, sondern sich auch in Schulen und in Wohngebieten rasant ausbreitet (Erst vor ein paar Tagen geschah mal wieder ein Mordanschlag in meinem Viertel).

Aber so besorgniserregend diese Entwicklung auch sein mag, fokussiert werden andere Themen. So vergeht kein Tag, an dem nicht irgendjemand öffentlich angeprangert wird, weil er angeblich eine Minderheit beleidigt oder einen nicht gendergerechten Satz von sich gegeben hat. Und es bleibt nicht beim Anprangern, sondern es wird möglichst gleich "gecancelt" (auch so ein neuer Begriff) und der Betreffende verliert seinen Job. Erstaunlicherweise wird dabei erbittert an einem Bild festgehalten, das alle in den letzten vierzig Jahren erfolgten Veränderungen strikt ausblendet. Eine nicht gegenderte Anrede wird als Bestätigung der Entrechtung und Benachteiligung von Frauen eingestuft - ungeachtet der Tatsache, dass wir seit sechzehn Jahren eine Frau an der Führungsspitze haben. Ein Witz über spezielle Toiletten für Diverse wird ebenfalls als Angriff auf das Existenzrecht von queeren Menschen angesehen - ungeachtet der Tatsache, dass in Deutschland Homosexualität keinen Hinderungsgrund mehr darstellt, um das Amt eines Ministers oder Bürgermeisters zu bekleiden. Auch Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht mehr ausschließlich im untersten Lohnsektor tätig, sondern schlagen eine akademische Laufbahn ein, arbeiten auch in qualifizierten Berufen und sind auch in der Politik vertreten.

Aber Minderheit bleibt anscheinend immer Minderheit und es kommt offenbar nicht darauf an, was jemand tut oder welche Ansicht er vertritt, sondern welcher gesellschaftlichen Gruppe er angehört. Und genau das ist es, was kennzeichnend für Identitätspolitik ist: die Identität wird zum Politikum und zum alles entscheidenden Kriterium für die Bewertung einer Handlung. Das verbindende Ganze tritt in den Hintergrund zu Gunsten einer Aufspaltung in Gruppen und Grüppchen, in der Menschen sich zunehmend ausschließlich für die Gruppe einsetzen, der sie selbst angehören. Kombiniert wird dies dann noch mit einer völligen Verweigerung von Selbstkritik, so dass Auseinandersetzungen zwangsläufig in eine Sackgasse manövrieren.

Hat das Thema Identitätspolitik eigentlich etwas mit Sozialarbeit zu tun, denn immerhin ist dies ja das ursprüngliche Thema meines Blogs? Es hat nicht nur etwas damit zu tun, sondern es bildet den Rahmen für Sozialarbeit. Denn auch die aktuelle Sozialarbeit hat schon seit längerem die übergreifenden sozialen Themen aus den Augen verloren und setzt den Fokus auf unbedingte Akzeptanz einer sich immer weiter aufspaltenden Gesellschaft der Einzelinteressen.

Egozentrik ist ein unverzichtbarer Baustein des Neoliberalismus. Aber das ist ein anderes Thema...

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Mittwoch, 7. April 2021, 14:40h

Meine Idee: Bedingtes statt bedingungsloses Grundeinkommen!

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Wenn ich meine Meinung zum bedingungslosem Grundeinkommen in einem Satz zusammenfassen sollte, dann würde dieser lauten: Bedingungslose Gewähr von Leistungen ist ein falsches Signal! Allerdings lehne ich die Idee des unbedingten Grundeinkommens nicht gänzlich ab, da ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Sozialarbeiterin das große Dilemma der Transferleistungen zur Genüge kennenlernen konnte.

Warum benötigt eigentlich jemand Hilfe dabei, den erforderlichen Antrag auf das ihm zustehende Existenzminimum zu stellen? Ganz einfach: weil die beantrage Leistung sich oftmals nicht aus einer einzigen Quelle zusammensetzt, sondern aus vielen: Hartz IV, Arbeitslosengeld I, niedriges Gehalt, Ausbildungsbeihilfe, Bafög, Kindergeld, Mietzuschuss, Unterhalt, Unterhaltsvorschuss, niedrige Rente (dann Grundsicherungsleistungen), Krankengeld, Reha-Leistungen etc. Und je mehr Mitglieder eine Bedarfsgemeinschaft hat, desto komplizierter wird es. Als Betreuerin hatte ich den Fall, dass für meine Betreute, eine Mutter von mehreren Kindern, drei (!) verschiedene Sachbearbeiter beim Jobcenter/Sozialamt zuständig waren: einer für die Betreute, einer für den volljährigen und einer für den 15jährigen Sohn. Ohne Betreuerin schafft das wohl kaum jemand, wobei gesagt werden muss, dass selbst die Sachbearbeiter nicht sicher waren, wie und wo die Antragstellung laufen muss.

So richtig kompliziert wird es aber, wenn ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis aufgenommen wird, denn dann werden plötzlich weitere Stellen zuständig, die aber nur dann zahlen, wenn geklärt wurde, ob nicht vielleicht doch ein vorrangiger Anspruch bei einer anderen Stelle besteht. Oftmals wird dann die Wohnungsmiete nicht pünktlich zum Monatsanfang gezahlt, was dann eine Mahnung mit sich bringt und sich negativ auf das Mietverhältnis auswirkt (Mahnungen, Zusatzkosten etc.) Und last not least ist es beim Klientel nicht selten der Fall, dass ein Arbeits-/Ausbildungsverhältnis schnell wieder beendet wird. Dann ist das Chaos perfekt, weil die Abklärung der vorrangigen Zuständigkeit erneut beginnt und diverse weitere Unterlagen vorgelegt werden müssen. Erfahrungsgemäß benötigt das Einholen von Unterlagen jedoch sehr viel Zeit, zumal manche wiederum erst dann ausgestellt werden, wenn zuvor eine andere Unterlage eingereicht wurde.

Tapfer, wer bis hier beim Lesen durchgehalten hat. Meine Geduld stieß bei diesem Antragsmarathon oftmals an ihre Grenzen und den meisten Kollegen ging und geht es genauso. Zumal einige Betreute den Betreuer für das Dilemma verantwortlich machen, was nicht selten lautstark zum Ausdruck gebracht wird und auch schon mal eine Beschwerde beim Gericht oder beim Vorgesetzten mit sich bringt.

Alles in allem erinnern die kaum nachvollziehbaren und oftmals unnötig komplizierten Regelungen des Verfahrens zur Existenzsicherung meist mehr an Schildbürgerstreiche, als an strukturierte und durchdachte Vorgaben. Der einzelne Hilfebedürftige wiederum erinnert in seinem Kampf gegen eine übermächtige Bürokratie an Kafkas Protagonisten in "Der Prozess", welcher nicht mehr versteht, was mit ihm geschieht und der daran langsam verzweifelt.

Ist dieses haarsträubende, zeit- und personalintensive Prozedere tatsächlich unumgänglich? Meiner Meinung nach nicht. Mein Vorschlag:

Schaffung einer übergeordneten Kooperationsstelle für Antragsstellungen!

Das Antragsverfahren wäre hierdurch erheblich vereinfacht und die verschiedenen Ressorts könnten trotzdem beibehalten werden, was bei der Gewährung von Bundes- als auch Ländermitteln nicht unwesentlich ist.

Ein Antrag könnte bei jeder Behörde oder alternativ bei einer extra dafür eingerichteten Anlaufstelle gestellt werden und die Behörde klärt von sich aus ab, ob es vorrangige Ansprüche anderer Leistungsträger gibt. Ist dies der Fall, werden erforderliche Bescheinigung digital übermittelt. Das Einkommen betreffende Daten werden dabei zentral gespeichert und können jederzeit aktualisiert und verlässlich abgerufen werden.

Ansatzweise gibt es diesen Weg in bestimmten Fällen übrigens schon. Beantragt jemand zum Beispiel aus der Arbeitslosigkeit heraus Rente, wird während der Bearbeitungsdauer weiterhin ALG I oder ALG II gezahlt. Bei Bewilligung der Rente wird dann der ab Antragstellung angefallene Betrag von der Rentenkasse direkt an die Bundesagentur oder das Jobcenter gezahlt und verrechnet.

Die Vorteile einer Antragskoordination liegen auf der Hand:

- Der gesetzlich garantierte Anspruch auf ein Existenzminimum wird verlässlich umgesetzt

- Es gibt keine Zahlungslücken, die weitere soziale Schwierigkeiten erzeugen (säumige Miete/drohender Wohnungsverlust, Nichtzahlung von Strom, Gas, etc., Ratenzahlungen)

- Insbesondere in Hinsicht auf Familien mit Kindern ist die erforderliche Versorgung verlässlich sichergestellt.

- Reduktion kosten- und zeitintensiver Verwaltung

- Weitaus weniger Unterstützungsbedarf durch gesetzliche/sozialpsychiatrische Betreuer

Speziell aus meiner Erfahrung der Arbeit als Betreuerin spielt für mich auch ein weiterer Aspekt eine große Rolle. Schon seit längerem steigt die Zahl derer, die eine gesetzliche oder eine sozialpsychiatrische Betreuung benötigen. In beiden Fällen ist die Diagnose einer psychischen bzw. betreuungsrelevanten Erkrankung für die Hilfeleistung erforderlich. Allerdings liegt der Grund für die zunehmende Zahl erforderlicher Betreuungen nicht in erster Linie in einer zunehmenden Zahl psychischer Erkrankungen, sondern vielmehr in der zunehmenden Überforderung bei der eigenständigen Bewältigung von Alltagsangelegenheiten. Das mag auch mitverursacht durch eine Abnahme der Alltagskompetenz sein, aber zu einem großen Teil liegt die Ursache eben auch daran, dass viele Menschen sich übermächtigen Behörden ausgeliefert fühlen, deren Struktur und Vorgaben sie nicht mehr durchschauen und deren geforderter Mitwirkungspflicht sie selbst bei bestem Willen nicht nachkommen können.

Dass sich dies irgendwann auch psychisch bemerkbar macht, ist mehr als verständlich. Aber hier sollte man nicht Ursache und Wirkung verwechseln, denn viele Menschen waren in Zeiten, in denen sie noch durch Arbeit sozial eingebunden waren, psychisch weitaus stabiler. Dies wird insbesondere bei alten Menschen deutlich, die oftmals während ihrer aktiven Zeit den Alltag bestens bewältigt haben, aber die sehr schnell mit Antragstellungen überfordert sind. Als beispielsweise meine Mutter infolge des Schlaganfalls meines Stiefvaters diverse Behörden kontaktieren musste, gab sie sehr schnell auf, obwohl sie zuvor ihr - nicht gerade einfaches - arbeitsreiches Leben immer ohne jegliche Hilfe selbst gemeistert hatte.

Fazit:
Auf lange Sicht ist es keine gesellschaftlich sinnvolle Lösung, Menschen im Bezug von Transferleistungen immer häufiger Betreuer und Sozialarbeiter zur Seite zu stellen. Durch eine Koordination und Neustrukturierung des Antragsverfahrens könnte der Großteil der Hilfeempfänger sich selbständig um seine Belange kümmern und die jetzigen zahlreichen Folgeschäden eines ineffizienten Leistungssystems würden sich reduzieren.Diese Reform stellt kein bedingungsloses Grundeinkommen dar, sondern ein Grundeinkommen, dessen einzige Bedingung in der Hilfsbedürftigkeit besteht. Nur wenn der Staat seiner Verpflichtung zur Schaffung eines unbürokratischen und zeitnahen Antragsverfahrens zum Nachweis von Hilfsbedürftigkeit nachkommt, ist das Grundrecht auf ein Existenzminimum auch realisierbar.

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Sonntag, 19. Juli 2020, 18:19h

Denunziation – eine Begebenheit, die mich auch nach Jahren noch nachdenklich macht

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Vor einigen Jahren gab es ein Ereignis, das mich auch jetzt noch beschäftigt, wenn es um das Thema Arbeitsbedingungen und Solidarität geht. Ich möchte dies hier bewusst neutral schildern, da es mir nicht darum geht, konkret einen bestimmten Arbeitsplatz zu beschreiben, sondern vielmehr darum, eine Haltung zu thematisieren, auf die man in der Arbeitswelt immer wieder trifft und bei der ich mich zunehmend frage, ob es sich dabei nicht um ein typisch deutsches Problem handelt.

Bei dem besagten Ereignis geht es um eine Mitteilung, die eines Tages alle Mitarbeiter meines früheren Arbeitsplatzes erhielten. Es wurde darüber informiert, dass sich der Gesellschafter aufgrund jahrelanger anhaltender Unzufriedenheit der Mitarbeiter mit der Firmenleitung dazu entschloss, den Mitarbeitern die Möglichkeit der Beschwerde zu geben. Für mich ungewöhnlich war daran, dass hierfür extra über zwei Wochen eine durch externe Mitarbeiter geführte Beschwerdestelle vor Ort eingerichtet wurde. Es wurde schriftlich sowohl Anonymität zugesichert als auch die unbedingte Garantie, dass niemand durch Aussagen einen Nachteil erleiden würde.

Das Angebot der Beschwerde wurde überaus rege in Anspruch genommen, immer wenn man an der Beschwerdestelle vorbeikam, sah man Kollegen auf den Wartebänken sitzen. Da ich noch nicht lange in der Firma beschäftigt war und keine negativen Erfahrungen hatte, sah ich allerdings keinen Grund, an der Befragung teilzunehmen. Aber als ich dies im Kollegenkreis erzählte, wurde appelliert, es unbedingt zu tun. Ich erinnere auch noch die Argumentation: „Es ist wichtig, dass jeder von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, weil wir jetzt endlich mal gefragt werden“. Ich ließ mich dann überreden und nahm an der Befragung teil, wobei ich allerdings nur neutrale Angaben machte. Die Firmenleitung wurde zeitgleich freigestellt und setzte nie wieder einen Fuß in die Firma.

Im nachherein frage ich mich, was eigentlich davon zu halten ist, wenn einerseits ein jahrelanger Zustand sehr großer und anscheinend berechtigter Unzufriedenheit unter Mitarbeitern besteht, aber es andererseits erst eines offiziellen Aufrufs zur Beschwerde bedarf, damit die Mitarbeiter aktiv werden. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich mich nicht sehr wohl dabei fühlte, einem Aufruf zur Beschwerde Folge geleistet zu haben. Damals wie heute kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, bei einer Denunziation mitgemacht zu haben.

Wenn das Handeln einer Firmenleitung tatsächlich nicht den arbeitsrechtlichen Vorschriften entspricht, sondern durch Willkür bestimmt ist, dann hätte es auch mit Sicherheit diverse Möglichkeiten gegeben, sich dagegen zu wehren. Natürlich kann ein Einzelner gegen eine rechtlich unbegründbare Kündigung nur wenig tun, aber in dem Moment, in dem sich zumindest ein paar Kollegen solidarisieren, wird sich jede Firmenleitung überlegen, ob sie ihr Vorhaben durchzieht, weil dies unweigerlich große Unruhe und Imageverlust zur Folge hätte. Zumal es sich bei dem besagten Arbeitsplatz nicht um eine amerikanische Fastfood-Kette handelt (bei der wäre so ein Vorgehen natürlich schwierig) sondern um eine Einrichtung mit gemeinnützigem Hintergrund. In diesem Fall ist auch die Möglichkeit des Einschaltens der Presse nicht unmöglich, da es der Öffentlichkeit nicht völlig gleichgültig ist, wie mit Steuergeldern unterstützte Betriebe arbeiten.

Meine Einstellung wird sicher von einigen als naiv und blauäugig abgetan werden. Und so ganz ist das auch nicht von der Hand zu weisen, da Solidarität in Deutschland nicht unbedingt als Kardinalstugend gilt. Aber wer sich ein wenig mit Sozialgeschichte beschäftigt, weiß, dass unsere Arbeitsschutzgesetze nicht vom Himmel fielen, sondern durch Solidarität erstritten wurden (und nicht durch offizielle Erlaubnis zur Beschwerdeeinlegung).

Wenn man einen Blick nach Frankreich wirft (was ich oft tue), dann sieht man, dass Ducken und Kuschen keine Naturgesetze sind, sondern es durchaus Alternativen gibt. Ein deutliches und erstaunliches Beispiel: In Frankreich gibt es seit 1950 (!) einen Mindestlohn, in Deutschland seit 2015!

Und wie bereits gesagt, ich fühle nach wie vor einen bitteren Beigeschmack, wenn ich an meine Teilnahme an einer von oben veranlassten Beschwerdeaktion denke. Es hat etwas Klägliches, wenn Menschen erst auf die Erlaubnis warten, um sich beschweren zu dürfen.

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Freitag, 31. Mai 2019, 01:47h

Ein Zeichen gegen Rassismus - Kippa tragen

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Am Samstag, dem 01. Juni 2019 wird dazu aufgerufen, als Zeichen gegen Antisemitismus eine Kippa zu tragen.

Ich hoffe, ich habe den Mut dazu, denn das Wohnviertel, in dem ich lebe, ist von Gewalt geprägt und schon seit langem ist es nicht mehr selbstverständlich, seine Meinung gefahrlos öffentlich äußern zu können.

Und übrigens: ich stimme absolut überein mit der UN-Resolution, die die gegen internationalses Recht verstoßende israelische Siedlungspolitk scharf verurteilt!

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Sonntag, 16. Juli 2017, 12:16h

Ein rechtlicher Betreuer im Schwarzen Block – Huch wie passt denn das zusammen?

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…war meine erste Frage, als ich von einem rechtlichen Betreuer hörte, der im Schwarzen Block der Hamburger G20 Demos mitmarschierte. Nein, es handelt sich ausnahmsweise nicht um den Immobilien aufkaufenden Betreuer mit Sympathie für die RAF, dessen befremdliche Arbeitsweise ich hier schon einige Male beschrieb, sondern um jemanden, der mir nur flüchtig bekannt ist. Der allerdings genauso wie ausnahmslos jeder andere Betreuer im Auftrag des Amtsgerichts arbeitet und dessen Befugnisse mit einer enormen Machtfülle verbunden sind. Macht, die unter anderem auch die Veranlassung von Zwangseinweisungen beinhaltet, für die ein Betreuer übrigens das Ordnungsamt beauftragt und bei Schwierigkeiten die Hilfe der Polizei in Anspruch nimmt. Jene Polizei also, die vom Schwarzen Block als Schweine und Faschisten betitelt werden.

Das Merkwürdige ist jedoch nicht allein diese Ungereimtheit, sondern die Tatsache, dass auch dieser Betreuer einige Immobilien sein eigen nennt, sich aber trotzdem bitter über den viel zu geringen Verdienst rechtlicher Betreuer beklagt. Aber vielleicht stellt dies gar keine Ungereimtheit dar, sondern vielmehr eine plausible Erklärung? Schließlich sieht sich der Schwarze Block als einzig wirkliche Vertretung der Ausgebeuteten dieser Welt und anscheinend zählt sich der betreffende Betreuer dazu. Oder geht es vielleicht doch um das edle Motiv der Solidarität mit den gesellschaftlich Benachteiligten? Wohl kaum, denn dagegen spricht seine Äußerung, auf die von ihm empfundene Minderentlohnung in Zukunft mit höheren Betreutenzahlen zu reagieren, Zitat: „Dann ist eben weniger Qualität drin.“ Mit anderen Worten: die Qualität der Betreuung von Schwerkranken und Hilfsbedürftigen wird dem Wunsch nach Gewinnmaximierung geopfert. Und diese Haltung habe ich erschreckend oft bei denjenigen beobachtet, die sich als linksradikal bezeichnen – der konkrete und persönliche Umgang mit Menschen ist von beängstigender Gleichgültigkeit und Kälte geprägt.

Sicherlich ist ein im Schwarzen Block marschierender Betreuer die Ausnahme. Was jedoch keine Ausnahme darstellt, ist der Umstand, dass paradoxerweise ausgerechnet diejenigen Betreuer über ihren angeblich geringen Verdienst klagen, die äußerst gut verdienen – wer sich gleich mehrere Wohnungen leisten kann, verdient zweifellos besser als all jene, die zur Miete wohnen oder allenfalls die selbstbewohnte Wohnung ihr eigen nennen. Und das Selbstverständnis, mit dem jemand – ob nun Betreuer oder nicht – sich trotz seiner eindeutig privilegierten gesellschaftlichen Position gegen eben diese Gesellschaft radikalisiert, kann nur als völliger Realitätsverlust bezeichnet werden. Bei den Teilnehmern des Schwarzen Blocks handelt es sich mit Sicherheit nicht um diejenigen, die für einen Hungerlohn als Putzfrau, Kellnerin oder Taxifahrer malochen, sondern um Menschen, die erheblich besser gestellt sind und die die Vorteile unseres Gesellschaftssystems für sich zu nutzen wissen.

Besagter Betreuer aus dem Schwarzen Block steht exemplarisch für jene, die wahrscheinlich das erste Mal im Schwarzen Block mitmarschierten, als sie noch Studenten waren und nur vom BAföG lebten. Obwohl das Einkommen mittlerweile längst nach oben schoss und obwohl man längst bestens mit dem kapitalistischen System kooperiert, wird munter weitergekämpft, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wenn jemand außerdem keinen Widerspruch darin sieht, einerseits eng mit Judikative und Exekutive zusammenzuarbeiten und andererseits im gegen Staat, Kapital und Polizeigewalt kämpfenden Schwarzen Block zu marschieren, dann zeugt dies von einem kompletten Mangel an Selbstreflexion.

Etty Hillesum* hat diesen Typus schon vor langer Zeit sehr treffend beschrieben:
"Am deprimierendsten ist, dass es fast niemanden gibt, dessen innerer Horizont sich erweitert hätte. Sie leiden auch nicht wirklich. Sie hassen, sie sind in Bezug auf ihre eigene Person optimistisch verblendet, sie intrigieren und verteidigen ehrgeizig ihre Pöstchen, das Ganze ein riesiger Saustall.

Eine Frage muss ich zum Abschluss doch noch loswerden: gab es nicht früher in der Szene die Parolen: „keine Macht für niemand“ und „Eigentum ist Diebstahl“ oder erinnere ich das falsch?

* die 1943 in Auschwitz ermordete jüdische Autorin von "Das denkende Herz"

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Mittwoch, 6. Januar 2016, 01:45h

Auch mir ist das schon passiert. Ein Tabuthema

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Ein Übergriff wie der, der in der Silvesternacht den jungen Frauen in Köln, Stuttgart, Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt widerfahren ist, ist vor vielen Jahren auch mir passiert. Ich fuhr spät nachts von einer Fête nach Hause, als auf dem Hamburger Hauptbahnhof plötzlich ein dunkelhäutiger Mann hinter mir stand, der mir brutal zwischen die Beine griff. Ehe ich mich wehren konnte, hatte sich der Mann schon entfernt und lief mit einem zweiten Mann davon. Vorher brachen beide noch in brüllendes Gelächter aus.

Die Frage, worin der Bezug zu Thematik meines Blogs „Betreuungen & Soziales“ liegt, kann ich damit beantworten, dass ich mein Sozialpädagogikstudium noch zu einer Zeit absolvierte, in der es undenkbar war, gesellschaftliche Probleme nicht in die Arbeit mit einzubeziehen und diese Ansicht vertrete ich immer noch, auch wenn dies mittlerweile längst nicht mehr selbstverständlich ist. Abgesehen davon befand sich mein Betreuerbüro nicht auf dem Land oder in einem Stadtteil wie Hamburg-Blankenese (genauso wenig wie mein Wohnviertel), sondern in Hamburg-Wilhelmsburg. Die Probleme, die sich aus dem Zusammenleben zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und alteingesessenen Hamburgern ergeben kann man dort beim besten Willen nicht ausblenden.

Ich zögerte ein wenig, diese Thematik hier in diesem Blog zu behandeln, denn ich höre schon den gebetsmühlenartig erhobenen Vorwurf: „Muss das jetzt wirklich sein, dass man vor dem Hintergrund von Pegida und brennenden Flüchtlingsunterkünften ausgerechnet über das Thema Ausländer und Gewalt schreibt?“ Ja, es muss leider sein, denn wenn man jetzt nicht anfängt, dieses Thema endlich einmal jenseits der üblichen Polarisierungen zu behandeln, riskiert man eine Gewaltspirale, die niemand mehr stoppen kann.

Ist das tatsächlich Rassismus?
Als ich Ende der 80er Jahren während meines Studiums für meine Diplomarbeit zum Thema Gewalt gegen Frauen recherchierte, suchte ich auch die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Polizeipräsidiums auf (damals gab es kein Internet) um mich über die konkreten Zahlen über Vergewaltigung zu informieren. Neben diversen Daten wurde in der Statistik auch der Ausländeranteil genannt und ich war erschrocken darüber, dass dieser Anteil fast ein Drittel betrug. Damals war der Ausländeranteil an der Hamburger Bevölkerung erheblich geringer als heute, so dass man die Überproportionalität kaum leugnen konnte. Dabei möchte ich nicht unerwähnt lassen, welch merkwürdige Erklärung eine Berufskollegin zu meiner Recherche abgab, als ich den überproportionalen Anteil von Ausländern erwähnte. Ich erntete einen sehr bösen Blick und die Antwort: „Dieser hohe Anteil kommt sicherlich daher, dass Frauen eher bereit sind, einen Ausländer anzuzeigen als einen Deutschen“. Mit anderen Worten – Frauen lassen sich nicht durch das Maß an erfahrener Gewalt bei der Erwägung zu einer Anzeige leiten, sondern für die Motivation spielen rassistische Motive eine Rolle.

Ich möchte auch noch eine weitere Begebenheit hier erwähnen, die nichts mit sexueller Gewalt zu tun hat, aber trotzdem eine sehr typische Reaktion beschreibt. Ich habe früher kurzzeitig in der niedrigschwelligen Drogenarbeit gearbeitet und bei einem Gespräch mit Kollegen aus den anderen Einrichtungen kam das Thema darauf, dass die Kokaindealer nicht nur Erwachsenen Kokain anboten, sondern in einer bestimmten Straße auch Kindern auf ihrem Schulweg. Bei den Dealern handelte es sich zum damaligen Zeitpunkt fast ausschließlich um aus Afrika stammende Männer im Asylstatus. Ich äußerte, dass ich es nicht nachvollziehen kann, dass jemand von einem Land Asylschutz erwartet, in dem er sofort die Gesetze bricht und selbst davor nicht zurückscheut, Kinder zum Drogenkauf zu verleiten. Eine Kollegin polterte mich daraufhin sofort mit hochrotem Kopf an, „dass es solche Menschen wie ich wären, die für Rassismus und Nationalismus verantwortlich sind.“

Wieviel Eigenverantwortung darf man von Menschen erwarten?
Menschen, die Opfer von Verfolgung, Krieg und Gewalt sind, können durchaus auch selbst Täter sein und dabei anderen Menschen die gleiche Grausamkeit, Brutalität und Menschenverachtung zufügen, die sie selbst erfahren haben. Aber jemand, der andere Menschen brutal und menschenverachtend behandelt, kann nicht wegen der am eigenen Leib erfahrenen Brutalität und Menschenverachtung Schutz und Hilfe beanspruchen. Es entbehrt jeglicher Glaubwürdigkeit, wenn ein Mensch für sich ein Recht auf Schutz vor Gewalt beansprucht, der selbst auch Gewalt gegen andere ausübt. Man hilft weder Menschen mit Migrationshintergrund noch Flüchtlingen damit, wenn man ihnen jegliche Eigenverantwortung abspricht – im Gegenteil, man stellt damit ihre Mündigkeit in Frage.

Generalverdacht und Generalvorwurf
Kulturelle Unterschiede bedingen auch unterschiedliche Wertvorstellungen. Nur weil die westliche Kultur patriarchalische und hierarchische Strukturen oder religiöse Werte als überwunden ablehnt, heißt das nicht, dass dies auch in anderen Kulturkreisen im gleichen Maß der Fall sein muss.

Es gibt Wertesysteme, in denen es für eine selbstbestimmt und ungebunden lebende Frau kaum Probleme gibt. Es gibt Wertesysteme, in denen – zumindest von einem Teil der Bevölkerung – ein derartiger Lebensstil negativ bewertet wird. Im Zusammenleben beider Kulturen entstehen hierdurch Konflikte, die unglücklicherweise nicht zu einer Auseinandersetzung führen, sondern lediglich zu dem steten Vorwurf, sein Augenmerk nicht auf diejenigen zu richten, die in diese Konflikte involviert sind, sondern auf jene, mit denen das Zusammenleben konfliktfrei verläuft.

Es gibt mit Sicherheit viele Menschen, die generalisieren und grundsätzlich jeden Menschen mit ausländischen Wurzeln als Gefahr ansehen. Aber es gibt mit Sicherheit auch viele Menschen, die durchaus in der Lage sind, zu differenzieren. Zu dieser Kategorie rechne ich mich, da ich viele Ausländer im Bekannten- und Freundeskreis habe, seit vielen Jahren mit einem Nichtdeutschen liiert bin und auch schon selbst im Ausland gelebt habe. Abgesehen davon befasse ich mich schon seit langem mit den verschiedenen Religionen und bin weit davon entfernt, Religiosität pauschal als übel oder dumm einzustufen.

Der immer wieder erhobene Vorwurf des „Generalverdachts“ trägt nicht gerade zu einer Lösung der Probleme bei, sondern entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Art „Generalvorwurf“, mit dem man genauso plump jegliche Kritik hartnäckig sofort vereinheitlicht als rassistisch, islamophob oder faschistisch. Vor allem ändert dieser Vorwurf nichts daran, dass die durch unterschiedliche kulturelle Werte bedingten Auseinandersetzungen immer heftiger werden und irgendwann zu einer Katastrophe führen können.

In dieser zermürbenden Spirale der gegenseitigen Verdächtigungen und Vorwürfe drehen wir uns nun schon seit einiger Zeit. Es kracht an allen Ecken. Immer öfter und immer heftiger. Und es passiert nichts anderes als die Erhebung gegenseitiger Unterstellungen. Die haben’s dafür aber auch in sich.

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Montag, 16. November 2015, 00:38h

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Je suis Paris2

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Dienstag, 3. Februar 2015, 01:53h

Zwei Charakterköpfe

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Richard von Weizsäcker hat Kritik unterschiedlicher Ausprägung immer akzeptiert und sich damit auseinandergesetzt.
F.Pflüger, früherer Sprecher und Vertrauter Richard von Weizsäckers

Von allen Bundespräsidenten war er derjenige, der mir am besten gefallen hat. Was mir immer im Gedächtnis bleiben wird, ist eine von Wolfgang Menge moderierte Talkshow an der sich der Kabarettist Wolfgang Neuss plötzlich an den Tisch zum damaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker setzte. Wolfgang Menges Kommentar lautete, dass das der Moment sei, vor dem sich jeder Talkmeister fürchtet. Im Nachherein war seine Furcht jedoch unbegründet, denn das Ergebnis war eine der genialsten und unterhaltsamsten Diskussionen, die jemals in einer Talkshow geführt wurden.

Selten habe ich eine Situation erlebt, in dem sich zwei so durch und durch unterschiedliche Menschen mit einer solchen Souveränität und auf absoluter Augenhöhe begegneten. Überrascht bin jetzt darüber, dass auch von Weizsäcker es ähnlich empfand, wie dieses vor kurzem ins Netz gestellte Video deutlich macht:



Jemanden wie ihm bin ich natürlich nie begegnet. Früher nicht und später übrigens auch nie. Der Kerl war von einer Souveränität in seinem Charakter und auch in seinem Verstand Das ist mir eben ganz und gar unvergessen geblieben, obwohl das jetzt 25 Jahre her ist. Er hat mich dabei überzeugt durch seine Authentizität, die er dabei zeigte, durch sein Bekenntnis zu seiner eigenen Natur und seiner Lebensweise. Es gibt kaum eine Veranstaltung dieser Art, an die ich mich in meinem Gefühl so lebhaft erinnere und so dankbar dafür bin, dass ich sie eben erlebt habe, das ist dieses Gespräch gewesen und wem verdanke ich es – ihm!

Die Diskussion war übrigens noch um etliches länger als dieser Ausschnitt und steigerte sich was die Situationskomik anbetraf noch beträchtlich. Alles in allem einer der orginellsten und amüsantesten Schlagabtausche, die ich jemals gesehen habe.

Die oben zitierte Aussage über Richard von Weizsäcker in Bezug auf seine Kritikbereitschaft deckt sich völlig mit dem, was von Weizsäcker in dem Interview aussagt, wenn er formuliert, dankbar für das Gespräch mit Neuss zu sein. Dies ist auch der Aufhänger für meinen Kommentar zu Richard von Weizsäcker in diesem Blog. Denn das Thema Kritik ist der Dreh- und Angelpunkt in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen – und somit natürlich auch mit dem Thema des Sozialen. Und anschaulicher kann man nicht verdeutlichen, was den Unterschied zwischen Geistesgröße und Krämerseele ausmacht: der Mut und die Lust an Auseinandersetzung mit dem, was anders ist. Während die Krämerseele in Selbstgefälligkeit und Alphamännchengehabe stagniert, nimmt Geistesgröße dankbar Neues auf und stellt sich immer wieder selbst in Frage.

Man bräuchte mehr Menschen vom Schlage Wolfgang Neuss und Richard von Weizsäcker.

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Donnerstag, 8. Januar 2015, 22:47h

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Frankreich ist im Ausnahmezustand. Die Familie meines Lebensgefährten lebt in Paris und ich selbst habe vor vielen Jahren für ein halbes Jahr auch dort gewohnt. Mein Lebensgefährte ist ein Fan von Charlie Hebdo und gerade hat er mir ein paar alte Exemplare aus dem Jahr 1978 gezeigt.

An den Franzosen hat mir immer schon die Freiheit des Denkens gefallen. Das Land, aus dem der Laizismus kommt, ist erstaunlicherweise sehr tolerant gegenüber Gläubigen. Während in Deutschland Diskussionen über Glaubensfragen kaum möglich sind ohne Dogmatik und tumbe Polarisierungen, geht man in Frankreich sehr viel respektvoller und differenzierter mit den religiösen Überzeugungen anderer um. Man sieht die negativen Seiten der Religion genauso wie deren positiven Seiten (die es eben auch gibt). Das macht Diskussionen möglich, von denen man in Deutschland nur träumen kann.

Und gerade in einem Land, in dem ein fruchtbarer interreligiöser Dialog möglich ist, passiert dieser grausame Anschlag. Bleibt aus ganzem Herzen zu hoffen, dass die Franzosen ihren kühlen Kopf behalten und die Welle der Solidarität anhält.


https://youtu.be/N_9-eP5GHe0

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Mittwoch, 27. August 2014, 00:33h

Auf den Punkt gebracht

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Das Problem ist, dass die Politik im Grunde aus dem Patienten einen Kunden machen möchte
Giovanni Maio, Ethikmediziner

Der Ethikmediziner Giovanni Maio äußert sich am Beispiel der Rückenoperation zu der Problematik der Fallpauschale. Diese hat im Zeitraum 2005 - 2013 zu einem sprunghaften Anstieg der durchgeführten Operationen von 327.000 auf 734.000 (!) geführt. Er führt weiter aus:

Ein System, das eine falsche Vorstellung von der Medizin hat. Ein System, bei dem man davon ausgeht, dass es in der Medizin letztlich so zugeht wie in einer Industrie. Je mehr Stücke produziert werden, desto besser. Und das kann man für Dinge zwar sagen, aber nicht wenn es um Menschen geht.

Im Grunde ist dem nichts hinzuzufügen. So wie ich es hier auch schon in Bezug auf den Bereich des Sozialen beschrieben habe, stellt es auch im Bereich der medizinischen Versorgung eine äußerst bedenkliche Entwicklung dar, wenn ökonomische Leitlinien die fachlichen verdrängen.

Sicher – es gab schon zu allen Zeiten das Bestreben gut verdienen zu wollen. Neu ist jedoch, dass man dies der Öffentlichkeit jetzt ungeniert als Verbesserung verkauft, indem man suggeriert, die Orientierung an marktwirtschaftlichen Leitlinien würde mehr Qualität schaffen und folglich der “Kunde” besser gestellt sein als der Patient.

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