Sonntag, 7. Februar 2016, 18:40h

Meine Betreuten X: Sammeln, Horten, Aufbewahren

behrens

Dass die Menschen, die an dem sogenannten Messie-Syndrom leiden, völlig unterschiedliche Persönlichkeiten haben können, habe ich schon in meinem vorherigen Beitrag erwähnt. Während es in dem betreffenden Beitrag um eine Betreute ging, die anderen Menschen gegenüber äußerst feindselig gesinnt war, möchte ich jetzt über eine Betreute schreiben, die bei den meisten Menschen ausgesprochen beliebt war.

Während ich vor Beginn meiner Betreuertätigkeit noch davon ausging, ein Mensch mit Sammelsucht würde sein Sammeln nur auf die eigene Wohnung ausdehnen, so wurde ich durch Frau B. eines Besseren belehrt. Frau B. hatte nicht nur ihre eigene Zweizimmerwohnung bis an die Wohnungsdecke vollgestellt, sondern auch noch drei Garagen, eine weitere Wohnung, eine Gartenlaube und einen Keller. Im Laufe der Betreuung kam dann zutage, dass sie früher auch schon einen Kuhstall als Lager angemietet hatte und außerdem auch schon eine frühere Wohnung wegen Vermüllung geräumt worden war.

Auch bei Frau B. war eine Meldung des Vermieters der Grund für die Einrichtung der rechtlichen Betreuung, da ihre Wohnung renoviert werden sollte und dies aufgrund des sich bis an die Decke türmenden Sammelsuriums nicht möglich war. Frau B. sah es zwar grundsätzlich ein, dass dies dringend geändert werden müsste, aber sie war dennoch unfähig, sich auch nur von einem ihrer Gegenstände zu trennen. In ihren als Lagerstätten genutzten Räumen fanden sich Kuriositäten wie beispielsweise Buttermarken aus dem zweiten Weltkrieg, Päckchen mit Backpulver von Dr. Oetker zum Preis von 5 Pfennig, Kleider aus den Fünfzigern, die jede Besitzerin eines Second-Hand-Ladens in Verzückung gebracht hätten (mich übrigens auch) und unzählige andere Gegenstände, für die heutzutage gar keine Verwendung mehr bestand.

Frau B. hatte inzwischen vom Vermieter eine andere Wohnung erhalten, in die sie noch am Tag der Räumung einziehen sollte und für die sich ein Pflegedienst um die Herrichtung ihrer Räume kümmerte. Frau B. wollte sich aber nicht abhalten lassen, auch selbst bei der Räumung anwesend zu sein und als sie dann in ihrer alten Wohnung inmitten der laufenden Räumung erschien, brach sie schreiend in einen Weinkrampf aus. Abgesehen davon, dass eine Wohnungsräumung immer traumatisch für den Betreffenden ist, bestätigte sich für mich eine Erfahrung, die ich während meiner Betreuungstätigkeit immer wieder machte: die günstigsten Räumungsunternehmen sind oftmals nicht immer die besten. Obwohl ich die ganze Zeit anwesend war und einige Dinge sorgsam aussortiert hatte, landete letztendlich fast alles auf dem Müll. Die Mitarbeiter zeichneten sich durch eine beispiellose Gedankenlosigkeit aus und es war ihnen völlig gleichgültig, dass auf keinen Fall alles weggeworfen werden durfte.

Mir wird immer eine Begebenheit in Erinnerung bleiben, die sehr deutlich macht, dass es für einen unter Sammelsucht leidenden Menschen nichts gibt, für das es nicht doch irgendeine Verwendung geben könnte: Als ich ein gebrauchtes Papiertaschentuch in den Müllsack schmiss, nahm Frau B. es gleich wieder heraus und kommentierte dies mit den Worten: „aber das kann man doch noch verfeuern!“ Mir fiel dabei meine Kindheit ein, in der es auch selbstverständlich war, alles Brennbare in den Ofen zu schmeißen. Ich erinnere mich auch an die Schilderungen meiner Eltern und Großeltern über deren Kindheit, in denen es oftmals eisig kalte Winter gab, in denen es die Aufgabe der Kinder war, überall nach irgendetwas Brennbaren zu suchen. Frau B. gehörte dem Jahrgang 1912 an und gehörte somit zu der Kriegsgeneration, der die Erfahrungen dieses Entbehrens immer noch tief in den Knochen steckt. Zeiten des Hungerns und Frierens, in denen es an allem fehlte. Damals war es unerlässlich, jeden Gegenstand genauestens auf seine Verwertbarkeit zu prüfen. Kann man ein Kleidungsstück noch irgendwie reparieren oder daraus ein anderes für die Kinder machen? Hat ein Gegenstand noch irgendeinen Tauschwert auf dem Schwarzmarkt? Gibt es an einem verschimmelten Brot vielleicht doch noch eine Ecke, die man essen kann?

Wie endete die Geschichte von Frau B.? Frau B. wurde in ihrer neuen Wohnung niemals wirklich heimisch. Obwohl sie körperlich gebrechlicher wurde und auf Hilfe angewiesen war, kam sie nicht mit der Situation zurecht, in ihrer Wohnung von einem Pflegedienst aufgesucht und betreut zu werden. Sie äußerte schließlich von sich aus, lieber in ein Heim ziehen zu wollen, was ich dann auch veranlasste. Frau B. gewöhnte sich im Heim bemerkenswert schnell ein. Ich beauftragte einen Besuchsdienst, mit dem Frau B. auch sehr gut zurechtkam.

Als ihr 90. Geburtstag anstand, informierte unsere darüber Lokalzeitung, die dann ein kleines Interview mit ihr machte, in dem sie ein wenig über ihr Leben erzählte. Aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft in der SPD war sie auch vielen Menschen des Bezirks bekannt, von denen manche sie liebevoll „Tante Klärchen“ nannten. Zu der Feier, die ich beim Heim veranlasst hatte, kamen dann auch einige ihrer Bekannten, was bei vielen Heimbewohnern leider längst nicht selbstverständlich ist.

Ich habe mich immer wieder darüber gewundert, dass Frau B. im Heim nicht wieder mit dem Sammeln anfing. Vielleicht lag es daran, dass im Heim andere für sie sorgten und nicht mehr sie selbst für alles verantwortlich war. Typisch für Frau B. war auch, dass sie mir irgendwann die Räumung ihrer Wohnung verzieh. Ich erinnere mich noch an ihre Worte „Sie können ja auch nicht dafür, dass Sie diese Aufgabe hatten.“

Im Alter von 91 Jahren schlief Frau B. dann friedlich in Gegenwart ihres Besuchsdienstes ein. In meiner Betreuertätigkeit ging ich nur in Ausnahmefällen zu der Beerdigung verstorbener Betreuter. Frau B. war so eine Ausnahme.

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Meine Betreuten IX: Leben auf einer Müllhalde

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Den Begriff des Messie-Syndroms gibt es noch nicht allzu lange, erst seit den 80er Jahren widmet man dieser Form einer ausgeprägten Wohnungsverwahrlosung Aufmerksamkeit.

Während meiner Tätigkeit als Betreuerin hatte ich zwei Klientinnen, die beide wegen extremer Wohnungsverwahrlosung unter Betreuung gestellt wurden, die aber unterschiedlicher kaum hätten sein können. Beiden war jedoch gemeinsam, dass die Betreuung aufgrund der Meldung von Seiten der Vermieter eingerichtet wurde, da die Wohnungen kaum noch betretbar waren, es schon eine Geruchsbelästigung gab und außerdem dringend erforderliche handwerkliche Arbeiten verweigert wurden, bzw. überhaupt nicht mehr möglich waren.

Fangen wir mit Frau S. an: Frau S. Wohnung war völlig vermüllt und verdreckt, es stank erbärmlich und man konnte sich kaum noch in der Wohnung bewegen. Das Gesundheitsamt war bereits informiert worden und von Seiten des Sozialamtes war bereits eine sogenannte Grundreinigung und Entmüllung bewilligt worden. Ein Pflegedienst hatte bereits diverse Müllsäcke mit Abfall gefüllt, aber dann kam die Sache ins Stocken, denn das Sozialamt verlangte die Darlegung der Vermögensverhältnisse und hierzu war Frau S. nicht bereit. Nach Einrichtung der Betreuung wurde der Grund hierfür ziemlich schnell ersichtlich, denn Frau S hatte rund 40.000,00 DM (20.000 €) gespart, die sie bei diversen Banken deponiert hatte.

Obwohl nicht ich für das Gesetz der Subsidiarität/Nachrangigkeit verantwortlich war, hatte ich Frau S. gegenüber jetzt die Rolle des Sündenbocks inne. Hierzu sei gesagt, dass Frau S‘ Ersparnisse nicht durch eigene Arbeit entstanden waren, sondern durch den Umstand, dass sie sich so manche Sozialleistung erschlichen hatte und außerdem grundsätzlich diverse Hamburger Tafeln und Kleiderkammern aufsuchte, so dass sie auf diese Weise fast nie Geld ausgaben musste. Frau S. hortete also nicht nur wahllos Gegenstände, Essen, Kleidung und Müll, sondern auch Geld.

Am Tag, an dem eine für den geplanten Einsatz beauftragte Entmüllungsfirma kommen sollte, rief mich Frau S. schon morgens um 6.00 Uhr an und eröffnete mir, dass sie sich nicht gut fühlen würde und die Aktion vertagt werden müsse. Ich bestand allerdings auf die Durchführung der Entmüllung, da ansonsten die Firma aufgrund des Verdienstausfalls trotzdem bezahlt hätte werden müssen. Eigentlich beabsichtige ich, nur am Anfang dabei zu sein, aber kaum hatte ich den Rücken gekehrt, machte Frau S. Anstalten, die vier Mitarbeiter wieder nach Hause zu schicken. Also blieb ich notgedrungen da.

Es passierte mir während meiner Tätigkeit als Betreuerin nur ein paar Mal, dass ich mich fast übergeben hätte und eines der Male ereignete sich in der Wohnung von Frau S., als ich mitanpackte und mir dabei eine Tüte zerriss, in der sich Erbrochenes befand. Einem der Möbelpacker wurde ebenfalls schlecht, als er den Kühlschrank öffnete, der – so etwas hatte selbst ich noch nicht gesehen – voll mit pechschwarzem Schimmel war. Die Toilettenschüssel war so verdreckt, dass ich sie auswechseln lassen musste. Als einige Wochen später ein von mir beauftragter Pflegedienst die Arbeit aufnahm, war die Toilette jedoch schon wieder so dreckig, dass der Pflegedienst die Reinigung verweigert und um eine erneute Auswechslung bat.

Obwohl Frau S. mir nie verzieh, dass ich ihr eigenes Geld für die Wohnungsinstandsetzung einsetzte, rechnete sie es mir hoch an, während der Entmüllung selbst kräftig mitangepackt zu haben. Neben allem Hass gegen mich erwähnte sie dennoch immer wieder, dass ich mehr gearbeitet hätte als die vier Herren. Und über das Resultat der Entmüllung und Neugestaltung ihrer Wohnung war sie erstaunlicherweise regelrecht entzückt, was sie damit formulierte: „Ich könnte stundenlang meine Wohnung angucken, so schön ist die jetzt." Allerdings bestand Frau S. dann doch irgendwann auf einen Betreuerwechsel, da sie mir meine „Betrügereien“ nicht verzieh.

Anzumerken ist noch, dass mich während der Betreuung von Frau S. immer wieder verschiedene Stellen anriefen, weil sie. überall erzählte, ich würde ihr kein Geld auszahlen. Immer wieder musste ich geduldig erklären, dass dies nicht stimmte und Frau S. sehr wohl über mehr als genug Geld verfügte. Die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes wurden trotz ihres sehr engagierten Einsatzes von Frau S. oftmals heftig beleidigt und beschimpft und manchmal öffnete sie auch nicht die Tür, so dass die Mitarbeiterinnen unverrichteter Dinge wieder gehen mussten. Frau S. warf sowohl dem Pflegedienst als auch mir immer wieder auf Heftigste vor, dass wir für unsere Arbeit bezahlt wurden und nicht ehrenamtlich arbeiteten. Insbesondere der Umstand, dass eine erste Vergütungsabrechnung von Frau S. selbst bezahlt werden musste, führte zu einem ausgeprägten Hass gegen mich, der in Bedrohungen gipfelte und in der bemerkenswerten Aussage, ich sollte mir gut vor Augen führen, “ dass man schon für 40,-- DM einen Menschen umbringen lassen könnte.“ Im Laufe der Betreuung erfuhr ich, dass Frau S. gegen andere Menschen schon handgreiflich geworden war. Sie hatte sie eine Sozialarbeiterin mit einem Messer bedroht und einen minderjährigen Apothekenboten sexuell so heftig bedrängt, dass dieser sich weigerte, sie jemals wieder aufzusuchen.

Abfälligkeit gegenüber anderen Menschen schien ein wenig in der Familie zu liegen, denn die Schwester von Frau S. erklärte meiner Nachfolgerin, ich hätte meinen Beruf verfehlt und den Pflegedienst beurteilte sie als ebenso als unfähig. Mich macht gerade die Beurteilung der betreffenden Mitarbeiterinnen fassungslos, denn eine Wohnung zu reinigen, die schon nach ein- bis zwei Tagen wieder völlig vermüllt ist, erfordert nicht nur eine hohe Schmerzgrenze, sondern auch ein sehr großes Engagement. Sowohl die Haushaltshilfen als auch ich in meiner Betreuungsarbeit haben weit mehr als das Plansoll erfüllt – andernfalls hätte Frau S. mit Sicherheit ihre Wohnung verloren. Allerdings ist es nicht ungewöhnlich, dass gerade diejenigen Angehörigen, die sich niemals auch nur im Geringsten um ihre Verwandten kümmern, Dritten gegenüber allerhöchste Ansprüche stellen und das Engagement anderer generell für selbstverständlich halten.

Kurze Zeit nachdem eine neue Betreuerin und auch ein neuer Pflegedienst eingesetzt worden waren, verstarb Frau S. Sie hatte sich nach wie vor geweigert, die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes in die Wohnung zu lassen, obwohl dies mittlerweile auch aus gesundheitlicher Sicht erforderlich war. Ich hatte noch kurz vor dem Betreuerwechsel den Zutritt zur Wohnung beantragt, damit im Notfall die Wohnung betreten werden konnte dadurch die gesundheitliche Versorgung sichergestellt würde, aber dazu war es dann anscheinend nicht gekommen und so wurde Frau S. tot in ihrer Wohnung aufgefunden.

Bei jedem Mensch enthält die Biographie Gründe, die erklären, warum er sich so und nicht anders entwickelt hat. Auch bei Frau S. wird es Erklärungen dafür geben, wieso das Horten und Sammeln von Dingen für sie irgendwann viel wichtiger wurde als menschliche Beziehungen und wieso sie letztendlich die Fähigkeit zum Leben in einer Gemeinschaft gänzlich verlor. Und bevor man urteilt, sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass eine Verhaltensweise – und sei sie noch so extrem – im Ansatz bei fast jedem vorhanden ist. Der Unterschied zu Frau S. besteht in einer krankhaften Gewichtung, die irgendwann das gesamte Leben bestimmt und keinen Platz mehr lässt für andere Aktivitäten und soziale Kontakte.

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Freitag, 1. August 2014, 14:11h

Meine Betreuten VIII: zu spät

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Vor einigen Tagen hatte Frau R., eine meiner früheren Betreuten, Geburtstag und ich wollte sie anrufen um zu gratulieren. Allerdings gab es keine Festnetznummer mehr, da die vielen Telefonsexaktivitäten des ebenfalls von mir betreuten Sohnes mehrere Tausend Euro Kosten verursacht hatten, so dass der Anschluss gesperrt wurde. Über eine Handynummer des Sohnes erreichte ich niemanden und so rief ich gestern schließlich die Haushaltshilfe an um meine Grüße zu übermitteln. Die sagte mir jedoch, dass Frau R. kurz vor ihrem Geburtstag verstarb und gestern beerdigt worden war. Die Haushaltshilfe war bestürzt darüber, dass nur sie und ihre Kollegin auf der Beerdigung war und sonst niemand.

Auch ich empfand es als bestürzend. Gleichzeitig berührt es mich sehr, dass die beiden Haushaltshilfen es sich nicht nehmen lassen haben, auf die Beerdigung der alten Dame zu gehen, die sie jahrelang betreut haben. Frau R. soll es am Ende sehr schlecht gegangen sein und die früher sehr rundliche Frau wog zuletzt nur noch knapp 40 Kilo.

Was mich betrifft, so wird mir einmal mehr bewusst, dass man Dinge nicht verschieben sollte. Ich hätte Frau R. gern noch einmal gesprochen.

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Sonntag, 2. Juni 2013, 03:15h

Meine Betreuten VII: Ein viel zu früher Abschied

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Heute rief mich meine frühere Mitarbeiterin an und sagte mir, dass einer meiner ehemaligen Betreuten gestern in seiner Wohnung tot aufgefunden wurde. Herr M. war erst 38 Jahre alt.

Ich habe Herrn M. rund zehn Jahre betreut, in denen es immer auf und ab ging. Die Lebensgeschichte von Herrn M. ist von viel Leid gezeichnet, wobei es jedoch auch zu dieser Lebensgeschichte gehört, dass Herr M dem Leid immer wieder die Stirn geboten und gekämpft hat.

Die Mutter von Herrn M. war schon sehr früh mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert und der Vater, der praktisch nicht präsent war, sagte Herrn M. später auch unmissverständlich, dass er kein Interesse an ihm hat. So kam es, dass Herr M. schon früh in Heime und später in Jugendwohngruppen kam. Irgendwann nahm er dann zuerst weiche und bald darauf harte Drogen. Trotzdem versuchte er ein „ganz normales“ Leben zu führen und hatte mit seiner Freundin zwei Kinder. Aber dies endete nicht viel anders als in seiner Kindheit, die Beziehung ging in die Brüche und von den Kindern ist eines schon lange in öffentlicher Erziehung. Später stieg Herr M. von den harten Drogen auf Alkohol um. Allerdings kämpfte er immer wieder hartnäckig gegen die Alkoholsucht an.

Ich lernte Herrn M. in einer akuten Notlage kennen, denn seine Wohnung stand unmittelbar vor der Zwangsräumung, so dass ich mich sofort mit dem für die Vollstreckung zuständigen Gerichtsvollzieher in Verbindung setzte, der sich auf eine Fristverschiebung einließ und durch Glück fand ich dann eine neue Wohnung. Irgendwann wollte Herr M. dann in eine stationäre Langzeittherapieeinrichtung wechseln und so zog er dann in eine Einrichtung am Rande Hamburgs. Allerdings kam es auch hier zu Konflikten und Herr M. wollte bald wieder eigenständig in einer Wohnung leben. Ich fand nichts anderes als eine etwas dubiose Wohnung, die vom Vermieter auf Grundlage einer WG-Form vermietet wurde. Die Mitbewohner litten auch alle an psychischen Problemen und eines Tages zog ein schwer psychisch Kranker in die WG, der nach einem Streit einen Brandanschlag auf Herrn M. verübte, der sich nur durch einen Sprung aus dem Fenster retten konnte. Daraufhin war Herr M. eine Zeit lang obdachlos, was mir große Sorgen bereitete, so dass ich sehr froh war, nach einigen Monaten eine geeignete Wohnung zu finden, in der sich Herr M. nach langer Zeit auch wieder wohl fühlte. Inzwischen hatte er auch eine Beziehung und die Arbeit in einer Einrichtung für psychisch Kranke lief gut. Die Beziehung ging zwar leider vor einiger Zeit auch in die Brüche, aber Herr M. hatte dies nach Absolvierung einer stationären Therapie gut verarbeitet.

Herr M. war ein sogenannter „Borderliner“. Obwohl er ein eher friedliebender Mensch war, geriet er sehr leicht in Konflikt mit der Umwelt und verlor dadurch wiederum den inneren Halt. Vielleicht kann man dies auch umgekehrt sehen und es fehlte ihm aufgrund der völlig instabilen Beziehungen in der Kindheit an innerem Halt, was wiederum die Ursache der Konflikte mit anderen darstellte. Herr M. hatte sich zum Teil schon sehr schwere Selbstverletzungen zugefügt. Durch die Drogensucht litt Herr M. nicht nur an Hepatitis C sondern war auch HIV positiv und vor einiger Zeit wurde dann auch noch eine Diabetes festgestellt. Letztere wird wahrscheinlich auch die Ursache für den plötzlichen Tod sein, da Herr M. vermutlich seine Medikamente nicht immer regelmäßig eingenommen hat.

Es berührt mich immer sehr, wenn meine Betreuten, die ja selbst nur über ein Existenzminimum verfügen, mir etwas schenken. Herr M. hatte einen guten Freund, der ihm fast jedes Jahr einen Dänemarkurlaub spendierte und immer brachte mir Herr M. von dem Urlaub etwas mit. Als ich ihm sagte, dass ich meine Tätigkeit als Betreuerin beenden möchte, war er sehr geknickt und wollte zuerst überhaupt keine Betreuung mehr, aber als er dann erfuhr, dass meine bisherige Mitarbeiterin Betreuungen übernehmen würde, war er sofort einverstanden. Er sagte mir aber bei unserem letzten Gespräch, dass ich trotzdem weiterhin Urlaubskarten bekommen würde. Im Gegenzug sicherte ich Herrn M. die Versorgung mit Kleidung zu, denn da mein Lebensgefährte den gleichen Geschmack und auch die gleiche Figur wie Herr M. hat, hatte es schon seit längerem eingebürgert, dass Herr M. die ausrangierten Kleidungsstücke erhielt. Erst vor ein paar Tagen hat Herr M. wieder eine große Tasche Kleidung erhalten.

Herr M. war handwerklich sehr begabt und so erhielt ich zum Abschied eine schöne Blumenschale mit einem selbstgemachten Geschenk. Die Schale steht jetzt auf meinem Fensterbrett in der Küche und wenn auch einige der Frühlingsblumen mittlerweile von mir ausgetopft wurden, so befindet sich das kleine Geschenk eingebettet in die immergrünen Pflanzen noch dort – ein steinernes Herz, in das Herr M. meinen Namen eingraviert hat.

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Dienstag, 28. Mai 2013, 03:08h

Meine Betreuten VI – Demenz und ein trauriger Abschied

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Dies ist die Geschichte von Herrn M. und von der Tragik, die durch eine Demenz über das Leben eines Menschen hereinbrechen kann. Ich würde mir sehr ein paar Kommentare wünschen. Nicht so sehr für mich, sondern für Herrn M. und als Anstoß für den Umgang mit Demenz.

Ich war noch nicht lange als Betreuerin tätig, als mir Herr M. als Betreuter vorgeschlagen wurde. Der 83jährige Herr M. fiel in seinem Umfeld durch zunehmende Verwirrung auf, denn seit einiger Zeit unterstellte er seinen Nachbarn Diebstähle, die er regelmäßig bei der Polizei anzeigte, ohne dass sich seine Anzeigen jemals als berechtigt erwiesen. Außerdem suchte Herr M. fast täglich seine Bank auf und unterstellte auch dort, dass Geld unrechtmäßig entwendet wurde.

Die Wohnung von Herrn M. war liebevoll und sehr geschmackvoll eingerichtet und mir fielen sofort die interessanten Kunstdrucke und das riesige Bücherregal auf, als ich gemeinsam mit einem Mitarbeiter der Betreuungsstelle das erste Mal Herrn M. aufsuchte. Herr M. zeigte sich sofort mit der Einrichtung der Betreuung einverstanden und sagte, dass er mich „am liebsten gleich dabehalten würde“.

Ich nahm Kontakt zu den Nachbarn auf wir führten ein gemeinsames Gespräch. Ich konnte bestens verstehen, dass die Nachbarn genervt waren, denn Herr M. klingelte mitunter nachts um 2.00 Uhr aus unerfindlichen Gründen und erstattete, wie bereits erwähnt, regelmäßig Diebstahlsanzeigen. Dennoch war durchaus Verständnis für Herrn M. vorhanden, denn schließlich hatten beide Mietparteien jahrelang eine gute Beziehung zueinander gehabt. Die Nachbarn zeigten sich letztendlich auch bereit, den Zustand noch länger zu ertragen. Auch der Vermieter reagierte überraschenderweise positiv, als ich ihn anrief und ich ihn unter Schilderung der tragischen Umstände um Verständnis dar. „Von mir aus kann Herr M. hier so lange wohnen bleiben, wie er möchte“, war seine Antwort.

Sowie bekannt war, dass ich die Betreuung von Herrn M. übernommen hatte, hagelte es auch schon täglich Anrufe. Mal war es die Bank, der Herr M. vorwarf, Geld veruntreut zu haben, mal war es die Polizei, bei der Herr M. erneut Anzeigen gegen die vermeintlichen Diebstähle der Nachbarn machte und einmal war es auch ein völlig verzweifelter Taxifahrer, der Herrn M. bis nach Cuxhaven gefahren hatte, ohne dass Herr M. in der Lage war, die Fahrt auch zu bezahlen. Außerdem schloss sich Herr M. in regelmäßigen Abständen aus seiner eigenen Wohnung aus und es musste dann ein Schlüsseldienst bestellt werden, dessen Einsätze nicht gerade billig waren.

Ich organisierte einen Pflegedienst, der jedoch auch bald seine liebe Not mit Herrn M. hatte, da er auch dem Pflegedienst nicht vertraute und sich oftmals bestohlen fühlte. Außerdem konnte er ja einige Dinge durchaus noch selbst erledigen und war daher manchmal nicht damit einverstanden, wenn der Pflegedienst Arbeiten anders ausführte, als er es gewohnt war. Der Einsatz des Pflegedienstes war jedoch sehr wichtig, denn so war zumindest die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln garantiert, da Herr M. zwar theoretisch in der Lage war, selbst einzukaufen, praktisch jedoch nie Geld vorhanden war, weil er das Geld entweder versteckte oder aber verlor.

Herr M. war ein sehr gebildeter Mann, der noch die inzwischen kaum mehr anzutreffende humanistische Bildung genossen hatte, so dass er neben Englisch und Französisch auch Griechisch und Latein gelernt hatte. Außerdem war Herr M. ein großer Liebhaber guter Literatur und klassischer Musik, wobei er zwar eine gute HiFi-Anlage, aber bezeichnender Weise keinen Fernseher besaß. Vor der Berentung hatte Herr M. als Prokurist einer großen Firma gearbeitet. In den Unterlagen von Herrn M. fanden sich Briefe, wie beispielsweise an bekannte Journalisten, die eine sehr große Wortgewandtheit und Hintergrundwissen deutlich machten.

Dieser Mann, der einst eine so verantwortungsvolle Stellung innehatte, litt entsetzlich darunter, jetzt nicht mehr die richtigen Worte zu finden. Einmal, als er wieder mühevoll nach einem Wort suchte, schlug er sich vor lauter Wut an den Kopf und rief verzweifelt: „Das ist so furchtbar“.

Als sich abzeichnete, dass der Verbleib in der eigenen Wohnung aufgrund seiner Verwirrung immer schwieriger wurde, schlug ich die Besichtigung eines Heims vor und Herr M. erklärte sich damit auch bereit. Als wir dann allerdings das erste Heim ansahen, das im Vergleich zu anderen Heimen wirklich einigermaßen gemütlich war und außerdem schön gelegen, reagierte Herr M. ausgesprochen ablehnend. Der Grund hierfür lag nicht so sehr im Heim an sich, das dem Vergleich seiner stilvollen Wohnung natürlich nicht standhielt, sondern vielmehr in der Tatsache, dass sich so viele ebenfalls alte und gebrechliche Menschen dort befanden. Die gleiche Reaktion zeigte Herr M. genauso deutlich bei dem Besuch einer Tagespflegestätte und bei einem weiteren Heim.

Obwohl es bald keinen Tag mehr gab, an dem ich nicht in irgendeiner Weise mit Herrn M. beschäftigt war und dies allmählich an die Grenzen meiner Kraft ging, wollte ich Herrn M. auf keinen Fall mit Gewalt in ein Heim bringen. Es gibt einen Satz, den Herr M. äußerte und den ich noch genau wie damals erinnere: „Frau Behrens, meine Wohnung – das bin ich!“ Und wenn man sich in der Wohnung mit den vielen Büchern, den sorgsam ausgesuchten Kunstdrucken und den vielen kleinen Erinnerungsstücken umsah, dann verstand man genau, was Herr M. meinte.

Ich veranlasste einen psychiatrischen Krankenhausaufenthalt in der Hoffnung, dass es vielleicht eine Form einer hilfreichen medikamentösen Behandlung geben würde, was aber leider nicht der Fall war. Ich nahm außerdem Kontakt zum Sohn auf, der sich überraschenderweise als mein früherer Politiklehrer herausstellte, der sich erstaunlicherweise sogar noch genau an mich erinnern konnte. Auch er hatte sich schon große Sorgen um seinen Vater gemacht, insbesondere deswegen, weil der Vater bis vor kurzem trotz seiner Demenz noch Auto gefahren war. Und wie ich weiter erfuhr, hatte der Vater zuvor in seiner Verwirrung seine gesamten Ersparnisse abgehoben, die daraufhin spurlos verschwanden. Auch bei mir löste es Unverständnis aus, dass man erst dann die Einziehung des Führerscheins erwirken kann, wenn es bereits zu einem Unfall gekommen ist und eine Bank keinerlei Verpflichtung hat, bei einem deutlich verwirrten Kunden etwas gegen die Abhebung des mühsam angesparten Geldes zu tun.

Irgendwann kam dann der Zeitpunkt, den ich eigentlich gar nicht mehr erwartet hatte – Herr M. äußerte von sich aus den Wunsch, in ein Heim zu ziehen. Da er sich immer wieder von Nachbarn und Pflegedienstmitarbeitern beraubt wähnte, fühlte er sich in seiner Wohnung nicht mehr sicher. Allerdings war Herr M. wiederum trotz seiner Demenz zeitweilig in der Lage, wahrzunehmen, dass es nicht die anderen waren, mit denen etwas nicht stimmte, sondern der Grund allein in ihm lag. Diese zeitweilige Erkenntnis schien ihn mindestens genauso zu deprimieren, wie das Gefühl der Bedrohung durch Dritte.

Glücklicherweise war durch die von mir vorgenommene Geldeinteilung inzwischen ein wenig Geld angespart worden, so dass die Wohnung nicht sofort gekündigt werden musste und dadurch auch die Option der Rückkehr in die eigene Wohnung weiterbestehen konnte. Da mir klar war, dass Herr M. den Rahmen der Betreuung einer normalen Pflegestation sprengen würde, schlug ich eine spezielle Dementenstation vor, der Herr M. auch zustimmte. Ich werde nie vergessen, wie traurig Herr M. in seiner Wohnung saß, als wir gemeinsam entschieden, welche Dinge er mitnehmen würde. Wir sahen gemeinsam ein Fotoalbum an und während die meisten Betreuten ihre persönlichen Fotos unbedingt mitnehmen wollten, schienen Herrn M. die Fotos nichts mehr zu bedeuten. Obwohl er sich bei dem Anblick der Fotos noch genau an die damalige Situation zu erinnern schien, schüttelte er den Kopf, als ich vorschlug, die Fotos mitzunehmen. Im nachherein denke ich, dass Herr M. in dem Moment, als er sich zur Aufgabe seiner Wohnung entschlossen hatte entschied, bereits einen Teil von sich aufgegeben hatte.

Im Heim fühlte sich Herr M. überhaupt nicht wohl, aber er wollte auch nicht in seine Wohnung zurück. Bei dem Heim handelte es ich um eine sehr große Einrichtung, die früher mal eine Kaserne war, was man den Räumlichkeiten auch noch immer anmerkte. Insbesondere ein Ästhet wie Herr M. konnte sich natürlich schwer mit so einer Umgebung anfreunden. Diese Abneigung konnte Herr M. auch trotz seiner Wortfindungsstörungen deutlich machen; er wies auf den langen Korridor und sagte kopfschüttelnd: „Also, das ist einfach unmöglich hier!“ Da Herr M. ausgesprochen unfreundlich zu seinem Zimmernachbarn war, hatte er allerdings in Windeseile ein Einzelzimmer.

Es ging Herrn M. im Heim weder besser noch schlechter als zuhause. Auf der einen Seite fühlte er sich sicherer als in den eigenen vier Wänden und auf der anderen Seite fehlte ihm seine Wohnung. Genauso verhielt es sich mit dem Kontakt zu anderen Menschen: auf der einen Seite war Herr M. froh darüber, nicht allein zu sein, auf der anderen Seite störte ihn die Konfrontation mit so vielen alten Menschen. Als ich ihn einmal besuchte, standen ihm Tränen in den Augen. Mühsam formulierte er den Satz: „Ich sitze hier und sitze hier und denke immer nur eins – wann kommen Sie endlich!“.

Als eine Mitarbeiterin der Heimverwaltung hörte, dass ich eigentlich gern ein kleineres und gemütlicheres Heim für Herrn M. suchte, schien sich eine spontane Lösung anzubieten, denn besagte Mitarbeiterin war mit der Heimleiterin eines kleinen Heimes im Norden Hamburgs befreundet, so dass ich einen Vorstellungstermin vereinbarte, den ich gemeinsam mit Herrn M. wahrnahm. Herr M. schien vom Heim angetan und war bester Laune, als wir dann wieder zurück fuhren. Allerdings kam es zu einer kleinen Katastrophe, als ich Herrn M. wieder in das Heim begleiten wollte, denn er weigerte sich mit aller Kraft, das Haus zu betreten. An dem Tag stürmte und regnete es und da es Winter war, war es auch schon stockfinster. Wir beide standen also vor der Eingangstür und ich zerrte an Herrn M. in Richtung Tür und Herr M. zerrte nicht minder hartnäckig in Richtung Straße. Er machte dann deutlich, dass er nicht von mir alleingelassen werden wollte. Ich sagte dann, dass ich ihn doch nicht mit zu mir nehmen könnte, aber Herr M. erwiderte unerschütterlich „Doch!“ Ich bat ihn, vernünftig zu sein und erklärte außerdem, dass ich nicht allein leben würde, sondern mit meinem Freund. Darüber schien Herr M. sehr ärgerlich zu sein und antwortete: „So war das nicht abgemacht“. Letztendlich ließ er sich dann aber doch von mir in sein Zimmer bringen, wo wir uns dann beide erschöpft und völlig durchnässt verabschiedeten.

Es kam dann zu dem Wechsel in das kleinere Heim und die Szene wiederholte sich, als ich mich von ihm verabschieden wollte. Wieder war Herr M., der kurz zuvor noch zu Scherzen aufgelegt war, völlig aufgebracht und wollte mich nicht fortlassen. Es ging ihm dann in dem Heim nicht viel besser als in dem ersten Heim. Und leider war die Heimleiterin auch sofort von Herrn M. sehr genervt und schien mit der Problematik der Demenz überfordert. Erschwert wurde die Ganze Situation noch durch den Umzug, den ich organisiert hatte, denn es mussten ja noch die Möbel und persönliche Dinge ins Heim gebracht werden. Ich hatte, da Herr M. den Umzug selbst bezahlen musste, ein sehr günstiges ABM-Projekt für den Umzug gewählt, was sich als ein großer Fehler herausstellte. Beim Einpacken war ich dabei und war entsetzt, als die teuer HiFi-Anlage regelrecht auf den Boden geschmissen wurde, aber mir wurde nur entgegnet, dass für „den Opa“ bei Schäden doch die Versicherung zahlen würde. Im Heim wurde dann entgegen der Vereinbarung nichts aufgebaut, sondern ebenfalls nur auf den Boden geschmissen, wodurch das Verhältnis zur Heimleiterin vollends in die Brüche ging.

Mittlerweile hatte ich im Betreuungsverein, in dem ich zum damaligen Zeitpunkt beschäftigt war, gekündigt und die Betreuung wurde an meine Nachfolgerin übergeben. Ich besuchte Herrn M. ein letztes Mal und er schien mir nicht mehr böse zu sein. Einige Zeit später verstarb Herr M. an einer Lungenentzündung, die er sich wahrscheinlich zugezogen hatte, als er bei schlechtem Wetter aus dem Heim fortgelaufen war.

Ich schließe diese Geschichte, die mich auch jetzt noch sehr traurig stimmt, mit der Beschreibung des Moments, der auch die letzte Erinnerung an Herrn M. darstellt. Herr M. begleitete mich noch bis zur Gartentür des Heims und nachdem wir uns verabschiedet hatten, drehte ich mich noch einige Male um. Jedes Mal stand Herr M. noch am Gartenzaun und winkte mir lebhaft zu. Selbst als ich schon in weiter Entfernung um die Ecke bog und ein letztes Mal zurücksah, stand Herr M. immer noch dort – beide Arme hocherhoben über den Kopf heftig hin- und her schenkend.

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Freitag, 15. März 2013, 11:50h

Meine Betreuten V: – Ein Suizid

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Die Betreuung von Herrn R. fällt in die Anfangszeit meiner Tätigkeit als Betreuerin, als ich noch in einem Verein angestellt war. Herr R. litt an schweren Depressionen, die mit einer starken Antriebslosigkeit verbunden waren, die oft so ausgeprägt war, dass selbst kleinste Anforderungen für ihn sehr quälend waren und ihn immer wieder die eigene Hilflosigkeit spüren ließen. Aus diesem Grund veranlasste ich die Unterstützung durch eine Haushaltshilfe eines Pflegedienstes. Dies stellte zwar einerseits eine Entlastung für Herrn R. da, andererseits wiederum auch eine Belastung, da Herr R. sich durch die Aktivität der Haushaltshilfe unter Druck gesetzt fühlte.


Herr R. sprach eigentlich fast nie direkt über seine Depressionen, aber diese wurden bei ihm zwischen den Zeilen deutlich. Ich erinnere noch klar seinen gequälten Gesichtsausdruck, wenn er etwas beschrieb, das für ihn ein großes Problem darstellte, ihm dabei aber gleichzeitig bewusst war, dass es für „normale“ Menschen lediglich nur eine ganz normale Alltagsanforderung war.

Herr R. erhielt Medikamente gegen seine Depressionen und Ängste und er suchte auch regelmäßig eine Beratungsstelle in unserem Bezirk auf. Aber eine wirklich Besserung trat bei ihm nicht ein.

Eines Tages rief mich die Mitarbeiterin des Pflegedienstes aufgeregt an, weil Herr R. ihr nicht die Tür öffnete, was bisher noch nie geschehen war. Auch telefonisch war Herr R. nicht erreichbar und so musste ich entscheiden, ob ich gewaltsam die Tür öffnen ließ. Mir war völlig klar, dass dies bei Herrn R. katastrophale Folgen haben würde, wenn er einfach nur außer Haus gewesen wäre, denn er hätte sich durch so ein Vorgehen kontrolliert und nicht mehr sicher gefühlt. So ließ ich also ein paar Stunden verstreichen und versuchte regelmäßig, ihn telefonisch zu erreichen. Außerdem informierte ich auch den Mitarbeiter der Beratungsstelle. Dieser entschloss sich dann, bei Herrn R. vorbeizugehen, da sein Büro im Gegensatz zu meinem nicht sehr weit entfernt lag. Als dem Mitarbeiter nicht geöffnet wurde, holte er extra eine Leiter, um durch das im Hochparterre liegende Fenster zu sehen. Dort sah er dann, dass die Tür zum Badezimmer offenstand und das Licht brannte.

Hieraufhin entschloss ich mich dann, die Feuerwehr zur gewaltsamen Öffnung der Wohnung einzuschalten, die ich dann nach einiger Zeit anrief. Mir wurde die Auskunft gegeben, dass keine ungewöhnlichen Vorkommnisse vorlagen.

Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir jedoch, dass dies nicht stimmte und etwas sehr Schlimmes passiert sei und ich rief trotzdem die Polizei an, die ich um Auskunft bat. Die sagte mir dann, dass sich Herr R. im Badezimmer erhängt hatte.

Diese Nachricht löste bei mir einen kleinen Schock aus, den ich auch heute noch ein wenig spüre, wenn ich daran denke. Natürlich kam mir damals sofort der Gedanke, ob ich den Suizid hätte verhindern können. Ob es vielleicht nicht doch irgendeine Form der Hilfe für Herrn R. hätte geben können. Eine Hilfe, die Herrn R. wieder befähigt hätte, sein Leben als lebenswert zu empfinden. Aber es war schon vieles versucht worden: stationäre Behandlung, Tagesklinik, Medikamente und Psychosoziale Beratungsstelle – aber die Depressionen und Ängste waren stärker.

Ich war sehr froh, mich mit dem Mitarbeiter der Beratungsstelle austauschen zu können. Auch ihm ging es ähnlich und auch er fragte sich, ob er die Tat vielleicht verhindern hätte können. Allerdings hatte er ein Kollegenteam, in dem Raum dafür bestand, den Suizid aufzuarbeiten. Das hatte mir damals sehr gefehlt, denn ein lapidares „Wer sterben will, soll doch sterben“ ist nicht gerade hilfreich, wenn es um einen leidenden Menschen geht, der keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sein Leben zu beenden.

Vermutlich hätte es tatsächlich keine Unterstützung gegeben, die Herrn R. dabei geholfen hätte, sein Leben wieder als lebenswert zu empfinden.
Vermutlich.

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Dienstag, 30. Oktober 2012, 17:54h

Meine Betreuten IV: die paranoide Familie – oder wenn Eltern krank machen

behrens

Die Repräsentanten der paranoiden Familie schaffen sich die Fiktion guten Einvernehmens, indem sie ihr internes Gruppenproblem externalisieren und sich in der Umwelt Adressaten für die Vorwürfe suchen“.

„Das Freund-Feind-Denken des wahnhaften Fanatikers lässt eigentlich immer nur die Wahl zwischen bedingungsloser Bundesgenossenschaft oder Feindschaft zu
“.
Horst Eberhard Richter, Psychoanalytiker (1923 - 2011)aus "Patient Familie"

Ich habe den Begriff der paranoiden Familie während meines Studiums kennengelernt. Wie üblich, wurden dabei auch Falldarstellungen geschildert. Hätte man mir allerdings damals die Familie meiner Betreuten Frau E. geschildert, hätte ich diese Schilderung wahrscheinlich als unglaubwürdig übertrieben empfunden.

Meine siebenunddreißigjährige Betreute Frau E. leidet an einer schweren psychotischen Erkrankung, die mit starken Kontrollzwängen in Bezug auf die Ernährung verbunden ist. Vor etwa sieben Jahren wurde die Betreuung auf Veranlassung des psychiatrischen Krankenhauses angeregt, in die Frau E. eingeliefert wurde, weil sie nur noch 35 Kilogramm wog. Schon nach Kurzem bat mich der Vater von Frau E. um ein gemeinsames Gespräch zusammen mit der Familie. Es erschienen dann nicht nur die Eltern, sondern auch noch die Schwester, der Bruder und auch noch der Schwager samt Kind. Ich war im ersten Moment sehr überrascht über dieses große Interesse und dachte mir, dass das ja unter Umständen auf ein festes Hilfsnetz hinweisen würde. Eine Einschätzung, die sich allerdings als völlig falsch herausstellte.

Das gemeinsame Gespräch verlief dann allerdings ein wenig merkwürdig. Ich schlug vor, dass man eine zusätzliche, auf psychisch kranke Menschen spezialisierte, persönliche Betreuung (PPM) einrichten solle, damit Frau E., die neben ihren ausgeprägten Kontrollzwängen auch unter massiven Ängsten leidet, bei der Aufnahme sozialer Kontakte unterstützt wird. Die Mutter wehrte allerdings sofort ab mit den Worten: „Das bringt doch alles nichts“. Was der Familie jedoch sehr wichtig war, war die Unterbindung des Kontaktes zu Gerd, dem einzigen Freund von Frau E., denn nach Ansicht der Familie war allein Gerd Schuld an der Erkrankung von Frau E. Ich sagte daraufhin, dass Frau E. selbst entscheiden müsse, ob sie Kontakt zu ihrem Bekannten haben möchte oder nicht, womit ich auf Unverständnis stieß.

Später lernte ich dann Gerd kennen, der meinen Kontakt zu Frau E. erst möglich machte, da sie allen Menschen ängstlich und feindlich gegenüberstand. Frau E. war aufgrund ihrer Ängste nicht in der Lage, allein zu wohnen und war deswegen schon vor einiger Zeit wieder in eine winzige Anliegerwohnung im Hause ihres Vaters und dessen Frau gezogen. Das Zusammenleben gestaltete sich dann allerdings sehr ambivalent, da Frau E. zwar auf die Hilfe ihres Vaters beim Einkaufen und die Begleitung zu Terminen angewiesen war, aber ihn dennoch als zu bevormundend ablehnte. Sie hatte auch schon einige Zeit zuvor extra schriftlich festgelegt, dass sie unter keinen Umständen jemals von ihrem Vater betreut werden möchte.

Der Vater akzeptierte es nicht, dass sie weiterhin Kontakt zu Gerd hatte und ließ ein durch einen Anwalt ausgesprochenes Hausverbot erteilen, in dem bei Zuwiderhandeln mit einer Strafe von 100.000 € gedroht wurde. Ich war sehr entsetzt über die Anmaßung eines Vaters, seiner Tochter den Umgang mit dem einzigen Freund auf so drastische Weise zu verbieten.

Nach zwei Jahren ließ sich Frau E. endlich darauf ein, Kontakt zu einer psychosozialen Beratungsstelle aufzunehmen und die Kostenübernahme für die personenbezogene Hilfe wurde auch vom Sozialamt genehmigt. Dies hatte allerdings schwerwiegende Folgen auf das Verhalten des Vaters mir gegenüber. Er warf mir Verschwendung von Steuergeldern vor und noch bevor er die Mitarbeiterin der Beratungsstelle kennenlernte war er überzeugt von deren Inkompetenz. Gegen den mit der Maßnahme verbundenen finanziellen Eigenanteil für die Eltern legte er genauso wie die Mutter von Frau E. Widerspruch und später sogar Klage beim Sozialgericht ein, was kaum nachvollziehbar ist, da der Vater meiner Betreuten zwei eigene Häuser besitzt und der Eigenanteil ganze 13,00 (!) Euro betrug.

Vom Zeitpunkt des Tätigwerdens der PPM-Mitarbeiterin an war das Verhalten des Vaters mir gegenüber durch Beleidigungen und Drohungen geprägt. Auch gegen mich schaltete er einen Anwalt ein, der mir vorwarf, das Geld von Frau E. nicht ordnungsgemäß zu verwalten. Ich konnte den Vorwurf durch detaillierte Darlegung der Kontobewegungen problemlos widerlegen, aber die Widerlegung erhobener Vorwürfe nimmt leider immer sehr viel Zeit in Anspruch, die ich viel lieber anders nutzen würde.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde das paranoide Familiensystem in seinem ganzen Ausmaß offensichtlich. Geradezu exemplarisch konnte man auch das Verschieben der jeweiligen Sündenböcke beobachten. Zuerst hatte Gerd die Funktion des Sündenbocks inne, danach ich und dann die PPM-Betreuerin. Die PPM-Betreuerin konnte aufgrund der Bedrohungen des Vaters ihre Besuche von Frau E. zeitweilig nur in Begleitung eines männlichen Kollegen machen und auch mir hielt der Vater von Frau E. schon die erhobene Faust vor das Gesicht.

Als es aufgrund der Frage nach der Verlängerung der Betreuung zu einer erneuten richterlichen Anhörung im Amtsgericht kam, hörte man den Vater laut im Flur rumpöbeln und nachdem der Richter den Vater mit dem Einverständnis von Frau E. hinzuzog, bekam auch der Richter die Wut des Vaters zu spüren, weil auch er seiner Ansicht nach mit mir „unter einer Decke“ stecken würde.

Für die sehr engagierte PPM-Betreuerin war es nicht einfach, mitanzusehen, wie Frau E. in ihrem winzigen Dachzimmer im Hause ihres Vaters immer mehr vereinsamte und verzweifelte und es außerdem auch so schien, dass sie wieder an Gewicht verlor. So war auch die Suche nach einer stationären Behandlung und einer geeigneten Wohneinrichtung immer wieder Thema. Durch die Hinzuziehung eines Gutachters, der ebenfalls sowohl eine stationäre Behandlung als auch eine andere Wohnform befürwortete, kam es dann vor einigen Monaten mit dem Einverständnis von Frau E. zu der Aufnahme in eine psychiatrische Klinik. Hier wurde dann von neuem das System einer paranoiden Familie deutlich. Denn während sich die übrige Familie bisher überhaupt nicht um die völlig isoliert lebende Frau E. gekümmert hatten, wurde Frau E. jetzt, wo sie sich endlich im Kontakt zu anderen befand, sofort von der vom Vater getrennt lebenden Mutter und von der Schwester besucht und natürlich bestand auch der Vater darauf, seine Tochter fast täglich zu besuchen.

Entgegen den Befürchtungen der PPM-Betreuerin und mir brach Frau E. die Behandlung nicht ab und sie sah sich sogar verschiedene Wohneinrichtungen an. Und vor kurzem geschah dann das Wunder, dass tatsächlich ein Platz frei wurde und Frau E. direkt vom Krankenhaus in die Einrichtung zog. Alle Beteiligten – die behandelnden Ärzte und das Pflegepersonal, die Psychologin, die Sozialdienstmitarbeiterin, die PPM-Betreuerin und auch ich – sind sehr froh über diese Entwicklung. Allerdings ganz im Gegenteil zum Vater, der mir die bittersten Vorwürfe macht, die Familie „auseinandergehauen“ zu haben und der sofort nach dem Kennenlernen der Wohneinrichtung auch in gewohnter Manier an der Einrichtung massive Kritik äußerte.

Es ist eigentlich kaum noch fassbar, welche Abgründe sich in dieser Familienstruktur auftun. Da gibt es eine Tochter, die sich in lebensbedrohender Form fast bis aufs Skelett abhungert. Und da gibt es einen Vater, der dafür einzig und allein Dritte verantwortlich macht. In einer merkwürdigen Verdrehung der Ursachen wird nicht die Situation als krank empfunden, in der eine längst erwachsene Tochter in völliger Abhängigkeit vom Vater und in totaler sozialer Isolation lebt, sondern es wird die Situation als bedrohlich empfunden, der die Tochter in sozialer Gemeinschaft lebt und professionelle Hilfe durch Dritte erhält. Dies allein wäre für sich genommen schon ein Beispiel für eine extreme Verdrängung der Realität. Die Tatsache aber, dass der Vater sogar Personen verantwortlich macht, die seine Tochter erst lange nach Ausbruch der Erkrankung kennenlernte, zeigt, dass es sich nicht nur um eine Verdrängung, sondern um eine ausgebildete paranoide Struktur handelt. Nimmt man dann noch den Umstand hinzu, dass der Vater seine Beschuldigungen nicht nur durch Beleidigungen, sondern auch durch massive Bedrohungen formuliert, dann wird deutlich, wie durch und durch krank diese Familienstruktur ist.

Jetzt könnte man einwerfen, dass man doch auch für den offensichtlich sehr kranken Vater tiefes Verständnis zeigen sollte. Dies wäre mir vielleicht möglich, wenn ich als Psychologin arbeiten würde, deren Arbeit sich auf Gespräche mit wenigen Klienten beschränkt. Ich als Betreuerin habe aber auch noch diverse andere Aufgaben und bin sowohl für die existentielle Versorgung Schwerkranker als auch für die damit verbundene Bewältigung von Unmengen administrativer Aufgaben zuständig. Bei der Ausübung dieser sehr komplexen Aufgaben ist es enorm hinderlich, wenn keine Nachrichten mehr auf meinen Anrufbeantworter hinterlassen werden können, weil der Vater von Frau E. wieder einmal die gesamte Sprechzeit mit seinen Beleidigungen und Bedrohungen ausgeschöpft hat. Und es ist genauso ärgerlich, wenn ich die ohnehin sehr knappe Zeit dafür verwenden muss, absurde Anschuldigen zu widerlegen.

Jenseits der Frage nach der Schuld an der Erkrankung eines Familienmitgliedes bleibt mein Entsetzen darüber, wie perfide sich ein familiäres System entwickeln kann und mit welcher Kraft und Vehemenz sich Eltern gegen die Gesundung ihres Kindes wehren, nur um die Illusion einer heilen Welt zu erhalten. Dies geht sogar soweit, dass im Zweifelsfall selbst das Leben des eigenen Kindes aufs Spiel gesetzt wird.

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Dienstag, 29. November 2011, 03:11h

Meine Betreuten III – Traumatisierungen aus der Nazizeit

behrens

Bei einer meiner Betreuten hatte ich schon immer den Verdacht, dass jemand aus ihrer Familie während des Dritten Reichs von den Nationalsozialisten umgebracht wurde. Und obwohl ich meine Betreute Frau V. schon fast elf Jahre betreue, ist es mir nie gelungen, ein wenig mehr darüber zu erfahren. Dies liegt daran, dass die 84jährige Frau V. sowohl an einer psychotischen Erkrankung als auch an dementiellen Symptomen leidet. Meist ist sie so aufgeregt, dass sie von einem Thema zum anderen springt und es nicht möglich ist, konzentriert über eine Sache zu sprechen.

Heute allerdings war dies anders. Ich besuchte Frau V. in der Tagespflegestätte, weil sie dringend etwas mit mir besprechen wollte. Meist sind es ganz banale Dinge, wie zum Beispiel ein Werbebrief oder etwas, was sie falsch verstanden hat, was Frau V. in so große Aufregung bringt, dass sie mit mir sprechen will. Als ich sie heute antraf – sie hatte gerade einen Mittagsschlaf gemacht und war ungewohnt ruhig – hatte sie schon wieder vergessen, was sie eigentlich mit mir besprechen wolle. Ich weiß nicht mehr genau, wodurch wir auf das Thema kamen, aber wir gelangten wieder einmal zu ihrer Vergangenheit und wie immer sprach sie davon, dass „jemand abgeholt wurde“. Diesmal ließ ich nicht locker und fragte immer wieder nach. Und dabei kam ihr schreckliches Erlebnis aus der Kindheit ans Licht.

Die Mutter von Frau V. war blind und während des Dritten Reichs wurde sie aufgrund ihrer Behinderung irgendwann abgeholt und kehrte nie wieder zurück. Weder Frau V. noch ihr Vater oder sonst irgendjemand hat jemals erfahren, was mit der Mutter passierte. Bei Frau V. die meiner Rechnung nach damals im Alter von zehn bis achtzehn Jahren alt gewesen sein muss, hat dies spurlose Verschwinden der Mutter einen großen Schock ausgelöst. Anscheinend reagierte sie darauf so heftig und nachhaltig, dass dies auch anderen auffiel. Nach Meinung von Frau V. hat eine Haushaltsangestellte dann jemand von der Behörde über ihren Zustand informiert. Dies hatte die tragische Folge, dass auch Frau V. abgeholt und in eine geschlossene Anstalt gebracht wurde. Der Vater von Frau V. schien wohlhabend zu sein, denn er beauftragte einen sehr renovierten Anwalt damit, sich für die Rückkehr von Frau V. einzusetzen. Der Anwalt erreichte schließlich, dass Frau V. nach Hause zurückkehren durfte. Frau V. erinnert sowohl den Namen des Anwalts als auch den der Hausangestellten.

Bei Frau V. hat dieses schreckliche Erlebnis zu einer schweren Traumatisierung geführt. Sie war zwar zeitweilig in der Lage, zu arbeiten und hat später auch geheiratet, aber sie war nie wirklich belastbar. Dadurch, dass sie auch noch zwei weitere schwere Schicksalsschläge erlebt hat, hat sie dann vollends ihre psychische Stabilität eingebußt. Nur durch die Einnahme von Medikamenten kann sie einigermaßen angstfrei leben.

Nach dem Gespräch ist mir auf erschreckende Weise klar geworden, warum Frau V. schon durch kleine Vorfälle oder Unregelmäßigkeiten völlig beunruhigt ist und immer das Gefühl hat, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren kann. Eine Mutter, die plötzlich spurlos verschwindet und nie wieder auftaucht. Danach eine Zwangseinweisung in eine geschlossene Anstalt weitab von zuhause. Das sind Wunden, die niemals ganz verheilen.

Ich möchte noch anfügen, dass Frau V. trotz allem, was man angetan hat, nur an das Gute im Menschen glaubt. Und in ihrer Gutmütigkeit verschenkt sie dann sogar oftmals ihr Geld oder Lebensmittel, so dass für sie selbst kaum genug übrig bleibt.

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Montag, 29. August 2011, 14:15h

Meine Betreuten - Was ist das Menschenmögliche?

behrens

Am Grab der meisten Menschen trauert tief verschleiert ihr ungelebtes Leben.
Hermann Hesse (1877-1962)

Heute habe ich die Nachricht erhalten, dass einer meiner Betreuten verstorben ist. Herr F. ist 47 Jahre alt und befand sich schon seit über zwei Monaten auf der Intensivstation. Allerdings war er auf dem Wege der Besserung und es war schon eine anschließende Reha-Maßnahme geplant, so dass die Nachricht für mich trotz der schweren Erkrankung völlig überraschend eintraf.

Ich betreue Herrn F. schon seit etwa 8 Jahren. Herr F. litt seit seinem vierzehnten Lebensjahr an einer schweren Zwangserkrankung. Er selbst beschrieb die Symptome als Blockaden. Diese Blockaden äußerten sich darin, dass er fast alle Tätigkeiten des alltäglichen Lebens nur sehr langsam und verzögernd ausführen konnte. Fiel beispielsweise etwas auf den Boden, dann brauchte Herr F. mehrere Anläufe, ehe er den Gegenstand wieder aufheben konnte.

Die Symptome waren so stark, dass Herr F. einen Pflegedienst benötigte. Duschen, Anziehen, in der Wohnung etwas ordnen – all diese Tätigkeiten dauerten bei Herrn F. sehr viel länger als bei anderen Menschen. Soziale Kontakte hatte Herr F. kaum, obwohl er sich die sehr wünschte. Dies lag zum einen daran, dass er mit seinem Verhalten bei anderen Menschen oftmals Ablehnung oder zumindest Irritierung hervorrief. Zum anderen lag es aber auch daran, dass Herr F. nicht in der Lage war, wirkliches Interesse für andere zu entwickeln. Manchmal wirkte er regelrecht gefühllos anderen gegenüber. Seine Außenseiterposition wurde noch dadurch erschwert, dass er seinen Kummer durch Essen kompensierte und sich infolge seines Übergewichts nur noch schwer bewegen konnte.

Herr F. hatte sich große Hoffnungen gemacht, als er von einem sogenannten Tiefensimulator hörte. Hierbei handelte es sich um eine Art Schrittmacher, der operativ in das Gehirn eingesetzt wird und der bei einigen psychischen Erkrankungen, wie z.B. bei Zwangserkrankungen oder der Touretteerkrankung Heilerfolge zeigte. Allerdings wird diese Operation nur dann durchgeführt, wenn sich alle psychotherapeutischen Verfahren als erfolglos erwiesen haben. Herr F. musste sich daher mehrere Male in stationäre psychiatrische Behandlung begeben, damit ausgeschlossen werden konnte, dass ihm durch andere Therapien geholfen werden kann. Dies wurde allerdings immer wieder verzögert und jeder ärztlichen Konsultation folgten neue Vorschläge.

Als ich heute Morgen vom Tod meines Betreuten erfuhr, löste dies ein Gefühl aus, das ich vage als Hoffnungslosigkeit oder Trostlosigkeit beschreiben kann. Ich sah vor meinem geistigen Auge das Leben von Herrn F., in dem es kaum so etwas wie Glück gab. Er selbst hat einmal gesagt, dass er nicht mehr viel Sinn in seinem Leben sieht, da er keine Hoffnung mehr hat, einmal so etwas wie Normalität zu erleben. Die Zwänge hatten ihm die Möglichkeit genommen, ein normales Leben zu führen. Dazu kam dann die große Einsamkeit, die einherging mit dem Gefühl, dass sich im Grunde niemand für ihn interessiert und es egal ist, ob er lebt oder stirbt. Bei den meisten Menschen erfuhr er nur Ablehnung, die er sich dadurch erklärte, dass er eben jemand ist, der nichts Liebenswertes an sich hat.

Man könnte jetzt sagen, dass der Tod eine Erlösung für ihn war. Das ist schön einfach, man kann die Sache leicht abhaken und muss sich keine Vorwürfe machen. Aber das mit der Erlösung ist so eine Sache. Bevor man stirbt, sollte man gelebt haben. Und es ist allemal besser, von seinen Leiden durch Heilung erlöst zu werden als durch den Tod. Und so bleibt bei mir dieses vage Gefühl, dass nicht alles versucht wurde. Vielleicht wurde nicht alles Menschenmögliche getan.

Das MENSCHENMÖGLICHE. Hat Herr F. das Menschenmögliche wirklich erhalten? Von uns? Von mir?

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Sonntag, 17. Juli 2011, 21:49h

Meine Betreuten III – Herr W., meine traumatischste Betreuung

behrens

Ergebung und Duldsamkeit ist nicht der moralische Weg, wenn er auch der bequemere ist.
Martin-Luther King (1929-1968)

Heute möchte ich über einen meiner früheren Betreuten schreiben. Obwohl ich die Betreuung schon seit über 10 Jahren an einen früheren Kollegen abgegeben habe, bereitet es mir immer noch Bauchschmerzen, wenn ich an Herrn W. denke, denn Herrn W. ist durch die Betreuung sehr viel Unrecht zugefügt worden. Herr W., damals um die 38 Jahre, leidet unter einer Minderbegabung, aufgrund der er kaum lesen und schreiben kann und aufgrund der er nicht in der Lage ist, zu unterscheiden, ob ihm jemand helfen oder ihn nur ausnutzen will. Dies hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass Herr W. sowohl für seinen Vater einen Bürgschaftsvertrag für einen Kredit unterschrieb, als auch als Namensgeber für durch seinen Bruder getätigte Bestellungen herhielt. Beides hatte im Jahr 1997, als ich Herrn W. kennenlernte, zu einer Verschuldung von ca. 80.000,00 DM geführt.

Die Betreuung wurde nicht durch allein durch Herrn W. selbst, sondern in Absprache mit seinen zwei Chefinnen beantragt. Immer wieder hatten die beiden Betreiberinnen eines kleinen Chemiebetriebs versucht, Herrn W. davor zu schützen, irgendetwas zu unterschreiben. Außerdem hatten sie immer wieder versucht, die entstandenen Schulden durch Vergleichszahlungen zu tilgen. Als die beiden Chefinnen von dem Betreuungsverein hörten, in dem ich zum damaligen Zeitpunkt arbeitete, hatten beide und auch Herr W. die große Hoffnung, dass eine Betreuung dem Ausgenutzwerden endlich ein Ende setzen könnte. Durch die Erteilung eines Einwilligungsvorbehaltes könnte ich zum einen die durch den Bruder immer wieder abgeschlossenen Verträge sofort rückgängig machen.

Zum Zeitpunkt des Aufsuchens des Betreuungsvereins gab es einen Pfändungsbeschluss, durch den die beiden – ob sie nun wollten oder nicht – einen Teil des Gehalts an Gläubiger abführen mussten. Damals waren die Pfändungsfreigrenzen noch erheblich niedriger als heute und so blieb Herrn W. kaum genug von seinem Lohn, um davon zu leben. Die beiden Chefinnen sprachen den damaligen Geschäftsführer, seines Zeichens Anwalt, darauf an, ob man es keine Möglichkeit geben würde, dagegen etwas zu tun. Dies wurde vom Geschäftsführer sofort bejaht und so wurde nicht nur der Antrag auf Einrichtung einer Betreuung unterzeichnet, sondern gleich noch eine Mandatserteilung. Und sofort vereinbarte der damalige Geschäftsführer einen Vorschuss in Höhe von 400,00 DM.

Nach einiger Zeit erhielt ich dann den für meine Arbeit erforderlichen Betreuerausweis und sichtete die diversen Bestellungen, die der – inzwischen inhaftierte – Bruder meines Betreuten abgeschlossen hatte und die sich auf rund 30.000,00 DM beliefen. Ich sprach den Geschäftsführer darauf an, was dagegen getan werden könnte. Zu meinem Erstaunen, sagte dieser kurz und bündig und ohne von seiner Akte, in die er gerade vertieft war, aufzusehen: „Gar nichts“. Ich war sehr verblüfft, denn wenn man gar nichts tun konnte, machte das ihm erteilte Mandat ja auch überhaupt keinen Sinn. Obwohl der Geschäftsführer versprochen hatte, sich um die Heraufsetzung der Pfändungsgrenze zu bemühen, tat er auch in dieser Hinsicht nichts, und so wurde kurz darauf ein viel zu hoher Teil des Lohns gepfändet.

Ich war damals Berufsanfängerin und wusste überhaupt nicht, wie und wo man die Pfändungsgrenze heraufsetzen könnte. Schließlich erbarmte sich eine Bewährungshelferin und erklärte mir das Prozedere. Außer den von den vom Bruder verursachten Schulden gab es auch noch einen Kreditvertrag in Höhe von etwa 50.000,00 DM. Auch hier war der Geschäftführer (der übrigens für meine Anleitung zuständig war!) nicht im Geringsten bereit, mir bei der Überprüfung zu helfen. Ich hatte aber von dem zuständigen Richter den Tipp erhalten, dass die Art Bürgschaft, die von Herrn W. abgeschlossen wurde, eventuell sittenwidrig wäre.

Inzwischen reagierten die Chefinnen meines Betreuten sehr verärgert, weil sie trotz der Dringlichkeit überhaupt nichts geschah und sie trotz mehrmaligen Nachhakens keine Antwort vom Geschäftsführer erhielten. Dann kam allerdings ein denkwürdiger Brief: der Geschäftsführer teilte mit, dass keine Möglichkeit bestände, etwas gegen den rechtskräftigen Titel zu unternehmen. Er wäre allerdings bereit, gegen den Betrag von 2.500,00 DM (!) eine Ratenzahlung zu vereinbaren und zu überwachen. Zu Recht löste dieser Brief bei den beiden Chefinnen einen Wutanfall aus, denn die „Überwachung von Ratenzahlungen“ hatten beide schon seit Jahren selbst ausgeführt. Worum es ihnen ging, war die Anfechtung der Vollstreckungstitel, auf die Ihnen vom Geschäftsführer Hoffnung gemacht worden war. Eine Hoffnung, die er mir gegenüber allerdings sofort als völlig unrealistisch schilderte. Der eigentliche Eklat entstand dann aber, als die Chefinnen mit Herrn W. die Rücknahme des Mandats vereinbarten und sich der Geschäftsführer weigerte, die angezahlten 400,00 DM wieder zurückzuzahlen. Als ich als rechtliche Vertreterin von Herrn W. darauf bestehen wollte, drohte er mir damit, dass er „auch anders könne“, denn die Gebühren für eine Beratung könne man auch ohne weiters bis auf einen Betrag von 650,00 DM anheben. Dann fügte er noch lautstark hinzu, dass die Motivation der beiden Chefinnen, Herrn W. zu helfen, allein darin bestehen würde, ihn ausbeuten zu wollen. Außerdem sei Herr W. sowieso nur ein Krimineller.

Ich war sehr verzweifelt und fragte meinen damaligen Kollegen, der nicht nur Betreuer, sondern auch Anwalt ist. Seine Antwort lautete, dass eine Anhebung der Beratungsgebühren durchaus legitim wäre (eine Einschätzung, die, wie ich später erfuhr, allerdings nicht von allen geteilt wird). Ich versuchte daraufhin, Hilfe beim ersten Geschäftsführer dabei zu erhalten, die völlig zu Unrecht erhobene horrend hohe Gebührenrechnung zurückzunehmen. Der brach ein Gespräch über die Situation ab mit dem denkwürdigem Satz: „Anwälte kosten nun mal Geld“.

Da ich nichts tun konnte, um meinem Betreuten in dieser Angelegenheit zu helfen, konzentrierte ich mich auf den Bürgschaftsvertrag, gegen den ich Klage erheben wollte. Da ich mich als Nichtanwältin damit überfordert fühlte, fragte ich meinen Anwaltskollegen, der dann eine Klage für mich vorbereitete, wofür ich ihm 250,00 DM zahlte. Die Klage war ein Erfolg, denn die Bank lenkte ein und war bereit, die Forderung der 50.000,00 DM gegen eine geringe Vergleichszahlung zurückzunehmen. Zumindest in dieser Angelegenheit konnte ich etwas für Herrn W. tun.

Wie reagierte Herr W. eigentlich auf die ganze Situation? Ich brauche wohl nicht näher auszuführen, dass ein Mensch, der über seine hohen Schulden verzweifelt ist und sich hilfesuchend an einen gemeinnützigen Verein wendet, die Welt nicht mehr versteht, wenn er von eben diesem Verein eine hohe Rechnung für eine nie erfolgte Beratung erhält. Ich habe Herrn W. immer wieder gesagt, wie schlimm ich die Geschehnisse im Verein fand. Mich hat es immer beeindruckt, dass Herr W. trotz seiner hohen Pfändungen stets wacker zur Arbeit gegangen ist. Als dann endlich die Summe getilgt war, war er auch mehr als glücklich. Ich möchte betonen, dass auch Herr W. kein Engel ist und er ein- oder zwei kleine Strafdelikte begangen hat. Als bei ihm vor einiger Zeit Symptome einer psychischen Erkrankung auftraten, ließ auch seine Arbeitsmotivation nach, so dass seine Firma, in der inzwischen nur noch eine der zwei Chefinnen tätig ist, ihn entließ. Ich hatte immer mal wieder Kontakt zu Herrn W. weil dessen Betreuung nachdem ich den Verein verließ, von meinem damaligen Kollegen übernommen wurde.

Keine meiner Betreuungen verlief auch nur ansatzweise so negativ wie die von Herrn W. und beeinflusste so grundlegend meine Vorbehalte gegen Betreuer. Traumatisch war nicht nur die Tatsache, nichts gegen den Betrug meines Betreuten getan zu haben, sondern auch der Umgang der Kollegen mit dieser Situation. Meine damalige Kollegin äußerte sich gar nicht zu dem Geschehen, außer dass sie ihren Unmut darüber ausdrückte, dass die Chefinnen von Herr W. so oft anrufen würden. Mein damaliger Kollege empfand es als Anmaßung, dass ich die Mandatsrücknahme befürwortete und empfindet meine Kritik an der Arbeitspraxis des Vereins als völlig unberechtigt und unangebracht. Diese Meinung teilt ein großer Teil des Kollegenkreises, der außerdem der Meinung ist, man müsse über die Vorfälle Stillschweigen bewahren, da ansonsten unser ohnehin schlechter Ruf noch mehr gefährdet ist.

Wenn ich mir das Unrecht vor Augen führe, das Herrn W. – und allein um ihn geht in diesem Beitrag hier – im Rahmen der Betreuung angetan wurde, dann tue ich mich schwer, Stillschweigen als das geeignete Mittel anzusehen.

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