Donnerstag, 8. Januar 2015, 22:47h

behrens



Frankreich ist im Ausnahmezustand. Die Familie meines Lebensgefährten lebt in Paris und ich selbst habe vor vielen Jahren für ein halbes Jahr auch dort gewohnt. Mein Lebensgefährte ist ein Fan von Charlie Hebdo und gerade hat er mir ein paar alte Exemplare aus dem Jahr 1978 gezeigt.

An den Franzosen hat mir immer schon die Freiheit des Denkens gefallen. Das Land, aus dem der Laizismus kommt, ist erstaunlicherweise sehr tolerant gegenüber Gläubigen. Während in Deutschland Diskussionen über Glaubensfragen kaum möglich sind ohne Dogmatik und tumbe Polarisierungen, geht man in Frankreich sehr viel respektvoller und differenzierter mit den religiösen Überzeugungen anderer um. Man sieht die negativen Seiten der Religion genauso wie deren positiven Seiten (die es eben auch gibt). Das macht Diskussionen möglich, von denen man in Deutschland nur träumen kann.

Und gerade in einem Land, in dem ein fruchtbarer interreligiöser Dialog möglich ist, passiert dieser grausame Anschlag. Bleibt aus ganzem Herzen zu hoffen, dass die Franzosen ihren kühlen Kopf behalten und die Welle der Solidarität anhält.


https://youtu.be/N_9-eP5GHe0

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Le Michel allmand – il dort encore

Während die Anschläge in Frankreich noch immer Thema sind, scheint es viele Deutsche so gut wie gar nicht zu interessieren. Man ist mehr damit beschäftigt, politisch korrekt zu reagieren und kritisch vor zu viel Überwachung zu mahnen. Und Menschen, die ansonsten keine Gelegenheit auslassen, Religion ins Lächerliche zu ziehen, erheben plötzlich den moralischen Zeigefinger, wenn dies angeblich in Bezug auf den Islam geschieht. Irgendetwas ist faul daran. Sicher, die Mehrheit der Muslime ist friedlich und leidet selbst an der zunehmenden Bedrohung. Es ist aber nicht unbedingt jedem verständlich, wieso dies als Argument dafür herhalten muss, dass doch eigentlich alles gar nicht so dramatisch ist.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung – man braucht es eben nur, wenn man überhaupt eine Meinung hat. Daran hapert es bei so manchem Deutschen, dem es in erster Linie darum geht, gut zu verdienen und seinen Kindern eine Ausbildung zu finanzieren, damit diese später ebenfalls gut verdienen. Da ist dann einfach kein Platz und keine Zeit für den Luxus einer eigenen Meinung. Von Solidarität braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht zu sprechen. Raif Badawi, Salman Rushdie, Seyran Ateş – wer waren die noch mal?

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Wo sehen Sie Desinteresse oder Abflauen der Aufmerksamkeit? Mir scheint die Diskussion über Meinungsfreiheit, Überwachung, Unterdrückung, Privilegien von Religionen etc. in vollem Gange zu sein.

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Ich habe zwei früheren Kollegen davon erzählt, wie sehr mich die Morde an den Redakteuren von Charlie Hebdo beschäftigen und bei beiden erfolgte eigentlich so gut wie keine Reaktion. Mit meinen jetzigen Kollegen habe ich auch noch kein Wort darüber gewechselt, wobei dies auch daran liegen kann, dass man sich immer nur sporadisch zwischen Tür und Angel sieht.

Was die Medien anbetrifft – einerseits ist Charlie Hebdo immer noch Thema, andererseits zieht jetzt auch – wie sollte es anders sein – das Dschungelcamp sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf sich.

Ich sehe einfach, wie schnell sich die Thematik fast vollständig verschiebt auf das Thema Überwachung oder darauf, wie echt die Anteilnahme der Teilnehmer an den Kundgebungen ist. Ich empfinde das als unangemessen, denn es sind brutale Morde geschehen und es wird auch weiterhin brutale Morde geben und Menschen, die sich keines anderen Vergehens schuldig gemacht haben, als das der freien Meinungsäußerung werden mit dem Tod bedroht. Das ist nichts anderes als eine Kriegserklärung und die beinhaltet, dass die jetzige Entwicklung völlig außer Kontrolle geraten kann. Dagegen ist die Vorratsdatenspeicherung ein müder Lacher.

Eben gerade lese ich, dass sich jetzt Muslime in ihrem Glauben beleidigt fühlen, weil Aldi ein Duschgel mit dem Namen „1001 Nacht“ herausgebracht hat, auf dessen Etikett eine Moschee zu sehen ist. Aldi entschuldigt sich vielmals und – ich mag es gar nicht glauben – nimmt das Produkt vom Markt!!! Geht’s noch? Wo soll das hinführen?

Vielleicht bin ich auch einfach zu nah dran um die nötige Gelassenheit aufzubringen.

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Hm. Es kommt sicher auf die "Filterblase" an -- in meinem Bekanntenkreis wird viel diskutiert. Und ich denke, es ist bei aller Betroffenheit wichtig, auch weg vom eigentlichen Vorfall zu schauen und zu verstehen, was denn da eigentlich geschehen ist. Viele sagen, ein fairer Prozeß gegen die Täter hätte uns allen in dieser Hinsicht mehr gebracht (siehe Norwegen); die Chance haben wir nun nicht mehr.
In einem jedoch muß ich widersprechen: Vorratsdatenspeicherung ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, und zwar ein systematischer. Generalverdächtigung. Da muß man ja aufpassen, daß man nichts zu verbergen hat ... ach, dazu haben sich schon Leute die Finger wundgeschrieben. Überwachung ist ein Kennzeichen totalitärer Systeme, sie beeinflußt die, die ihr unterworfen sind, tiefgreifend, und wer kann schon garantieren, daß die erhobenen Daten nicht in falsche Hände geraten?
Das Duschgel ist ein offensichtlicher Irrsinn, aber der Effekt einer flächendeckenden Überwachung wäre derselbe -- vorauseilender Gehorsam, bloß nichts tun, was auch nur verdächtig sein könnte. Wenn jetzt ausgerechnet der Terror in Paris dazu genutzt werden soll, uns alle gläsern zu machen, ist das zynisch.

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Die Angst vor dem gläsernen Menschen wirkt seltsam deplaciert in einer Zeit, in der ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung sich voll und ganz der Öffentlichkeit preisgibt. Bei Facebook, Twitter & Co kann man genauestens nachlesen, was jemand wann-wo-mit wem macht, bzw. gemacht hat oder machen wird. Sicher, das ist immer noch eine freiwillige Sache, die man nicht mitmachen muss. Aber dennoch geben Telefonverbindungen längst nicht so viele intime Daten preis wie das Netz.

45 der 57 muslimischen Staaten haben die Kairoer Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet. In dieser Erklärung wird die Scharia als "einzig zuständige Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung" genannt. Von der immer und überall betonten Gewaltfreiheit des Islams kann daher keine Rede sein und ein deutlicheres Bekenntnis zur Legitimation von Gewalt gibt es nicht. In keinem islamischen Staat gibt es eine vollständige Pressefreiheit. Saudi Arabien hat zwar die Attentate auf Charlie in einer Stellungnahme verurteilt, aber dennoch wird zeitgleich der Blogger Raif Badawi für völlig harmlose Artikel mit 1000 (!) Peitschenhieben langsam zu Tode geprügelt. Während alle muslimischen Staaten lauthals und unaufhörlich gegen ein paar Karikaturen protestieren, hört man zu Raif Badawi so gut wie nichts. Während die Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen in Massakern überall auf der Welt bestand, hat sich in der muslimischen Welt nicht der geringste Protest geregt, als im Jahr 2001 die über 1400 Jahre alten Buddhastatuen von Bamyan zerstört wurden.

Ich erwähne dies hier so ausführlich, weil die Argumentation immer die gleiche ist: der Islam ist friedlich und tolerant und hat nicht das Geringste mit den Islamisten zu tun. Wäre dies tatsächlich der Fall, so würde auch ich die Vorratsdatenspeicherung als eine zu heftige und unangemessene Reaktion empfinden. Aber ich fürchte, dass Ralf Giordano nicht völlig falsch mit seiner Einschätzung lag, der Islam sei nicht reformfähig. Was nichts daran ändert, dass ein großer Teil der Muslime den islamistischen Terror genauso wie Sie oder ich ablehnen (ich habe übrigens muslimische Bekannte und Freunde). Aber gerade jene Muslime mit dem Wunsch nach einem freieren und toleranteren Islam sind es, die im Handumdrehen auf einer der vielen Todeslisten landen.

Ich googelte eben ein wenig, um das genaue Jahr der Zerstörung der Buddhastatuen zu erfahren und dabei las ich, dass in Pakistan eine regelrechte Jagd auf die wenigen noch existierenden buddhistischen Heiligtümer gemacht wird. Wo bleibt da der Aufschrei nach religiösem Respekt?

Man wird sehen, was die Zukunft bringt. Vielleicht hat sich in einigen Jahren das Problem des Islamismus tatsächlich von allein gelöst und es gibt keine islamistischen Anschläge mehr. Das einzig Schreckliche, was dann von der Zeit Erinnerung bleibt, ist die Vorratsdatenspeicherung. Vielleicht.

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Teufelskreis
Jene Technologie, welche den gläsernen Menschen ermöglicht, ist auch die Voraussetzung für den "effektiven" Einsatz von Drohnen, die in "fernen Ländern" auf Menschenjagd gehen. Deren "Kollateralschäden" spielen wiederum den Islamisten in die Hände und bescheren ihnen regen Zulauf.

Natürlich haben die Drohnen den Jihad nicht erfunden, aber sie bereiten ihm auch kein Ende. Im Gegenteil. Und in der Zwischenzeit kooperiert der sogenannte Westen weiterhin mit totalitären Staaten wie Saudi Arabien, in denen das Auspeitschen und Töten Andersdenkender zum Alltag gehört.

Ziemlich beschissen, das Ganze, nicht?

Und im Hass vereint treffen sie sich dann alle zum medialen Wettrüsten auf den Plattformen der Social Media.

"Irgend jemand" ist man da immer.

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P. S.
Apropos "Charlie Hebdo" (und andere "Vorfälle"):

Früher war bei solchen Verbrechen von "Amokläufern" die Rede. Soweit mir bekannt ist, wurde dieser Begriff in den letzten Monaten von den Medien kein einziges Mal gebraucht.

Weil er "unzeitgemäß" ist oder weil die Schießereien in Frankreich, Australien und Dänemark nicht "in diese Kategorie fallen"?

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Amoklauf geschieht niemals im Namen von Politik oder Religion, sondern ganz allein aus persönlichen Gründen. Amokläufer sind außerdem Einzelkämpfer, bei IS ist dies definitiv nicht der Fall, sondern es handelt sich um eine Gruppierung, die sich sowohl geschickt der Medien als auch der überaus effektiven Vernetzung bedient.

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Danke für Ihre Antwort. Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen und ich kann es auch bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen.

Aber halt nur bis zu einem gewissen Punkt. Es beschäftigt mich nämlich die Frage, ob es nicht sein könnte, dass es unter den sogenannten religiös motivierten Attentätern nicht auch einige gibt, die Religion nur als Vorwand für das gewalttätige Ausleben persönlicher "Phantasien" nutzen. (Vor allem, wenn es um jene geht, die in Europa oder den USA aufgewachsen sind ... nicht nur, aber schon in erster Linie). Sadismus, Todessehnsucht, Lebensfeindlichkeit, Hass im Allgemeinen sind ja schliesslich nicht an bestimmte religiöse oder kulturelle Wurzeln gebunden.

Verstehen Sie, was ich meine?

Anders gefragt: War Breivik ein Amokläufer?

P. S. Die Rolle der Medien kommt noch hinzu, aber das wäre einen anderen Kommentar wert.

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Die Ansicht, dass Religion nur als Vorwand für das gewalttätige Ausleben persönlicher Fantasien genutzt wird, teile ich auf jeden Fall. Wobei es wichtig ist, den Bereich der Religion unbedingt um den der Politik zu ergänzen, denn es ist völlig unerheblich, ob die Gewaltbereitschaft eines Menschen religiös oder politisch bedingt ist. Sowohl der individuelle Amokläufer als auch der Dschihadist oder der Neonazi leiden an ihrem Dasein und machen dafür einzig und allein äußere Umstände verantwortlich.

Mohammed Atta, Andreas Baader, Beate Zschäpe, Anders Breivik – alles Menschen mit einer zerstörten Seele, die sich rigoros weigerten und weigern, die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leiden anzuerkennen. Schuldig sind grundsätzlich immer nur die anderen. Diese Weigerung geht dann tragischerweise Hand in Hand mit dem Allmachtstreben, sich zum Herrn über das Leben anderer zu machen.

Die politischen/religiösen Theorien mögen sich gravierend unterscheiden, dennoch besteht eine unverkennbare Gemeinsamkeit darin, das eigene Wertesystem für das einzig wahre zu halten und somit auch jedes Mittel zur Durchsetzung als berechtigt zu erachten. Was sowohl rechten als auch linken Gewalttätern gemeinsam ist, ist unverkennbar die autoritäre Charakterstruktur, die anderen Menschen das Recht auf Selbstbestimmung aberkennt. Dabei muss man sich davor hüten, sich beeindrucken zu lassen durch vermeintlich humanistische Anteile, die gern als Legitimation für Gewalt herhalten müssen.

Wer Gewalt gegen Menschen anwendet, der handelt immer zutiefst inhuman. Dies gilt für den Salafismus genauso wie für die RAF. Bei letzter fällt mir wieder ein ehemaliger Kollege ein, der sich stolz damit brüstete, „kurz davor gestanden zu haben, eine Waffe zur Hand zu nehmen“ um für die RAF zu kämpfen. Ein Mensch, der extreme Schwierigkeiten damit hat, dass nicht jeder gewillt ist, sich von ihm Ordern geben zu lassen und dessen Auftreten an das eines Obersturmführers erinnert. Gerade dies macht deutlich, dass es mitnichten um einen Kampf gegen staatliche Repression und soziale Ungerechtigkeit geht, denn der kann nur mit demokratischen Mitteln auf der Grundlage von Entwicklungsprozessen geführt werden. Nein - worauf es solchen Menschen einzig und allein ankommt, ist der Wunsch, der eigenen Person Geltung zu verschaffen. Es geht um kleine Jungen (manchmal auch um Mädchen), die die Trotzphase niemals wirklich überwunden haben. Irgendwann wird nicht mehr mit der Sandschaufel auf das Gegenüber eingeschlagen, sondern mit der Machete. Irgendwann reicht die Spielzeugpistole nicht mehr aus und wird durch eine Handgranate ersetzt.

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