Mittwoch, 23. Juni 2021, 16:14h

Identitätspolitik

behrens

Bis vor kurzem war mir der Begriff der Identitätspolitik überhaupt nicht geläufig. Aber inzwischen kommt man um diesen Begriff nicht herum. Das Merkwürdige an dem Begriff Identitätspolitik ist, dass er für etwas steht, das schon seit langem existiert und das auch schon seit ewigen Zeiten zur Politik dazugehört. Es geht um interessenspezifisches Engagement, das sich nicht nur in politischen Bewegungen, sondern oft auch in den einzelnen Ressorts der Ministerien widerspiegelt. Die Liste der einzelnen Gruppierungen ist lang: Frauen, Senioren, Behinderte, Menschen mit Migrationshintergrund, Homosexuelle etc.

Was ist dann eigentlich das Gegenteil von Identitätspolitik? Im Lexikon wird dies als Universalismus benannt, eine Überzeugung, die ihre Wert- und Zielvorstellungen grundsätzlich auf ausnahmelos alle Menschen bezieht. Das erklärt für mich allerdings immer noch nicht, warum in Diskussionen plötzlich ein Begriff zum Schlagwort wird, der vorher anscheinend durchaus verzichtbar war.

Was könnte ein Unterschied sein, zwischen dem schon seit langem selbstverständlich zur Politik gehörendem interessenspezifischen Engagement und der jetzt als politische Kategorisierung fungierenden Identitätspolitik? Gibt es das sogenannte "Große Ganze" nicht mehr und falls dies so ist, wodurch wurde es verdrängt? Was ist überhaupt das "Große Ganze"?

Mir fällt da spontan die Friedensbewegung der 80er Jahre ein. Als 400.000 (auch ich war da) Menschen auf dem Hamburger Rathausplatz gegen die Aufrüstung, bzw. den Nato-Doppelbeschluss demonstrierten. Mit der kleinen Einschränkung, dass einige linke Gruppierungen auch hier versuchten, das Thema zu instrumentalisieren, indem sie dem gänzlich bösen Westen einen gänzlich friedfertigen Osten gegenüberstellten, ging es dennoch tatsächlich um das universelle Thema des Weltfriedens, das ausnahmslos jeden betrifft.

Aber dann setzten grundlegende Veränderungen ein, denn durch das Ende des Kalten Krieges verlor aufgrund des Wegfalls der unmittelbaren Bedrohung das Thema Weltfrieden an Brisanz. Gleichzeitig gewann in der Parteienlandschaft die Partei der Grünen an Bedeutung, zu deren Hauptprogrammpunkten neben Umweltschutz auch Friedenspolitik gehörte - beides ganz klar übergeordnete universelle Themen, die ausnahmslos jeden Menschen betreffen. Weitere Themen waren auch die von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, wie eben Frauen, Homosexuelle, Behinderte, Migranten, Geringverdiener. Das Parteiprogramm war breit gefächert.

Hat sich diese Politik, die mittlerweile auch von anderen Parteien mehr oder weniger übernommen wurde, im Jahr 2021 geändert? Nein, es ist in erster Linie die Gesellschaft, die sich massiv verändert hat, indem für viele Minderheiten und Randgruppen entscheidende Verbesserungen erzielt wurden. Aber trotz einer erheblich veränderten Gesellschaft ignoriert die Politik hartnäckig alle Veränderungen, so als würden wir uns nach wie vor in den 80ern befinden. Dabei haben sich allerdings die Prioritäten der Wichtigkeit einzelner Probleme eigenartig verschoben, indem bestimmte gesellschaftliche Probleme nahezu ausgeblendet werden.

Was sich seit den 80ern tatsächlich verändert hat, ist die besorgniserregende Zunahme sozialer Verelendung mit existenzieller Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung. Ebenso haben Drogenkonsum und psychische Erkrankungen zugenommen. Und es gibt inzwischen einen religiösen Fundamentalismus, durch den das bisher als selbstverständlich definierte Recht auf freie Meinungsäußerung entscheident bedroht wird. Auch schon seit längerem gibt es eine erschreckende Zunahme an Gewalt und organisierter Kriminalität, die schon längst nicht mehr auf Rotlichtviertel beschränkt ist, sondern sich auch in Schulen und in Wohngebieten rasant ausbreitet (Erst vor ein paar Tagen geschah mal wieder ein Mordanschlag in meinem Viertel).

Aber so besorgniserregend diese Entwicklung auch sein mag, fokussiert werden andere Themen. So vergeht kein Tag, an dem nicht irgendjemand öffentlich angeprangert wird, weil er angeblich eine Minderheit beleidigt oder einen nicht gendergerechten Satz von sich gegeben hat. Und es bleibt nicht beim Anprangern, sondern es wird möglichst gleich "gecancelt" (auch so ein neuer Begriff) und der Betreffende verliert seinen Job. Erstaunlicherweise wird dabei erbittert an einem Bild festgehalten, das alle in den letzten vierzig Jahren erfolgten Veränderungen strikt ausblendet. Eine nicht gegenderte Anrede wird als Bestätigung der Entrechtung und Benachteiligung von Frauen eingestuft - ungeachtet der Tatsache, dass wir seit sechzehn Jahren eine Frau an der Führungsspitze haben. Ein Witz über spezielle Toiletten für Diverse wird ebenfalls als Angriff auf das Existenzrecht von queeren Menschen angesehen - ungeachtet der Tatsache, dass in Deutschland Homosexualität keinen Hinderungsgrund mehr darstellt, um das Amt eines Ministers oder Bürgermeisters zu bekleiden. Auch Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht mehr ausschließlich im untersten Lohnsektor tätig, sondern schlagen eine akademische Laufbahn ein, arbeiten auch in qualifizierten Berufen und sind auch in der Politik vertreten.

Aber Minderheit bleibt anscheinend immer Minderheit und es kommt offenbar nicht darauf an, was jemand tut oder welche Ansicht er vertritt, sondern welcher gesellschaftlichen Gruppe er angehört. Und genau das ist es, was kennzeichnend für Identitätspolitik ist: die Identität wird zum Politikum und zum alles entscheidenden Kriterium für die Bewertung einer Handlung. Das verbindende Ganze tritt in den Hintergrund zu Gunsten einer Aufspaltung in Gruppen und Grüppchen, in der Menschen sich zunehmend ausschließlich für die Gruppe einsetzen, der sie selbst angehören. Kombiniert wird dies dann noch mit einer völligen Verweigerung von Selbstkritik, so dass Auseinandersetzungen zwangsläufig in eine Sackgasse manövrieren.

Hat das Thema Identitätspolitik eigentlich etwas mit Sozialarbeit zu tun, denn immerhin ist dies ja das ursprüngliche Thema meines Blogs? Es hat nicht nur etwas damit zu tun, sondern es bildet den Rahmen für Sozialarbeit. Denn auch die aktuelle Sozialarbeit hat schon seit längerem die übergreifenden sozialen Themen aus den Augen verloren und setzt den Fokus auf unbedingte Akzeptanz einer sich immer weiter aufspaltenden Gesellschaft der Einzelinteressen.

Egozentrik ist ein unverzichtbarer Baustein des Neoliberalismus. Aber das ist ein anderes Thema...

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So ganz anders ...
... scheint mir das Thema nicht zu sein. Frage mich gerade, ob man die oben beschriebenen Auswüchse nicht vielleicht als "kollektiven Egozentrismus" bezeichnen könnte. Ok, das mag ein Widerspruch sein aber jede "identitäre Gruppe", so gross oder klein sie auch sein mag, scheint ja auch vorrangig mit sich selbst beschäftigt zu sein, also den eigenen Bauchnabel für das Zentrum der Welt zu halten. Aber gut, nur so ein Gedanke ...

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Stimmt, der Ausdruck "kollektiver Egozentrismus" ist nicht schlecht. Man würde zwar zuerst denken, dass die Begriffe"kollektiv" und "egozentrisch" nicht zusammenpassen, aber bei der Identitätspolitik trifft es auf merkwürdige Weise zu. Es geht eigentlich nur um die spezifische persönliche Problematik. Man tut sich dann mit Gleichgesinnten zusammen und definiert sich ausschließlich über eine gemeinsame Gruppenspezifik.

So wie es im Nationalismus immer nur um das eigene Volk geht und in manchen Religionen immer nur um die eigene (einzig wahre) Religion, so geht es hier auch nur um die eigene Gruppe. Und hierbei wird auch die Erfordernis eines Feindbildes deutlich. So wie im Nationalismus andere Nationen als Feinde eigestuft werden und in manchen Religionen Andersgläubige nur als feindlich gesinnt angesehen werden, so wird auch bei der Identitätspolitik jede Abweichung von der eigenen Gruppenideologie als feindlich eingestuft. So kommt es dann zu einer Cancelkultur in der im Extremfall sogar Bücher verbrannt werden (wie bei J.K. Rowling).
Wirklich ein gutes Beispiel, vielen Dank!

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