Sonntag, 19. Juli 2020, 18:19h

Denunziation – eine Begebenheit, die mich auch nach Jahren noch nachdenklich macht

behrens

Vor einigen Jahren gab es ein Ereignis, das mich auch jetzt noch beschäftigt, wenn es um das Thema Arbeitsbedingungen und Solidarität geht. Ich möchte dies hier bewusst neutral schildern, da es mir nicht darum geht, konkret einen bestimmten Arbeitsplatz zu beschreiben, sondern vielmehr darum, eine Haltung zu thematisieren, auf die man in der Arbeitswelt immer wieder trifft und bei der ich mich zunehmend frage, ob es sich dabei nicht um ein typisch deutsches Problem handelt.

Bei dem besagten Ereignis geht es um eine Mitteilung, die eines Tages alle Mitarbeiter meines früheren Arbeitsplatzes erhielten. Es wurde darüber informiert, dass sich der Gesellschafter aufgrund jahrelanger anhaltender Unzufriedenheit der Mitarbeiter mit der Firmenleitung dazu entschloss, den Mitarbeitern die Möglichkeit der Beschwerde zu geben. Für mich ungewöhnlich war daran, dass hierfür extra über zwei Wochen eine durch externe Mitarbeiter geführte Beschwerdestelle vor Ort eingerichtet wurde. Es wurde schriftlich sowohl Anonymität zugesichert als auch die unbedingte Garantie, dass niemand durch Aussagen einen Nachteil erleiden würde.

Das Angebot der Beschwerde wurde überaus rege in Anspruch genommen, immer wenn man an der Beschwerdestelle vorbeikam, sah man Kollegen auf den Wartebänken sitzen. Da ich noch nicht lange in der Firma beschäftigt war und keine negativen Erfahrungen hatte, sah ich allerdings keinen Grund, an der Befragung teilzunehmen. Aber als ich dies im Kollegenkreis erzählte, wurde appelliert, es unbedingt zu tun. Ich erinnere auch noch die Argumentation: „Es ist wichtig, dass jeder von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, weil wir jetzt endlich mal gefragt werden“. Ich ließ mich dann überreden und nahm an der Befragung teil, wobei ich allerdings nur neutrale Angaben machte. Die Firmenleitung wurde zeitgleich freigestellt und setzte nie wieder einen Fuß in die Firma.

Im nachherein frage ich mich, was eigentlich davon zu halten ist, wenn einerseits ein jahrelanger Zustand sehr großer und anscheinend berechtigter Unzufriedenheit unter Mitarbeitern besteht, aber es andererseits erst eines offiziellen Aufrufs zur Beschwerde bedarf, damit die Mitarbeiter aktiv werden. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich mich nicht sehr wohl dabei fühlte, einem Aufruf zur Beschwerde Folge geleistet zu haben. Damals wie heute kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, bei einer Denunziation mitgemacht zu haben.

Wenn das Handeln einer Firmenleitung tatsächlich nicht den arbeitsrechtlichen Vorschriften entspricht, sondern durch Willkür bestimmt ist, dann hätte es auch mit Sicherheit diverse Möglichkeiten gegeben, sich dagegen zu wehren. Natürlich kann ein Einzelner gegen eine rechtlich unbegründbare Kündigung nur wenig tun, aber in dem Moment, in dem sich zumindest ein paar Kollegen solidarisieren, wird sich jede Firmenleitung überlegen, ob sie ihr Vorhaben durchzieht, weil dies unweigerlich große Unruhe und Imageverlust zur Folge hätte. Zumal es sich bei dem besagten Arbeitsplatz nicht um eine amerikanische Fastfood-Kette handelt (bei der wäre so ein Vorgehen natürlich schwierig) sondern um eine Einrichtung mit gemeinnützigem Hintergrund. In diesem Fall ist auch die Möglichkeit des Einschaltens der Presse nicht unmöglich, da es der Öffentlichkeit nicht völlig gleichgültig ist, wie mit Steuergeldern unterstützte Betriebe arbeiten.

Meine Einstellung wird sicher von einigen als naiv und blauäugig abgetan werden. Und so ganz ist das auch nicht von der Hand zu weisen, da Solidarität in Deutschland nicht unbedingt als Kardinalstugend gilt. Aber wer sich ein wenig mit Sozialgeschichte beschäftigt, weiß, dass unsere Arbeitsschutzgesetze nicht vom Himmel fielen, sondern durch Solidarität erstritten wurden (und nicht durch offizielle Erlaubnis zur Beschwerdeeinlegung).

Wenn man einen Blick nach Frankreich wirft (was ich oft tue), dann sieht man, dass Ducken und Kuschen keine Naturgesetze sind, sondern es durchaus Alternativen gibt. Ein deutliches und erstaunliches Beispiel: In Frankreich gibt es seit 1950 (!) einen Mindestlohn, in Deutschland seit 2015!

Und wie bereits gesagt, ich fühle nach wie vor einen bitteren Beigeschmack, wenn ich an meine Teilnahme an einer von oben veranlassten Beschwerdeaktion denke. Es hat etwas Klägliches, wenn Menschen erst auf die Erlaubnis warten, um sich beschweren zu dürfen.

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