Sonntag, 31. Oktober 2010, 18:05h

Vergewaltiger sollen keine Menschenrechte haben?

behrens

Dieser Satz – nur mit Ausrufungs- statt Fragezeichen - stand auf einem Schild, das von einer Anwohnerin demonstrativ in die Kamera gehalten wurde, als vor einigen Monaten der aus der Sicherungsverwahrung entlassene Gewaltverbrecher Hans W. in ihrer Nachbarschaft eine Wohnung beziehen wollte. Dazu kam es aber gar nicht erst, denn es wurde eine regelrechte Hatz veranstaltet, die dazu führte, dass Hans W. danach in verschiedenen Wohnungen untergebracht werden musste.

Hans W. war 30 Jahre in Sicherheitsverwahrung, als er durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs quasi von einem Tag auf den anderen entlassen und ihm eine Wohnung zugewiesen wurde, deren Adresse dann durch die Presse an die Öffentlichkeit drang. Dadurch kam es dann zu der geschilderten Reaktion der Anwohner.

Ich bin weit davon entfernt, das von den Strafverteidigern regelmäßig heruntergeleierte Plädoyer von der schlimmen Kindheit anhören zu wollen. Mir geht es genau wie den meisten Menschen – ich kann es nicht mehr hören, wenn man versucht, in den Strafverfahren Täter zu Opfern zu machen.

Aber dennoch hat mich die Reaktion der Anwohner schockiert. Nicht nur weil die betreffende angemietete Wohnung genau bei mir um die Ecke lieg, sondern weil es anscheinend nur zwei Reaktionen gibt: entweder „Rübe ab“ oder aber „er ist doch selbst ein Opfer“. Ist es wirklich so überflüssig, sich endlich mal darüber Gedanken zu machen, wie man Gewaltverbrechen präventiv verhindert? Ich wiederhole nochmal: präventiv. Das, was man machen muss, bevor jemand Gewalttäter wird.

Wie wird jemand Gewalttäter? Auf Vermittlung des Anwalts wurde jetzt ein Interview mit der Hamburger Morgenpost gemacht. Liest man dieses Interview, dann ist die Frage schnell beantwortet: ein alkoholabhängiger Vater, der seinen Sohn regelmäßig misshandelte – manchmal sogar mit der Hundepeitsche. Irgendwann hat sich das Blatt gewendet und der Geschlagene wurde selbst zum Schläger.

Hat dies übrigens auch etwas mit dem Thema Betreuung zu tun? Ja! Ich bekomme durch meine Arbeit Einblick in Familien, in denen alles fehlt, was ein Kind braucht, um eine normale Kindheit und eine normale Entwicklung zu haben. Das fällt auch der Außenwelt irgendwann auf und es werden als geeignet empfundene pädagogische und soziale Hilfen angeboten. Hier eine pädagogische Betreuung – dort eine rechtliche. Hier ein Familienhelfer – dort eine pädagogische Frühforderung. Hier eine Ergotherapie – dort eine ambulante Psychotherapie. Und dann irgendwann eine stationäre psychiatrische Behandlung und eine stationäre pädagogische Wohngruppe. Und dann endet es irgendwann in Jugendhaft, die dann wiederum im regulären Strafvollzug endet.

Und aus einem traurigen Anlass (eigentlich sogar zwei Anlässe) innerhalb meiner aktuellen Arbeit heraus wage ich es jetzt zu sagen: Manchmal muss ein Kind früher aus einer Familie herausgenommen werden! Wenn Familien völlig unfähig sind, ein Kind gesund und liebevoll umsorgt aufwachsen zu lassen, dann reichen ambulante Hilfen nicht mehr. Die Einsicht in die Biographien von Gewalttätern machen dies mehr als deutlich.

Alles, was diese Gesellschaft an Reaktion auf die zunehmende Gewalt parat hat, ist der Ruf nach härterer – möglichst lebenslanger – Bestrafung. Damit macht man aber die Opfer nicht wieder lebendig. Und vor allem: man schützt auch nicht all diejenigen, die irgendwann einmal zu Opfer werden.

Es gibt eine Dokumentation über den Kindermörder Jürgen Bartsch, der in den 60er Jahren vier kleine Jungen bestialisch ermordet hat. Der Film gibt einen Einblick in eine Tragödie in ihrem gesamten Ablauf. Auch Alice Miller hat in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ ausführlich die Biographie von Jürgen Bartsch geschildert. Während des Studiums habe ich sowohl den Film als auch das Buch eingehend durchgenommen. Wie viele andere Studenten auch. Aber dabei ist es geblieben. Man weiß über eine Ursache. Aber man tut nichts dagegen. Ich auch nicht.

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Mittwoch, 29. September 2010, 19:56h

Locked-in-Syndrom – Schmetterling und Taucherglocke

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Jean-Dominique Bauby erlitt im Alter von 43 Jahren einen schweren Schlaganfall, der so starke Schädigungen verursachte, dass eine komplette Lähmung die Folge war, die auch das gesamte Sprachvermögen zerstörte. Kommunikation war nur noch durch das Blinzeln des linken Auges möglich. Diese schwere Erkrankung wird als Locked-in-Syndrom bezeichnet.

Locked-in – also das Eingeschlossen-Sein im eigenen Körper – bedeutet die vollständige Abhängigkeit von der Versorgung durch die Umwelt in Verbindung mit dem Fehlen der Möglichkeit der Mitteilung. Gleichzeitig erlebt der Erkrankte diese Situation bei vollem Bewusstsein. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Qualen dieser Zustand beinhaltet.

Jean-Dominique Bauby hatte allerdings trotz seiner völligen Lähmung noch eine Möglichkeit der Kommunikation. Durch das Blinzeln des linken Auges konnte er noch Zustimmung ausdrücken. Wenn ihm von seiner Logopädin ein Alphabet vorgelesen wurde, konnte er durch Blinzeln bei einem Buchstaben Wörter buchstabieren. Das Alphabet war speziell für diese Kommunikation abgeändert, indem es auf die Häufigkeit der Buchstaben aufbaute. Und obwohl diese Form der Kommunikation von beiden Seiten enorme Geduld und Konzentration erfordert, fasste Bauby den Entschluss, ein Buch zu schreiben, das nach etwa einem Jahr veröffentlicht und 10 Jahre später mit dem Titel „Schmetterling und Taucherglocke“ auch verfilmt wurde.

Und eben dieses Buch und dieser Film ermöglichen den Einblick in die Gefühlswelt eines Menschen, dem jede Äußerung und Mitteilung sprachlicher oder körperlicher Form versperrt ist. Diese extreme Form der Erkrankung, die es für die Umwelt nahezu unmöglich macht, mit dem Kranken in Verbindung zu treten, wurde durch den eisernen Willen von Bauby und seiner Logopädin gewissermaßen „ausgetrickst“.

Nur drei Tage nach Erscheinen des Buches im Jahr 1997 verstarb Bauby an Herzversagen. Viele Menschen, die Erfahrung im Umgang mit Schwerkranken haben, machen immer wieder die Erfahrung, dass viele Menschen erst dann sterben, wenn sie bewusst loslassen. Und oftmals kann dieses Loslassen erst dann eintreten, wenn ein bestimmtes Ereignis oder Erwartung erfolgt ist. So wie etwa eine Aussprache oder Klärung mit einem nahestehendem Menschen. Oder auch die Geburt eines Enkels oder ein langersehntes Wiedersehen mit einer geliebten Person.

Ich kann mir vorstellen – auch wenn dies reine Spekulation ist – dass auch bei Bauby ein Loslassen erst möglich war, nachdem er sich seiner Umwelt mitgeteilt hat. Das Buch war für ihn ein Heraustreten aus der Sprachlosigkeit. Eine Möglichkeit, wieder in Verbindung zu seinen Mitmenschen zu treten.

Eines der ersten Worte, das Bauby gleich zu Beginn des Kontakts mit der Logopädin formulierte, war das Wort „Sterben“. Und eindruckvoll war die Reaktion der Logopädin hierauf, die nicht etwa rational-verständnisvoll reagierte, sondern höchst subjektiv und emotionell – meine Kollegen würden dies wahrscheinlich als unprofessionell bezeichnen – ihre Entrüstung ausdrückte. Eben dies hat dazu geführt, dass Bauby nicht aufgab, sondern den Entschluss des Schreibens eines Buches fasste.

Eine einfühlsame Logopädin, der das Leben eines Menschen sehr viel bedeutet und ein Schwerkranker, der dadurch wieder Mut zum Leben fasste. Und der eben deshalb die Möglichkeit der Mitteilung seiner selbst erhielt. Dadurch konnte weder die Erkrankung geheilt werden noch wurde letztendlich der frühe Tod verhindert. Aber darum ging und geht es nicht. Jemandem wurde ein menschenwürdiges Sterben ermöglicht. Ein Sterben nicht in Isolation und Einsamkeit, sondern in der Möglichkeit des Austauschs und des Miteinanders.

Montaigne schreibt „Ich kann mir keinen Zustand denken, der mir unerträglicher und schauerlicher wäre, als bei lebendiger und schmerzerfüllter Seele der Fähigkeit beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen“. Besser kann man die Situation eines Locked-in-Erkrankten nicht ausdrücken. Und besser kann man nicht darauf hinweisen, was ein Schwerkranker so dringend benötigt – jemanden, sich die Mühe macht, seine Situation nachzuempfinden und der ihm dabei hilft, sich Ausdruck geben zu können. Dann kann vielleicht auch ein würdiges Sterben möglich sein.

Siehe auch "Bis auf den Grund des Ozeans" von Julia Tavalaro und "Locked-In-Syndrom und große Liebe"

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Dienstag, 17. August 2010, 22:49h

Der Tod der kleinen Lara II - der Ruf nach Bestrafung

behrens

Eben gerade habe ich die Berichterstattung über die Gerichtsverhandlung im Fall des tragischen Todes der kleinen Lara aus Wilhelmsburg angesehen. Vor 1 1/2 Jahren wurde Lara so von ihren Eltern vernachlässigt, dass sie an Unterernährung starb.

Diesmal ging es nicht um die Eltern, die bereits vor einiger Zeit Bewährungsstrafen (2 Jahre für die Mutter, 9 Monate für den Stiefvater) erhalten haben, sondern diesmal ging es um die pädagogische (keine rechtliche) Betreuerin, für die vom Staatsanwalt eine Geldstrafe in Höhe von 2.700,00 € per Strafbefehl gefordert wurde. Die Betreuerin nahm nicht an der Verhandlung teil; ihr Anwalt schilderte, dass sich seine Mandantin sehr viele Vorwürfe über Laras Tod machte und sich deswegen seit einem Jahr in psychologischer Behandlung befindet. Ihre Verfassung sei so schlecht, dass sie nicht in der Lage sei, an der Verhandlung teilzunehmen.

Bei der Verhandlung waren auch Angehörige von Lara dabei. Mit einigem Entsetzen habe ich deren empörte Reaktion auf das ihrer Meinung nach viel zu geringe Strafmaß vernommen: „Das kann doch nicht wahr sein, dass die Betreuerin einfach so davonkommt. Wir haben immer wieder bei der Behörde angerufen. Die Betreuerin lacht sich jetzt doch eins.“ Wie können Menschen so dumpf und gedankenlos sein, davon auszugehen, die Betreuerin würde sich jetzt "eins lachen"?

Wir haben immer wieder angerufen“ – wieso haben die Verwandten, die jetzt nach harter Bestrafung der Betreuerin schreien, es beim Anrufen belassen? Wenn man mitbekommt, dass ein Kind in der Familie unterversorgt ist, reicht es nicht, anzurufen. Wenn einem das Kind wirklich etwas bedeutet, dann greift man ein und hilft ihm.

Mag sein, dass man mir jetzt Einseitigkeit vorwerfen kann, da ich als Betreuerin nicht nur die Situation des Kindes sehe, sondern auch meine potentielle eigene Situation. Aber manchmal kann ich es einfach nicht mehr ertragen – dieses entrüstete Fingerzeigen auf die Anderen. Dies Verantwortlichmachen aller und jeder – ausgenommen der eigenen Person. Die Anderen sollen sich kümmern, die anderen sollen die Verantwortung tragen. Institutionen, Sozialarbeiter, Betreuer – auf keinen Fall sind die tatsächlichen Angehörigen mitverantwortlich.

Es gibt für Betreuer immer eine schmale Gratwanderung zwischen zwei Vorwürfen. Der eine Vorwurf ist der des sich nicht genug Kümmerns. Der andere Vorwurf ist der des sich zuviel Kümmerns, der blitzschnell auch in den Vorwurf der Entmündigung gipfeln kann. Wer dafür eintritt, dass man Kinder, deren Eltern in keiner Weise fähig sind, ihre Kinder zu versorgen, in eine Pflegefamilie oder gar zu Adoptiveltern gibt, der muss sich die schlimmsten Vorwürfe anhören. Dabei wäre dies genau das, was für das Kind – und um das geht es ja – das Beste wäre. Wenn man Kinder bei solchen Eltern wie die der kleinen Lara belässt, dann ist die Vorstellung einer hundertprozentigen Sicherheit im Sinne einer ausreichenden Versorgung und Erziehung reine Augenwischerei.

Zur Zeit gibt es ja eine lebhafte Diskussion über den Vorschlag von der Leyens, die mittellosen Familien Bildungsgutscheine für Eltern zukommen lassen will, anstatt den Regelsatz zu erhöhen. Das wird mit Schlagworten wie „Entmündigung“ und „Diskriminierung“ gekontert, denn man solle doch den Eltern so viel Vertrauen entgegenbringen, dass man sie selbst das Geld ausgeben lässt. Aber wenn Eltern noch nicht einmal in der Lage sind, sich ausreichend um die Ernährung ihrer Kinder zu kümmern, dann werden sie wohl kaum in der Lage sein, sich ausreichend um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern. Man muss die Entscheidung fällen, was mehr wiegt: das Selbstbestimmungsrecht der Eltern oder aber die Rechte der Kinder.

Im Falle von Lara haben alle versagt – Eltern, Verwandte, Nachbarn, Behörden, Betreuerin, Politiker. Lara musste sterben, weil sie Eltern hatte, die nicht in der Lage waren, Eltern zu sein. Weil auch ambulante Hilfen in so einer Situation nicht unfehlbar sind. Weil die Verwandten es dabei beließen, Anrufe zu tätigen. Weil die Nachbarn wegsahen. Weil es Gesetze gibt, die nicht das Kindeswohl, sondern das Elternwohl in den Mittelpunkt stellen. Weil in unserer Gesellschaft die Gruppe derer, die nicht in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen, immer größer wird. Und letztendlich: weil niemand sich Gedanken darüber macht, wie es zu so einer Entwicklung gekommen ist.

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Sonntag, 11. April 2010, 19:59h

Die Missbrauchsfälle in den katholischen Einrichtungen – dort und anderswo Wegsehen als Lebensstrategie

behrens

Es hört einfach nicht auf – das Bekanntwerden immer neuer Fälle von Missbrauch in katholischen Erziehungseinrichtungen. Hoffentlich wird dies endlich zu der längst überfälligen Diskussion und Reformierung des Umgangs mit Sexualität führen. Und hoffentlich wird man es nicht bei der Bitte um Verzeihung belassen, denn die wird den zukünftigen Schülern überhaupt nichts nützen. Nur das Verändern von Strukturen und Richtlinien wird etwas bewirken können.

Aber mir jetzt es an dieser Stelle nicht um die Thematisierung der dem Missbrauch zugrunde liegenden speziellen Thematik – Zölibat, Machtgefälle und klerikale Strukturen. Mir geht es um etwas, das mich fast ebenso wie der eigentliche Missbrauch schockiert. Mir geht es darum, dass zweifellos und konsequent weggesehen wurde. Ohne diesen Umstand hätte Missbrauch in diesem Ausmaß nicht jahrelang bestehen können.

Es gibt nicht nur Täter und Opfer, sondern auch noch jede Menge Menschen drum herum: Kollegen, Mitschüler, Untergebene, Vorgesetzte, Nachbarn, Besucher, Freunde, Familienangehörige, Besucher e.t.c. Wie ist es möglich, dass Massen von Menschen über Jahrzehnte lang nichts gesehen haben? Das ist eben nicht möglich. Denn es gibt nicht nur die Tragödie im Stillen, sondern auch jede Menge Zuschauer. Aber eigentlich ist Zuschauer nicht das richtige Wort. Besser passt: Wegschauer. Und so wie die Tragödien in den Theatern ihre Zuschauer haben, haben die Tragödien im alltäglichen Leben ihre Wegschauer.

Es kann kein Unrecht geschehen, ohne dass nicht irgend jemand darüber hinwegsieht und schweigt. Und das ist nicht auf Kindesmissbrauch beschränkt sondern auf jedes Unrecht.

Und dass ich mich zu dieser Thematik hier in meinem Betreuerblog äußere, ist auch nicht ohne Bezug zu meiner Arbeit. Denn eben dieses hartnäckige und konsequente Wegsehen hat die Betrügereien in dem Betreuungsverein, in dem ich zwei Jahre arbeitete, möglich gemacht. Und obwohl ich Kindesmissbrauch als sehr viel folgenschwerer und tragischer ansehe als finanziellen Betrug, ist die Grundproblematik die Gleiche: Macht wird zum eigenen Vorteil missbraucht und es wird profitiert davon, dass es sich um Abhängige – denn das sind Betreute nun mal – handelt, die sich nicht wehren können. Und dies wird erst ermöglicht durch das verlässliche Wegschauen aller Mitwisser.

Ich kann nichts über die Menschen sagen, die stillschweigend dem Missbrauch von Kindern zugesehen haben. Aber ich kann sehr wohl etwas über das stillschweigende Mitansehen meiner Kollegen und mir aussagen. Da gibt es zwei, drei unterschiedliche Typen von Wegsehern. Dem ersten ist es schlichtweg schnurz-piepe-egal und falls die Betrügereien doch einmal erwähnt werden, dann wird nur dumpf mit den Schultern gezuckt und lakonisch geantwortet „Is’ doch nicht mein Problem, ich mach’ das wofür ich bezahlt werde“. Im Gegensatz zu diesem Typus verursachen dem zweiten Typus die Missstände Magenschmerzen. Aber dabei bleibt es dann auch. Es wird zwar versucht, durch viel Einsatz für die Betreuten einen Ausgleich zu schaffen, aber es wird weiterhin tatenlos zugesehen, wie Menschen Schaden zugefügt wird.

Ach ja, und zu dem dritten Typus rechne ich mich selbst. Ich habe zwar meinen damaligen Chef lautstark die Meinung gesagt, aber genau wie bei dem Magenschmerztypus blieb es dann dabei. Ich bin weder zur Polizei, noch zur Presse gegangen, noch habe ich umgehend (sondern erst zwei Jahre später) gekündigt. Stattdessen werde ich hier wohl bis ans Ende meiner Tage in diesem Blog oder auch auf meiner Homepage schreiben um damit mein schlechtes Gewissen und meine Verbitterung in den Griff zu bekommen.

Und wie reagieren eigentlich Typus 1 und 2 in der Retrospektive auf das Geschehene? Beim Typus 1 ist es klar: der wiederholt weiterhin stereotyp seinen Satz „Is’ doch nicht mein Problem, ich hab’ das gemacht, wofür ich bezahlt wurde“ – zu einer differenzierteren Sichtweise wäre er auch gar nicht in der Lage. Typus 2 lässt sich zwar nicht zu solchen Dumpfheiten hinreißen, aber würde auch nie den Gedanken an eine Aufarbeitung haben. Stattdessen konstruiert er jedes nur erdenkliche Argument für mildernde Umstände und kontert vehement damit, dass man selbst auch nicht ohne Tadel ist. Damit hat er zweifellos auch Recht, nur ist dies eine mehr als faule Ausrede, um sich vor der Auseinandersetzung mit der Übernahme von Verantwortung zu drücken.

Und wenn man jetzt von der speziellen, jeweils sehr unterschiedlichen Problematik des Wegsehens übergeht zur exemplarischen Problematik des Wegsehens, die für alle Bereiche des täglichen Lebens gleichermaßen gilt, dann sollte man jetzt endlich mal das tun, was schon lange getan hätte werden müssen: sich zu der eigenen Feigheit bekennen. Das ist das Mindeste, was man den Geschädigten schuldig ist. Anstatt sophistisch ausgeklügelte Rechenschaftsargumente zu konstruieren sollte man schlicht und einfach nur eins sagen:

Mea culpa – ich bin schuldig!

Wer Unrecht duldet, stärkt es.
Willy Brandt

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Freitag, 26. März 2010, 07:03h

Krisensituation in der Jugendwohngruppe

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Vor ein paar Tagen kam es in der Jugendgruppe, in der mein Freund als Erzieher arbeitet, zu einer Schlägerei zwischen zwei Jugendlichen. Einer der beiden Jugendlichen ist dunkelhäutig und wurde bei einem Streit von dem anderen mit dem Ausdruck "Nigger" beschimpft. Dieser Jugendliche geriet dann so in Rage, dass er ein Messer holte und auf den anderen losging. Mit viel Mühe gelang es meinem Freund, die beiden zu trennen.

Am nächsten Morgen nahm sich mein Freund jeden der beiden Jugendlichen einzeln vor. Dem dunkelhäutigen Jugendlichen erklärte er, dass er zu Recht über die Beleidigung aufgebracht war, aber dies noch kein Grund sei, mit einem Messer auf den anderen loszugehen. Zu dem anderen Jugendlichen sagte er, dass der Grund für dessen Wut – die Tatsache, dass der andere sich überhaupt nicht an den Gemeinschaftsarbeiten beteiligte – zwar berechtigt sei, aber dennoch Ausdrücke wie Nigger oder Bimbo im Haus absolut verboten seien. Wenn andere Schimpfwörter in einem Streit genannt werden, würde sich keiner darüber aufregen, aber rassistische Beschimpfungen sind in der Jugendwohngruppe absolut tabu.

Zwei Dinge fallen mir auf, wenn ich mir diese Situation näher ansehe. Den beiden Jugendlichen hatte es anscheinend sehr imponiert, dass mein Freund sich allein der Auseinandersetzung gestellt und weder Vorgesetzte noch die Polizei geholt hatte. Ich möchte unbedingt betonen, dass ich es für absolut legitim halte, in einer bedrohlichen Situation Hilfe von Dritten zu holen. Aber wenn man in der Lage ist, es auch allein durchzustehen und auf fremde Hilfe verzichten kann, ist die Auseinandersetzung eine andere. Man stellt sich dem anderen Kraft seiner Person entgegen und nicht im Schlepptau von Autoritäten. Dadurch verläuft die Konfrontation Auge in Auge und nimmt den anderen als Gegenüber ernst. Und eben das macht eine wirkliche Auseinandersetzung erst möglich.

Ich habe in der letzten Zeit oftmals Auseinandersetzungen erlebt, in denen es nur darum geht, einen Konflikt möglichst schnell und ohne viel Aufwand zu beenden. Erklärtes Ziel: Zeit sparen, die eigenen Positionen durchdrücken und sich zum Herrn über die Situation machen. Die meisten meiner Berufskollegen würden es sicherlich höchstens zwei Tage in einer Jugendwohngruppe aushalten. Jugendliche lassen sich nicht durch eine berufliche Position beeindrucken. Und mit autoritärem Gebaren zieht man meist den Kürzeren. Für die Auseinandersetzungen mit Jugendlichen muss man sich Zeit nehmen und es geht dabei um einen Lernprozess und nicht um Machtanspruch. Und mit dem Zeitsparprinzip kann man bei Jugendlichen sehr schnell auf den Bauch fallen.

Das zweite, was mir auffällt, ist die Tatsache, dass von Jugendlichen erwartet wird, rassistische Äußerungen zu unterlassen und es kann für die Jugendlichen heftige Konsequenzen haben, wenn dies nicht befolgt wird. Rassistische Äußerungen gibt es auch unter Betreuern. Allerdings gibt es eine Art ungeschriebens Gesetz, dies höflich zu überhören und auf keinen Fall anzusprechen. Hält man sich nicht daran, muss man sich Unkollegialität und Schädigung des Ansehens unseres Berufsstands vorwerfen lassen. Es macht nachdenklich, dass man von Jugendlichen die Auseinandersetzung mit dieser Thematik erwartet während man bei Betreuern nicht die geringste Veranlassung für eine Thematisierung sieht.

Alles in allem zwei Arbeitsbereiche, die verschiedener nicht sein könnten. Die sehr verschiedene Menschen anziehen. Und auch sehr verschiedene Menschen hervorbringen.

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Samstag, 20. März 2010, 01:01h

Das Milgram Experiment in neuer Auflage – man kann alles noch steigern

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Wahrscheinlich kennen viele das Milgram-Experiment. Der Psychologe Stanley Milgram hat in den 60er Jahren ein Experiment durchgeführt, in dem er die Gehorsamkeitsbereitschaft untersuchen wollte. Er hat dabei Probanden angewiesen, ein Schaltpult zu bedienen, mit dem Stromstöße in Versuchspersonen geleitet wurden. Bei den Versuchspersonen handelte es sich jedoch um Schauspieler, die die Schmerzreaktionen nur vortäuschten. Dies allerdings je nach simulierer Stromstärke äußerst überzeugend. Das Ergebnis war mehr als erschütternd, denn viele der Versuchspersonen hatten keine Skrupel, Menschen Schmerzen zuzufügen, wenn ihnen von einer Autoritätsperson immer wieder gesagt wurde, dass dies seine Ordnung hätte. Das Gewissen wurde gewissermaßen abgegeben oder besser gesagt: delegiert an eine Autoritätsperson.

Jetzt wurde in Paris dieses Experiment wiederholt. Allerdings nicht auf wissenschaftlicher Grundlage, sondern als Reality-show vor Publikum in Form eines Quiz, bei dem für falsche Antworten Stromschläge erteilt wurden. Bilanz: wie damals waren fast alle Kandidaten (81 %) bedingungslos gehorsam und hatten keinerlei Gewissensbisse.

Der Unterschied des ersten wissenschaftlichen Experiments und der jetzigen öffentlichen Vorführung bestand in Anwesenheit eines Publikums. Und wie war dessen Reaktion? Niemand stoppte den Gewaltexzess und die Kandidaten wurden auch noch angefeuert.

Es gibt wohl nicht allzu viele Erklärungen für die Beweggründe des Produzenten Christophe Nicks – wahrscheinlich einfach nur die der hohen Sendequoten und der Medienwirksamkeit. Also kein zweiter Stanley Milgram, der sich sehr intensiv und ausgiebig mit dem Thema Autoritätsgläubigkeit im Hinblick auf die Verbrechen des Nationalsozialismus beschäftigt hat. Aber dennoch – die Reaktion wäre mit Sicherheit auch bei einem erneuten Experiment unter wissenschaftlichen Bedingungen nicht viel anders ausgefallen.

Und dies ist das Besorgniserregende. Ich habe das Milgram-Experiment ausgiebig in meiner Schulzeit im Soziologieunterricht behandelt. Dabei ging es ausschließlich um die Bedingungen, die zu extremer Gehorsamkeitsbereitschaft führen. Mit Spaß für irgendwelche Dritten hatte dieses Experiment nichts zu tun. Und ich erinnere auch noch, dass es auch einige Probanden gab, die ab einer bestimmten Stromstärke zunehmend Bedenken hatten und denen es offensichtlich schwer fiel, anderen Schmerzen zuzufügen.

Bei der besagten Reality-show wurde jetzt ein schon an sich perfides menschliches Verhalten um den Spaßfaktor ergänzt. Jetzt finden sich Menschen bereit, im Schutze eines großen Publikums eine Foltervorstellung anzusehen. Jetzt wird gequält in einer Atmosphäre von „Let’s have fun“. Aber wundern tut es eigentlich nicht mehr, denn wenn das Filmen von Gewalt mittels Handy und das anschließende Veröffentlichen im Netz schon zum Alltag gehören, dann ist eine Foltersendung eigentlich nur noch das passende professionelle „event“ für diejenigen Menschen, die gern zusehen,wenn Menschen gequält werden. Und das schockierende Ergebnis des Milgram-Experiments – nämlich die extreme Gehorsamsbereitschaft – wird jetzt ergänzt um ein weiteres schockierendes Ergebnis: der gnadenlose Spaß am Leid anderer.

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Sonntag, 14. März 2010, 18:33h

Der Tod der kleinen Lara aus Wilhelmsburg

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Der Tod der kleinen Lara aus Wilhelmsburg jährt sich in diesem Monat. Lara wurde nur 9 Monate alt und wurde von ihren Eltern so vernachlässigt, daß sie mit einem Gewicht von 4,8 KG an Unterernährung starb. Die Familie war dem Jugendamt bekannt und es wurde sogenannte Familienhilfe durch eine Mitarbeiterin eines freien Trägers geleistet.

Auch ich arbeite in Wilhelmsburg, auch ich arbeite mit dem betreffenden Träger zusammen und auch einige meiner Betreuten sind nicht in der Lage, ihre Kinder eigenständig und angemessen zu versorgen.

Die Reaktion der Öffentlichkeit ist hart: neben der Betroffenheit über den Tod des kleinen Kindes auch jede Menge Entrüstung über die für die Familie zuständige Betreuerin der Familienhilfe. Das hätte doch verhindert werden können! Theoretisch ja. Wenn die betreffende Mitarbeiterin den Verdacht der Unterernährung gehabt hätte und das Kind umgehend von einem Kinderarzt hätte untersuchen lassen, wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht dazu gekommen. Aber ausschließen kann man es selbst in diesem Fall nicht. Wenn zweimal wöchentlich Besuche erfolgen und ein Kleinkind innerhalb von 4 Tagen weder Nahrung noch Flüssigkeit erhält, dann hätte das Kind auch trotz einer gewissenhaft ausgeführten Betreuung sterben können.

Was mir Unbehagen bereitet, ist die Tatsache, daß die Öffentlichkeit in den Fällen von Kindesvernachlässigung die Schuld hauptsächlich in den betreuenden Personen und nicht mehr bei den Eltern sieht. Diese Sichtweise birgt zwei große Gefahren in sich. Zum einen den Trugschluß, daß man die Unfähigkeit der Eltern durch eine ambulante Betreuung/Familienhilfe in den Griff bekommt. Zum anderen werden die eigentlichen Verantwortlichen – und dies sind nun mal nach wie vor die leiblichen Eltern – aus ihrer Verantwortung genommen.

Wie ich bereits in einem anderen Beitrag ausführlich beschrieben habe, wird von staatlicher Seite eine sehr umfassende Betreuung angeordnet, wenn man hierfür den Bedarf sieht. Und auch ich versuche, in meiner Arbeit den möglichen Rahmen auszuschöpfen. In erster Linie tue ich dies, um eine bestmögliche Versorgung der Kinder zu garantieren. Aber ich gebe ehrlich zu, daß irgendwo im Hinterköpfchen hierbei auch meine Angst eine Rolle spielt. Die Angst davor, daß irgendetwas passieren könnte, wofür man mich verantwortlich machen könnte.

Die gesellschaftliche Realität zeigt ein beängstigendes Schwinden der eigenverantwort-lichen sozialen Kompetenz. Und dieses Schwinden wird mit immer mehr Betreuung in verschiedener Form beantwortet. Man läßt dabei aber außer Acht, daß die Kinder der rundum betreuten Familien auch nicht mehr die Möglichkeit haben, eigenverantwortliche Elternschaft zu erleben und zwangsläufig bringt dieser Umstand neue Generationen von rundum betreuten Familien hervor.

Man kann nicht jedes gesellschaftliches Defizit mit Rundumbetreuung beantworten. Es müssen erst jede Menge Katastrophen passieren, ehe man Eltern ihre Kinder wegnimmt. Elternschaft ist bei uns – wie auch in den meisten anderen Gesellschaften – eine heilige Kuh, die nicht angetastet werden darf. Die Leidtragenden sind die Kinder, denen von vorneherein eine normale Kindheit versagt wird. Manche Kinder muß man vor ihren Eltern schützen. Und wir sollten nicht die Augen davor verschließen, daß in zunehmenden Maße auch eine ambulante Betreuung für einen wirklichen Schutz nicht mehr ausreichend ist.

Es gibt in Deutschland immer noch jede Menge Menschen, die vergeblich darauf warten, ein Kind adoptieren zu dürfen. Und vielleicht sollte man darüber nachdenken, ob man nicht eine Möglichkeit schaffen sollte, Kinder in eine Adoptionsfamilie zu geben, ohne den leiblichen Eltern rigoros jeden Kontakt zu verbieten – was in der Tat eine kaum zu verantwortende Härte darstellen würde, die auf keinen Fall voreilig angewandt werden darf.

In der BILD wurde erwähnt, daß demnächst der Prozeß vor dem Amtsgericht beginnt und neben der Betreuerin auch die Eltern angeklagt werden. „Auch die Eltern“ – eine Formulierung, die deutlich macht, daß die Betreuerin als die Hauptverantwortliche angesehen wird und nicht die Eltern. Und dies ist das Bedenkliche. Nicht nur für die Betreuer. Sondern auch oder gerade für die Kinder.

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Dienstag, 9. Februar 2010, 00:15h

Es geht auch anders – die Bücher „Wendepunkte“ und „Sehnsüchtig-Sehnsüchtig“

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Daß Öffenlichkeitsarbeit nicht zwangsläufig nur aus Werbefloskeln (Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt) bestehten muß, möchte ich hier an zwei Beispielen deutlich machen. Ich möchte hier die beiden Bücher „Wendepunkte“ und „Sehnsüchtig-Sehnsüchtig“ vorstellen. Gleich vorab die Information: beide Bücher sind leider nicht mehr erhältlich. Das Buch Wendepunkte wurde im Verlag „Frauen helfen Frauen“ im Jahr 1982 verlegt und das Buch „Sehnsüchtig-Sehnsüchtig“ im Jahr 1995 im Steidl Verlag.

„Wendepunkte“ hatte ich mir gleich zu Beginn meines Zwischenpraktikums im 3. Hamburger Frauenhaus gekauft um mir einen Einblick in die Arbeit im Frauenhaus zu verschaffen. „Sehnsüchtig-Sehnsüchtig“ wurde während meiner Arbeit im Café Sperrgebiet – einer Einrichtung für jugendliche drogenabhängige Prostituierte – verfaßt, so daß ich die Entstehungsgeschichte miterleben konnte.

Fangen wir mit „Wendepunkte“ an: in dem Buch erzählen Bewohnerinnern von Frauenhäusern aus ihrem Leben und vom Alltag im Frauenhaus. Ein großer Teil des Buches widmet sich dem gesellschaftlichen Hintergrund von Gewalt gegen Frauen und der Entstehungsgeschichte der Frauenhäuser, die untrennbar mit der Frauenbewegung verbunden ist. In dem Buch wird daher deutlich, daß Gewalt gegen Frauen nicht als etwas Privates eingestuft wird, sondern als gesellschaftliches Symptom. Das Buch verbindet die persönlichen Schilderungen von betroffenen Frauen mit dem gesellschaftlichen Kontext. Wichtig war auch die Schilderung der MitarbeiterInnenstruktur, die heute wahrscheinlich etwas merkwürdig anmutet, denn in den damaligen Frauenhäusern gab es keine Chefin oder Leiterin, sondern das Arbeitskonzept war ausdrücklich basisdemokratisch – was auch gern hervorgehoben wurde.

„Sehnsüchtig-Sehnsüchtig“ ist ein ganz anderes Buch. Die textliche Grundlage des Buches wird allein von den Tagbuchaufzeichnungen einer inzwischen verstorbenen Drogenabhängigen gebildet, die nicht kommentiert werden. Das Beeindruckende des Buches sind die Fotos von den jungen Frauen. Es gab zur Zeit der Entstehung die schärfsten Kontroversen darüber, wie weit die Fotos gehen dürfen, denn die Frauen und Mädchen wurden auch direkt in ihrer Arbeitssituation – also unbekleidet – fotografiert. Bei einem Teil der Mitarbeiterinnen stieß dies auf Ablehnung, da sie damit eine Zur-Schaustellung der zum Teil noch Minderjährigen verbanden. Nach vielen Diskussionen wurde letztendlich das Buch aber doch verlegt und heraus kam ein schonungsloses und authentisches Dokument des Elends der Drogenprostitution. Die erschütternden Bilder der ausgemergelten und oftmals schwerkranken Frauen sagen mehr aus als jeder Kommentar dies könnte.

Auch im Frauenhaus gab es ständig wiederkehrende Diskussionen darüber, ob man die Lebensgeschichten von Frauen veröffentlichen dürfe, da man sie damit zum Objekt, beziehungsweise zur Fallgeschichte machen würde. Die ganzen Wenn-und-Aber, die die Veröffentlichungen derartiger Werke mit sich brachten, sollen hier aber nicht Thema sein. Vielmehr möchte ich einfach mal auf etwas hinweisen, das mittlerweile fast verschwunden ist: Öffentlichkeitsarbeit im Interesse des Klientels. Öffentlichkeitsarbeit, für die persönliche Betroffenheit und gesellschaftlicher Kontext untrennbar sind. Die mit Sicherheit nicht den Anspruch der Neutralität erheben kann, aber die sich in ihrer Absicht voll und ganz dem Ziel der Information über Mißstände verschreibt.

Eine Öffentlichkeitsarbeit, die alles andere als aalglatt und angenehm ist. Weil die zugrundeliegende Thematik dies nämlich auch nicht ist. Und die auf überflüssige Werbefloskeln verzichtet und stattdessen Fakten bietet. Ob diese Form der Öffentlichkeitsarbeit erfolgreich war, ist im nachherein nicht eindeutig zu beantworten. Ich kann mich allerdings an viele positive Reaktionen aus der Bevölkerung erinnern, sowie an viele Geld- und Sachspenden, so daß unsere Arbeit doch den einen oder anderen erreicht zu haben scheint.

Wenn man sich jetzt fragt, warum diese Form der informativen und engagierten Öffentlichkeitsarbeit fast verschwunden ist, kann man nur spekulieren. Meine Kollegen würden sofort erwidern, daß wir Betreuer ja kein Geld für Öffentlichkeitsarbeit erhalten. Wenn ich jedoch das Einkommen von Betreuern mit dem der damaligen Sozialarbeiter vergleiche, schneiden letztere schlechter ab. Mit anderen Worten – Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen unserer Arbeit würde noch nicht das Abrutschen in eine Leichtlohngruppe bedeuten.

Edit: natürlich sind Bücher nicht das wirklich geeignete Medium für Öffentlichkeitsarbeit, denn nur wenige haben soviel Interesse, daß sie ein ganzes Buch zu einer speziellen Thematik lesen. Aber die Machart ist durchaus übertragbar auf Zeitungsartikel, Infobroschüren, Flyer, filmische Dokumentationen und natürlich Homepages.

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Donnerstag, 15. Januar 2009, 01:26h

Keine GEZ-Befreiung für Rollstuhlfahrer

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Heute habe ich das Gerichtsurteil erhalten, in dem meine Klage auf GEZ-Befreiung für einen zu 100 % schwerbehinderten Rollstuhlfahrer abgelehnt wurde. Die Befreiung soll für Behinderte sein, die aufgrund ihrer Behinderung an der Teilnahme am öffentlichen Leben gehindert sind und deswegen einen Fernseher mehr als andere benötigen.

Dies ist also nach Meinung des Amtsgerichts Lüneburg nicht der Fall. Es ist möglich, auch mit dem Rollstuhl überall hinzugelangen und es würde auch überall behindertengerechte Toiletten geben. Mein Argument, daß letzters eine Wunschvorstellung ist und aus diesem Grund manche Betreute nicht mehr die Wohnung verlassen wollen, wurde abgeschmettert. Selbst wenn es irgendwo keine Behindertentoiletten geben würde (immerhin ein Hoffnungsschimmer, daß dies wohl doch realistisch wahrgenommen wird), könne man ja Windeln tragen.

Ich habe versucht zu erklären, daß nicht jeder Mensch ohne Scham Windeln tragen kann und in der Öffentlichkeit inmitten von Menschen ungeniert sein Geschäft verrichten mag. Dies wurde zwar nicht abgestritten, aber es wurde erwidert, daß hierunter nicht der Steuerzahler leiden könne. Der Steuerzahler ist kann nicht damit belastet werden, daß jemand psychische Hemmungen hat.

Ich macht mich müde, solche Argumente zu hören. Und es macht mich noch müder, dann meine eigenen Assoziationen zu ertragen, die von diesen Argumenten ausgelöst werden. Assoziationen, die nichts bringen, die ich aber leider nicht stoppen kann. Mir fallen meine ehemaligen Geschäftsführer ein, die munter auf Kosten der Steuerzahler ihren Betreuungsverein geführt haben und dabei nach Lust und Laune absurde Mandate (durch PKH auch auf Steuerzahlerkosten!) veranlaßt haben und ihre mit 4a honorierten Stellen dazu genutzt haben, selbst noch eigene Betreuungen zu führen,in der Arbeitszeit Weinhandel zu betreiben oder aber einfach eine 20- Stunden-Stelle auf 10 Stunden (maximal!)zu reduzieren um sich angenehmeren Dingen als Arbeit zu widmen.

Tja, so macht Vereinsarbeit Spaß! Nach 40 Jahren harter Arbeit als Fernfahrer mit einer 60 Stundenwoche (mindestens!) und einer kärglichen Erwerbsunfähigkeitsrente macht das Leben weniger Spaß. Aber darunter können wir Steuerzahler natürlich nicht leiden.

Merkwürdig, ich leide eigentlich nicht so sehr unter dem Finanzieren von Rundfunkgebühren für Rollstuhlfahrer. Viel mehr macht mir zu schaffen, mit meinen Steuergelden den Mercedes, die Reitpferde und die Harly Davidson (nicht übertrieben) für sogeannte Geschäftsführer gezahlt zu haben.

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Freitag, 10. Oktober 2008, 23:52h

Man muß nur rechnen können

behrens

Den Hartz VI-Empfängern wird ja immer wieder vorgeworfen, sie sein selbst Schuld, wenn sie mit ihrem Geld nicht auskommen. Sie müssen eben besser rechnen und gezielter wirtschaften. Spätestens seit dem Bankencrash wissen wir aber, daß dies nicht ganz so einfach ist.

Was Banker nicht können, sollte man auch nicht von den Hartz IV Empfängern verlangen. Wobei Letztere beim Verkalkulieren nur sich selbst schaden und Banker die halbe Welt in Mitleidenschaft reißen.

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