Sonntag, 31. Oktober 2010, 18:05h

Vergewaltiger sollen keine Menschenrechte haben?

behrens

Dieser Satz – nur mit Ausrufungs- statt Fragezeichen - stand auf einem Schild, das von einer Anwohnerin demonstrativ in die Kamera gehalten wurde, als vor einigen Monaten der aus der Sicherungsverwahrung entlassene Gewaltverbrecher Hans W. in ihrer Nachbarschaft eine Wohnung beziehen wollte. Dazu kam es aber gar nicht erst, denn es wurde eine regelrechte Hatz veranstaltet, die dazu führte, dass Hans W. danach in verschiedenen Wohnungen untergebracht werden musste.

Hans W. war 30 Jahre in Sicherheitsverwahrung, als er durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs quasi von einem Tag auf den anderen entlassen und ihm eine Wohnung zugewiesen wurde, deren Adresse dann durch die Presse an die Öffentlichkeit drang. Dadurch kam es dann zu der geschilderten Reaktion der Anwohner.

Ich bin weit davon entfernt, das von den Strafverteidigern regelmäßig heruntergeleierte Plädoyer von der schlimmen Kindheit anhören zu wollen. Mir geht es genau wie den meisten Menschen – ich kann es nicht mehr hören, wenn man versucht, in den Strafverfahren Täter zu Opfern zu machen.

Aber dennoch hat mich die Reaktion der Anwohner schockiert. Nicht nur weil die betreffende angemietete Wohnung genau bei mir um die Ecke lieg, sondern weil es anscheinend nur zwei Reaktionen gibt: entweder „Rübe ab“ oder aber „er ist doch selbst ein Opfer“. Ist es wirklich so überflüssig, sich endlich mal darüber Gedanken zu machen, wie man Gewaltverbrechen präventiv verhindert? Ich wiederhole nochmal: präventiv. Das, was man machen muss, bevor jemand Gewalttäter wird.

Wie wird jemand Gewalttäter? Auf Vermittlung des Anwalts wurde jetzt ein Interview mit der Hamburger Morgenpost gemacht. Liest man dieses Interview, dann ist die Frage schnell beantwortet: ein alkoholabhängiger Vater, der seinen Sohn regelmäßig misshandelte – manchmal sogar mit der Hundepeitsche. Irgendwann hat sich das Blatt gewendet und der Geschlagene wurde selbst zum Schläger.

Hat dies übrigens auch etwas mit dem Thema Betreuung zu tun? Ja! Ich bekomme durch meine Arbeit Einblick in Familien, in denen alles fehlt, was ein Kind braucht, um eine normale Kindheit und eine normale Entwicklung zu haben. Das fällt auch der Außenwelt irgendwann auf und es werden als geeignet empfundene pädagogische und soziale Hilfen angeboten. Hier eine pädagogische Betreuung – dort eine rechtliche. Hier ein Familienhelfer – dort eine pädagogische Frühforderung. Hier eine Ergotherapie – dort eine ambulante Psychotherapie. Und dann irgendwann eine stationäre psychiatrische Behandlung und eine stationäre pädagogische Wohngruppe. Und dann endet es irgendwann in Jugendhaft, die dann wiederum im regulären Strafvollzug endet.

Und aus einem traurigen Anlass (eigentlich sogar zwei Anlässe) innerhalb meiner aktuellen Arbeit heraus wage ich es jetzt zu sagen: Manchmal muss ein Kind früher aus einer Familie herausgenommen werden! Wenn Familien völlig unfähig sind, ein Kind gesund und liebevoll umsorgt aufwachsen zu lassen, dann reichen ambulante Hilfen nicht mehr. Die Einsicht in die Biographien von Gewalttätern machen dies mehr als deutlich.

Alles, was diese Gesellschaft an Reaktion auf die zunehmende Gewalt parat hat, ist der Ruf nach härterer – möglichst lebenslanger – Bestrafung. Damit macht man aber die Opfer nicht wieder lebendig. Und vor allem: man schützt auch nicht all diejenigen, die irgendwann einmal zu Opfer werden.

Es gibt eine Dokumentation über den Kindermörder Jürgen Bartsch, der in den 60er Jahren vier kleine Jungen bestialisch ermordet hat. Der Film gibt einen Einblick in eine Tragödie in ihrem gesamten Ablauf. Auch Alice Miller hat in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ ausführlich die Biographie von Jürgen Bartsch geschildert. Während des Studiums habe ich sowohl den Film als auch das Buch eingehend durchgenommen. Wie viele andere Studenten auch. Aber dabei ist es geblieben. Man weiß über eine Ursache. Aber man tut nichts dagegen. Ich auch nicht.

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Die Bücher von Alice Miller sollten Pflichtlektüre sein in dieser Hinsicht. Mir haben sie wirklich die Augen geöffnet, und es war das erste Mal, dass das Recht des Kindes auf liebevolle Erziehung im Fokus stand und nicht das Recht der Eltern auf Ausübung erzieherischer Gewalt.

Ich sehe dem Resultat heutiger Erziehung mit Angst und Schrecken entgegen, wird doch in so vielen Familien unhinterfragt die eigene Haltung weitertransportiert... Ich denke in dem Zusammenhang an meine eigenen "Recherchen" zum Thema Schläge.

Mir hängt der volkszornige Betroffenheitsjournalismus fürchterlich zum Halse heraus. Und in der Tat ist den Opfern weder damit geholfen, dass von Nachbarn haufenweise Kerzen aufgestellt und "Warum?"-Zettel gemalt werden, noch damit, dass man Absurditäten wie die Todesstrafe oder Kastration fordert. An den wahren Ursachen wird damit nicht gerührt. Das würde nämlich mit einschließen, dass man die Erkenntnis über die ungeheure Verantwortung der Kindererziehung ebenso zulässt wie über die eigene Tendenz, wegzusehen, wenn es brenzlig wird.

Ich bin ab und an in einem Internet-Forum unterwegs, in dem sich Opfer sexuellen Missbrauchs austauschen, und dort meinte auch jemand, einen Link posten zu müssen zu einer Seite, auf der die Namen von "Kinderschändern" aus der eigenen "Nachbarschaft" gepostet würden. Schließlich habe jede Mutter ein Recht zu erfahren, wer in der Nähe der Kinder lebe und Zugriff auf sie habe. Das allein ist eine massive Menschenrechtsverletzung derjenigen, die für die ihnen zur Last gelegten Verbrechen ohnehin schon rechtskräftig bestraft wurden. Es herrscht wohl die Meinung vor, dass jemand, der ein Verbrechen begeht, die Grundrechte auf Würde und Freiheit verwirkt habe. Zudem trifft eine solch dubiose Praktik auch diejenigen, die gar nichts getan haben, sondern nur von irgendwelchen möglicherweise mal persönlich gekränkten Leuten beschuldigt werden. Das ist entsetzlich, und im Grunde kann es jeden auf diese Weise treffen. Zudem finde ich aber, dass solche Selbstjustiz-Verleumdereien auch nach wie vor das Bild des "bösen Mannes" schüren, der im Gebüsch seinen Opfern auflauert. Dass die meisten Täter aber dem sozialen Nahraum der Opfer entstammen, fällt unter den Tisch. Und gerade da wäre Hinsehen angebracht.

Es ist gut, dass Du von "innen" berichtest, denn sonst wäre es sehr verlockend, Familienverhältnisse, wie Du sie schilderst, schlicht als Klischee zu betrachten. Ist ja auch bequemer. Neulich sah ich eine bemerkenswerte Doku über ein Jugendamt irgendwo in einer süddeutschen mittelgroßen Stadt. Dort hatte jeder einzelne Beamte rund 50 Fälle zu betreuen, was offensichtlich noch unterer Durchschnitt ist, und doch war jeder einzelne Fall wichtig und jeder einzelne Mitarbeiter schon im Ist-Zustand heillos überlastet. Wird wirklich Zeit, dass von staatlicher Seite dort endlich einmal etwas geschieht und mehr Prävention betrieben wird.

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Hoffnungslos
Da Du gerade die Bücher von Alice Miller hervorgehoben hast, bin ich darauf gekommen, in Wikipedia nochmals die in „Am Anfang war Erziehung“ beschriebenen Lebensläufe von Jürgen Bartsch und Christiane F. („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) anzusehen. Und in der Beschreibung von Christiane F. las ich, dass sie einen 14jährigen Sohn hat. Und der wurde vor zwei Jahren vom Jugendamt in Obhut genommen.

Ich kann kaum beschreiben, was in mir vorgeht, wenn ich so etwas lese. Ich habe ja auch schon mit drogenabhängigen Mädchen gearbeitet und auch die wollten ständig schwanger werden. Und wenn dies glückte, dann kam es – ausnahmslos! – dazu, dass die Kinder bald darauf so schlecht versorgt waren, dass die Kinder in Pflegefamilien gegeben werden mussten. Was dann dazu führte, dass die Mädchen bald wieder schwanger wurden, um wieder ein Kind zu haben.

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Wer die Aufarbeitung der in 2010 durch die Medien bekanntgemachten Mißbrauchsfälle in Kinderheimen beobachtet, wird allerdings zu dem erschreckenden Ergebnis kommen, daß auch hier seit langem sowohl Jugendämter als auch Heimaufsichten über die Vorfälle informiert waren und wegschauten. Der Staat als Retter aus kaputten Familien ist frommes Wunschdenken.

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Was schlagen Sie zur Lösung des Problems vor?

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Möglicherweise gibt es keine.
Fakt ist: Kaputte Familien im Sinne von Gewalt, Mißbrauch, Sucht etc. gibt es in allen Schichten, und zwar gleichmäßig gestreut. Verantwortungslosigkeit gedeiht natürlich dort am besten, wo Verantwortlichkeiten hin und her geschoben werden können, ohne ernsthafte Konsequenzen erwarten zu müssen. Dies dürfte bei institutioneller Verantwortung eher der Fall sein als bei privater Verantwortung. Das Motto " Es kann nicht sein, was nicht sein darf" hat im staatlichen Bereich natürlich noch mehr Bedeutung.
Generell wäre die Frage, inwieweit mehr Kontrolle des Staats durch die Bürger möglich ist.

Abschließend ein Auszug aus einem aktuellen Gesetzesentwurf:
"Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts-und Betreuungsrechts
A. Problem und Ziel
Fälle von Kindesmisshandlungen und Kindesvernachlässigungen mit der Folge
schwerster Körperverletzungen bis hin zum Tod der Kinder haben zu umfang-
reichen Untersuchungen der Begleitumstände geführt. Dabei gibt auch die
Praxis in der Amtsvormundschaft Anlass zu Kritik, wie die vom Bundesminis-
terium der Justiz einberufene Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen
bei Gefährdung des Kindeswohls – § 1666 BGB“ ermittelt hat. Angesichts
hoher Fallzahlen kennen die Amtsvormünder ihre Mündel oftmals nur aus dem
Kontakt bei der Übernahme der Vormundschaft. Ihrer Verantwortung, insbesondere für die Person und nicht nur für das Vermögen des Mündels zu sorgen,werden die Amtsvormünder damit oftmals nicht gerecht.
Im Betreuungsrecht weist die Evaluation des Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes darauf hin, dass der persönliche Kontakt insbesondere von Berufsbetreuern zu den Betreuten zurückgegangen ist und vom Gericht aufgrund der vereinfachten Abrechnung weniger intensiv überprüft wird.
Ziel des Entwurfs ist es, den persönlichen Kontakt des Vormunds zu dem Mündel und damit die Personensorge für den Mündel zu stärken. Der persönliche Kontakt zwischen Betreuern und Betreuten soll besser dokumentiert und vom Gericht stärker beaufsichtigt werden."
Ob das in der Praxis ausreicht, ist die Frage

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Eine Frage gesellschaftlicher Verantworlichkeit
Ich habe eine ganz andere Erfahrung gemacht, was die „gleichmäßige Streuung“ von sozialen Problemen wie Gewalt, Missbrauch, Sucht e.t.c. anbetrifft. Punktuell gibt es jeden sozialen Missstand auch in jeder sozialen Schicht. Auch Jugendliche aus wohlhabenden Familien klauen, prügeln sich oder werden drogenabhängig. Allerdings ist dies in den genannten Kreisen eine Randerscheinung. Als ich im Bereich der Drogenhilfe gearbeitet habe, gab es auch einige Drogenabhängige, die aus begüterten Familien mit hohem sozialem Status stammten. Aber dies war zahlenmäßig überhaupt nicht vergleichbar mit denjenigen, die aus sozial benachteiligten Familien stammten.

Als Beispiel kann ich auch die verschiedenen Arbeitsbereiche meines Freundes nennen, der als Erzieher in verschiedenen Kindergärten gearbeitet hat. Es lagen himmelweite Unterschiede zwischen den Erziehungspraktiken der Familien aus den Kindergärten in den „noblen“ Gegenden und denen in sozialen Brennpunkten. Und ich finde dies auch nicht erstaunlich, denn der Mensch spiegelt immer sein soziales Umfeld wieder.

Ich halte es für bedenklich, die Folgen sozialer Gegebenheiten zu leugnen, denn wenn soziale Unterschiede keine unterschiedlichen Lebensformen bedingen würden, dann bräuchte man ja auch nichts mehr für die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit tun – und nichts wäre schlimmer als dies.

Sie schreiben „möglicherweise gibt es keine Lösung“. Das mag vielleicht so sein – was schlimm genug wäre – aber dies entbindet nicht von der Verantwortlichkeit der Gesellschaft, immer wieder trotzdem nach Lösungen zu suchen. Wenn Kinder vernachlässigt werden, hat die Gesellschaft zu reagieren. Und zwar ad hoc mit Hilfsangeboten und auch längerfristig, indem nach Ursachen geforscht und auf Strukturen verändernd eingewirkt wird.

Das soziale Netz, das früher aus der Familie und auch der dörflichen oder nachbarschaftlichen Gemeinschaft bestand, existiert kaum noch. Diese verlorengegangene Struktur muss ersetzt werden. Und es muss in irgendeiner Form auf den immer größer werdenden Einfluss der Medien reagiert werden, deren Einfluss auf Identitätsbildung und Wertesystem erheblich unterschätzt wird.

Die Lernfelder haben sich verändert. Unsere Lernprozesse entstammen nicht allein aus dem realen sozialen Umfeld, sondern aus einer medialen Wirklichkeit. Und diese mediale Wirklichkeit ist wiederum hauptsächlich von wirtschaftlichen Interessen bestimmt. Mit anderen Worten – es fehlt jeder ethische Anspruch und eben dies hinterlässt schwerwiegende Folgen.

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Sucht man ernsthaft nach einer Lösung des Problems, wird man nicht umhin kommen, die zumindest für den Bereich häuslicher Gewalt reichlich verfügbare Forschung in die Überlegungen einzubeziehen. Diese belegt eindeutig eine gleichmäßige Streuung durch alle Gesellschaftsschichten, sowie im Übrigen eine Abnahme häuslicher Gewalt gegenüber früheren Zeiten. Letzteres dürfte sicherlich mit ein Erfolg der Frauenbewegung sein. Eine Verallgemeinerung eigener Erfahrungen kann zudem die Gefahr bergen, Klischees zu bedienen, die sich lediglich in der Wortwahl unterscheiden von überwunden geglaubten Vorurteilen ( „sozialer Brennpunkt“ statt „Halbstarke/ schwer Erziehbare oder Asoziale“ u.ä.). Hinsichtlich der strukturellen bzw. institutionellen Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen scheint es dagegen bisher wenig Forschung zu geben. Immerhin ist belegt, daß familienunterstützende Hilfen im Allgemeinen deutlich erfolgreicher sind als die Herausnahme der Kinder aus ihren Familien/ Verbringung in Heime o. Pflegefamilien. Dem gegenüber scheinen jedoch die Zahlen der "Inobhutnahme" zu steigen, möglicherweise als ("Über-")Reaktion auf Skandalmeldungen und in den seltensten Fällen auf Wunsch der Kinder/Jugendlichen. Während hier in den amtlichen Statistiken als Hauptgrund "Überforderung der Familie" angegeben wird (was ein Grund mehr für familienunterstützende statt "familienersetzende" Hilfen sein sollte), stellen sich die Gründe für Mißhandlung Jugendlicher in Institutionen anders dar.
Die Tatsache, daß Amtsvormünder und Aufsichtsbehörden jahrzehntelang tatenlos massenhaftem Mißbrauch und Gewalt z.B. durch Priester in Heimen zuschauten, belegt deutlich, daß Stand und Ansehen weder Täterschaft noch Mittäterschaft gegenüber Schutzbefohlenen ausschließt. Adäquate Lösungen dürften hier nur durch gründliches Hinterfragen scheinbar bewährter Praxis gefunden werden.

Mehr hierzu unter folgendem Link:
http://daserste.ndr.de/panorama/media/panorama188.html

und noch etwas mehr: (Zitat eines interessanten Blogs zum Thema)
* Wenn Eltern das Kindeswohl gefährden, dann greift der Staat (in Form des Jugendamtes) ein.
* Wenn der Staat das Kindeswohl gefährdet, dann greift niemand ein und die betroffenen Kinder sind dem Willkürhandeln ausgeliefert.


Derzeit beschwert sich eine ganze Heimkindergeneration über das große Leid, welches ihr in den vergangenen Jahrzehnten widerfahren ist.

In 10 bis 20 Jahren wird eine neue Heimkindergeneration über die schrecklichen Erlebnisse mit Jugendämtern und ihrer familiären Zwangsentfremdung Klage führen. (Zitatende)

http://kinderklau.blogspot.com/search/label/Jugendamtsgesch%C3%A4digte

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Sicher ist die Übernahme ursprünglich gesellschaftlich-familiärer Aufgaben durch den Staat ein Problem. Hier effizient und nachhaltig arbeiten zu können setzt eine gewisse Identifikation mit der Aufgabe voraus, die aber schon zwangsläufig auch bei Personen mit ausgeprägtem Helfersyndrom dort scheitern muss, wo hohe Fallzahlen intensives Engagement und Kennenlernen der jeweiligen Familie verhindern. Zudem findet in einer gewinnorientierten Gesellschaft persönlich gefärbter sozialer Einsatz einzelner Mitarbeiter schneller ein Ende, wenn man spürt, dass "unterm Strich" nichts dabei herauskommt - sprich: Es zahlt sich nicht in bar aus, sich mehr zu engagieren, als unbedingt notwendig. Dieses Problem besteht in allen helfenden Berufen, die in ein System der Gewinnmaximierung/Kostensenkung eingebunden sind. Idealismus (den ganz viele sicher haben und auch leben (wollen)) stößt an eine Grenze, wenn es um die eigene Existenz innerhalb dieses absurden Systems geht. Zuviel Anteilnahme (die aber sicher vonnöten wäre) kann man sich schlicht "nicht leisten", und so wächst auf der Seele mancher Menschen eine Hornhaut (ein Phänomen, das ich beispielsweise bei meiner Schwester erlebe, die Ärztin ist und sich oft nicht anders mehr zu helfen weiß, als sich äußerst gehässig und herablassend über ihre Patienten zu äußern).

Was menschlich notwendig wäre, ist ein anderes Thema. Die Frage ist, ob von staatlicher Seite überhaupt geleistet werden kann, was nötig wäre, und ob das überhaupt effektiv wäre. Interessant ist auch die Frage nach den Ursachen elterlicher "Überforderung" und Unzulänglichkeit. Dabei hat es glaube ich wenig Sinn, sich die Vergangenheit schönzureden. Die Probleme haben sich lediglich verschoben bzw. sind durch ein gewandeltes gesellschaftliches Verständnis offenkundiger geworden. Während es früher relativ normal war, Kinder körperlich zu züchtigen (zu schlagen und zu prügeln) und deshalb niemand groß darüber gesprochen hat, betrachtet man das heute zu Recht als Misshandlung. Bestimmte Rede-Tabus sind glücklicherweise überwunden, das Verständnis von Elternschaft hat sich verändert, Definitionen haben sich gewandelt. Aber die Vergangenheit sieht natürlich im Vergleich zu heute rosig aus, weil früher Misshandlungen und Missbrauch nicht so sichtbar waren und das Erziehungssystem repressiver war als heute. Die daraus entstandenen Neurosen gaben Eltern und Großeltern aber unterdessen fleißig an die Kinder weiter. Nicht zuletzt hielt ein moralisches Wertesystem Familien zusammen, auch wenn es in den Familien marode aussah.

Problematisch sind meiner Meinung nach heute wie gestern emotional nicht greifbare Eltern, die anderweitig beschäftigt sind (beispielsweise mit Trennungen, inneren Kränkungen, eigener Geschichte, Alleinerziehenden-Status, wirtschaftlichen Problemen...). Dabei fällt heute die Fixierung auf das Materielle und den Konsum als vermeintliche Lösung für alle Probleme und den Wohlstand als übergeordnetes Ziel besonders ins Gewicht. "Ich kann dem Kind ja gar nichts bieten" hört man dann oft, aber eine Überhäufung mit Plastikspielzeug schützt vor elterlichem Missbrauch eben auch nicht. Diese Fixierung fördert die Bewusstlosigkeit und die eigene innere, kindliche Anspruchshaltung der Eltern, die besser keine geworden wären.

Dass materieller Wohlstand nicht vor elterlichem Versagen schützt, kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen. Aber daraus sollte man nicht den Rückschluss ableiten, dass die Gefährdung in allen sozialen Schichten gleich groß ist. Es gibt verschiedene Risikofaktoren, und in bestimmten Bereichen häufen sie sich. Natürlich sind Eltern, die sich keine dauernden Sorgen um ihre Existenz machen müssen, verfügbarer für die Kinder. Und Kinder entwickeln sich auch besser, wenn sie nicht permanent im Alltag erfahren müssen, zu den "Losern" zu gehören und in einer defizitären Welt leben. Das gesellschaftliche Umfeld ist vom Individuum nicht zu trennen, die Beziehung ist wechselseitig.

Lösung? Ich denke über kaum etwas so intensiv täglich nach wie über das...

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Das Hauptproblem ist Vernachlässigung
Es hat ganz sicher einen Wandel in der Gesellschaft gegeben, was die allgemeine Ablehnung körperlicher Bestrafung von Kindern betrifft. Aber dafür spielt das Thema Vernachlässigung eine sehr viel größere Rolle. Früher sind beispielsweise lediglich die Kinder von berufstätigen Müttern in den Kindergarten gegangen, heute besucht ein nicht unerheblicher Teil der Kinder den Kindergarten, obwohl mindestens ein Elternteil zuhause ist, weil die Eltern nicht in der Lage sind, sich ausreichend und verlässlich um ihre Kinder zu kümmern. Viele Kinder werden einfach sich selbst überlassen und tun dann oft nichts anderes als fernzusehen oder am PC zu spielen.

Ich habe ja schon an anderer Stelle beschrieben, dass es manchmal ein regelrechtes Betreuungsnetz für Familien gibt. Pädagogische Betreuer, Erziehungsberatung, Vollzeitkrippe/Vollzeitkindergarten, Familienhelfer, Patenschaft, pädagogische Frühförderung, Haushaltshilfe, später Jugendwohnung. Ich selbst gehöre ja zu denjenigen, die diese ganzen Hilfen bei Bedarf beantragen. Und trotzdem habe ich in den Jahren meiner Berufstätigkeit noch nicht erlebt, dass dies etwas wirklich verändert hat. Auch trotz dieses riesigen Hilfsangebots kommt es trotzdem oft bei den Kindern zu Verhaltensauffälligkeiten, frühem Drogenkonsum und Jugendkriminalität.

Ich erlebe immer wieder, dass Eltern hoffnungslos überfordert damit sind, sich ausreichend um ihre Kinder zu kümmern. Grundsätzlich kommt diese Problematik in allen sozialen Schichten vor, nicht nur bei Hartz-IV-Empfängern. Es ist einfach eine riesige Augenwischerei, dass mit einem Kindergartenplatz alle Probleme gelöst sind. Kinder, die ihre Eltern den ganzen Tag nicht gesehen haben, stellen Forderungen und Eltern, die beide einer Vollzeitarbeit nachgehen, sind abends verständlicherweise oftmals zu müde, um sich dann noch um ihre Kinder zu kümmern und den Haushalt zu versorgen. Für mich ist das durchaus nachvollziehbar, denn wenn ich nach einem Acht-Stunden-Tage nach Hause komme, bin ich meist auch ziemlich geschafft.

Ich halte es nicht für die Bedienung eines Klischees, wenn ich meine Erfahrungen schildere, denn die unterscheiden sich nicht wesentlich von denen anderer Kollegen (wobei ich nicht über gesetzliche Betreuer spreche, die befassen sich mit derlei Problematiken meist gar nicht). Darüber hinaus gibt es Forschungsergebnisse, die mit meinen Erfahrungen übereinstimmen, wie z.B. die der regionalen Kriminalitätsstatistik, die sich mit der regionalen Statistik über Armut deckt. Es gibt Stadtteile in Hamburg mit sehr vielen Sozialarbeiten und Stadtteile mit sehr wenigen. Und es ist kein Zufall, dass sich das mit der Einkunftslage deckt.

Lösung? Ich denke über kaum etwas so intensiv täglich nach wie über das... Es tut gut, dies mal von jemandem zu hören. Mir geht es genauso – ohne dass ich allerdings zu einem Ergebnis komme. Aber ich möchte jenseits von Ideologien nach Lösungen suchen. Dazu gehört auch, unbequemen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen. Eine davon ist die immer stärkere Alltagskompetenz vieler Menschen, die zwar perfekt einen PC bedienen können, aber nicht mehr in der Lage sind, ihr Geld so einzuteilen, dass sich auch am Monatsende noch etwas Essbares im Kühlschrank befindet. Ich empfinde das als angsteinflößend. Und besonders im Hinblick auf Kinder, die überhaupt keine Möglichkeit mehr haben, das, was zum Leben erforderlich ist (eben nicht nur PC- und Handybedienung), zu erlernen.

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@ekjj
Vielen Dank für den Nachtrag der beiden Links.

Habe mir gerade die Panorama-Reportage angesehen. So wie die drei Fälle dargestellt werden, kann man tatsächlich davon ausgehen, dass den Eltern keine zweite Chance gegeben wurde. Es gibt diverse ambulante Hilfen, und die sollten zuerst auch ausgeschöpft werden, bevor man Kinder aus der Familie hinausnimmt. Und das völlige Unterbinden des Kontaktes zu Familie ist in den wenigsten Fällen einsehbar.

Dennoch bin ich vorsichtig, was die Informationen öffentlicher Medien angeht. Ich habe mittlerweile auch so manche Erfahrung damit, dass Betroffene der Öffentlichkeit ihre Situation völlig anders präsentieren, als diese tatsächlich ist. Es entsteht dann ein Bild von grausamer Staatsmacht, die ohne mit der Wimper zu zucken, Kinder aus den Familien raubt. Guckt man dann hinter dieses konstruierte Bild, wurden ganz wesentliche Tatsachen verschwiegen.

Was ich aber andererseits unvertretbar finde, ist die Weigerung des Jugendamtes, Stellung zu beziehen. Der Hinweis auf Datenschutz ist eine klägliche Ausrede, um sich der Auseinandersetzung mit Kritik zu entziehen und sich nicht mit dem eigenen Handeln auseinandersetzen zu müssen. Es gibt sehr wohl die Möglichkeit, sein Handeln zu begründen, ohne dabei jedes intime Detail preiszugeben. Man kann Namen und Orte ungenannt lassen und man kann bestimmte Umstände so schildern, dass dadurch die Familie nicht bloßgestellt wird.

Dieser Umgang mit Kritik ist mir – wie solle es anders sein – auch durch so manchen Betreuer vertraut. Es scheint die Vorstellung von Unfehlbarkeit zu bestehen. Und da muss dringend eine Veränderung geschehen. Wer Machtbefugnisse hat, muss sich zwangsläufig auch für sein Handeln rechtfertigen – ohne Wenn und Aber. Hoheitliche Maßnahmen, die im Wechselspiel Staat – Individuum durchgeführt werden, bedürfen zwingend der Rechtfertigung, wenn die Reform des Betreuungswesens keine bloße Augenwischerei sein soll.

Ich habe mir auch einige der Beiträge aus dem von Ihnen genannten Blog angesehen – und hier gilt das Gleiche: solchen Fällen muss nachgegangen werden. Vielleicht bräuchte man eine andere Instanz als die des überlasteten Jugendamtes. Und vielleicht sollte man auch hier mal diejenigen mit einbeziehen, die eigene Erfahrungen haben, so wie ich es in meinem Betrag über das Projekt Experienced Involved beschrieben habe. Ehemalige Heimbewohner und Menschen, die familiäre Gewalt und Vernachlässigung am eigenen Leib erfahren haben.

Und vielleicht sollte man über eine paritätisch besetzte Schlichtungsstelle nachdenken. Was mir auffällt, ist die Verhärtung beider Positionen. Auf der einen Seite die Position derer, die der Meinung ist, dass Kinder viel zu spät aus den Familien herausgenommen werden – was angesichts der Fälle von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung aber auch nicht immer von der Hand zu weisen ist – und die öffentliche Erziehung als die alleinige Antwort auf familiäre Defizite ansehen. Und auf der anderen Seite diejenigen, die die Jugendämter als als eine Art Mafia ansehen, deren höchstes Ziel die Wegnahme der Kinder aus ihren Familien darstellt.

Wenn man wirklich etwas für Kinder tun möchte, dann ist es unerlässlich, dass man sich von ideologischer Betrachtungsweise distanziert und offen für neue Wege ist.

Ich habe übrigens einen interessanten Artikel über eine erzieherische Hilfe für einen alleinerziehenden Vater, bei dem die Tochter während einer akuten Krisensituation zeitweilig aus der Familie genommen wurde, aber von vorneherein auch die Rückkehr zum Vater nicht ausgeschlossen wurde. Mein Freund ist als Familienhelfer in der Familie tätig, und dadurch habe ich Vater und Tochter, die inzwischen wieder beim Vater lebt, auch schon kennengelernt.

Bei dem Artikel handelt es sich um ein Interview des Vaters und der Pflegefamilie, das von der Zeitschrift BRIGITTE gemacht wurde. Ich werde versuchen, herauszufinden, ob der Artikel im Netz auffindbar ist. Man sollte nicht vergessen, dass es auch einen sehr verantwortlichen Umgang mit der Suche nach Lösungen für Konfliktsituationen gibt.

Und um bei diesem bei diesem so schwierigen und belastendem Thema trotzdem positiv zu schließen (was eigentlich nicht möglich ist, aber ich tu's trotzdem): heute abend sind wir vom Vater zu einer großen Fest der Masiren - Neujahrsfest Yennayer - eingeladen. Und ich freue mich nicht nur darüber, dass es im Leben des Vaters jetzt auch wieder Feste gibt, sondern ich freue mich auch auf den Einblick in eine für mich unbekannte Kultur.

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Ich habe dazu neulich in irgendeinem der Dritten eine längere Reportage gesehen, in der es auch um eine junge Mutter ging, der das Jugendamt ihre beiden Kinder weggenommen hat. Ich glaube eigentlich nicht, dass so etwas vorschnell geschieht, aber die betroffenen Eltern oder Elternteile haben oft nicht die Einsicht in die Begründungen, die das zuständige Jugendamt liefert. Sie sehen sich natürlich selbst vollkommen anders als Außenstehende und meistens lieben sie ihre Kinder tatsächlich - und warum dieses Gefühl der Liebe, das sie ja auch deutlich äußern können, dem Jugendamt als "Beweis" für ihre Fähigkeit als Eltern nicht ausreicht, können sie oftmals nicht einsehen. "Ich habe hier ein riesengroßes Loch!" schrie die betroffene Mutter in die Kamera und zeigte auf ihr Herz, und ich hatte keine Probleme, ihr das auch zu glauben.

Trefflicherweise hat das Reportageteam auch die Kinder, die in zwei verschiedenen Pflegefamilien untergebracht waren, begleitet. Diese Pflegestellen (Bereitschaftspflege) waren zeitlich sehr befristet, und mir tat es schon fast weh beim Zuschauen, dass die sensiblen Kinder bald wieder umziehen mussten, weg von den sehr liebevollen Leuten, die sie aufgenommen hatten. Die stabile Bindung zur Mutter lässt sich durch nichts ersetzen, auch durch die liebevollste Pflege nicht. Um so schlimmer ist es, wenn Mütter (bzw. Eltern) wirklich nicht in der Lage sind, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern.

Bei allem Mitgefühl für die Kinder fand ich es (so ich das denn bei dem kurzen Zuschauen beurteilen konnte) vollkommen angebracht, der Mutter die Kinder wegzunehmen.

Die Frage, die sich da doch aufdrängen muss, ist: Wie gelingt es, Eltern sensibel für die Bedürfnisse ihrer Kinder, für die Pflichten der elterlichen Sorge und für Grenzen zu machen? Mit einem lapidaren "Kriegen Sie Ihr Leben in den Griff!" oder "Such Dir erstmal Arbeit!" oder "Machen Sie eine Therapie!" ist den Leuten doch nicht geholfen. So lange sie die Gründe nicht begreifen, weshalb ihre Kinder bei ihnen nicht gut aufgehoben sind, werden sie ihr Verhalten auch nicht ändern. Und es kann niemand diese Menschen daran hindern, weitere Kinder zu bekommen. Bis dann auch das nächste wieder in Pflege muss, weil sich bei der Mutter/dem Vater/beiden nichts geändert hat.

Meines Erachtens macht man sich zuwenig Gedanken darum, wie man die Kompetenz der Eltern stärken kann, und das besonders unter schwierigen Umständen. Rein sachliche Hilfen wie z.B. zur Bewältigung des Haushalts reichen da nicht. Das Problem liegt in der psychischen Verfassung der Eltern. Es geht also nicht nur um "herausnehmen oder nicht herausnehmen", sondern darum, wie man gute Bedingungen für die Kinder schaffen kann - im Übrigen egal, ob bei leiblichen Eltern, im Heim oder in der Pflege.

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Verwahrlosung
Hierzu gibt es eine interessante Forderung der ehemaligen Heimkinder im aktuellen Abschlußbericht "Runder Tisch Heimerziehung":
"Dem Gesetzgeber wird empfohlen, den Begriff „Verwahrlosung“ in Art. 6 Abs. 3 GG durch folgende Neuformulierung von Absatz 3 Art. 6 GG zu ersetzen: „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur dann aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die
Erziehungsberechtigten in der Weise versagen, dass die Grundrechte und damit das Wohl des Kindes erheblich verletzt werden.“
http://www.rundertisch-heimerziehung.de/
Wohlgemerkt, es sind hier die "Kinder", die sich aufgrund ihrer Erfahrungen äußern.

Ansonsten:
Es dürfte wohl unbestritten sein, daß es weder "nur heile" noch "nur kaputte" Familien gibt. Jede Familie hat beide Anteile.Liebe ist sicher das Wichtigste überhaupt für "das Kindeswohl". Wo sie fehlt, fehlt alles, egal welche "Maßnahmen" getroffen werden.
Interessant bei der o.g. Forderung ist die Prioritätensetzung der "Kinder" zugunsten der Familie, sei sie auch nicht perfekt.
Grundsätzlich wäre familienfreundliche Politik sicher hilfreicher für "das Kindeswohl" als staatliches "herumdoktern" an den Symptomen von Arbeitslosigkeit, HartzIV, Kinderarmut etc., die letztendlich in den Statistiken als "Überforderung der Familie" auftauchen, um sodann "das Jugendamt" auf den Plan zu rufen.
Hilfen für Familien dürfen nicht erst einsetzen wenn "das Kind in den Brunnen gefallen ist", der quasi von Staats wegen gegraben wurde - politisch verursachte Verwahrlosung der Jugend in großem Stil.

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@Sturmfrau
Wie gelingt es, Eltern sensibel für die Bedürfnisse ihrer Kinder, für die Pflichten der elterlichen Sorge und für Grenzen zu machen?

Auch wenn diese Frage wichtig und berechtigt ist und unbedingt nach Antworten gesucht werden muss – die Ursache für Vernachlässigung oder Misshandlung und Missbrauch wird man nicht allein durch die Beantwortung dieser Frage beheben. Kinder aufzuziehen ist eine enorme Anforderung, denn man muss sehr viele der eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Durch meine Arbeit werde ich immer wieder mit Menschen konfrontiert, die dazu nicht in der Lage sind - nachts aufstehen, wenn das Kind schreit, sich mit einem Kind beschäftigen, auch wenn man gerade andere Dinge erledigen muss, darauf verzichten, abends weggehen zu können, auch wenn man müde ist, bei den Schularbeiten zu helfen und zum Elternabend zu gehen oder das Kind vom Sport abzuholen – all dies stellt für manche Menschen eine zu hohe Anforderung dar.

Als ich noch im Drogenbereich tätig war, wollten manche der drogenabhängigen Frauen unbedingt ein Kind. Jeder der Frauen wusste, dass es schädlich ist, wenn Drogen oder die Substitution während der Schwangerschaft weitergenommen werden. Aber keine der Frauen hat es geschafft, aufzuhören. Dies bedeutet, dass das Neugeborene gleich nach der Geburt einen Entzug durchmachen muss. Eine Kollegin, von Beruf Krankenschwester, hat durch ihre Arbeit auch Erfahrungen im Kreißsaal gemacht. Sie hat Geburten miterlebt, bei denen die Mütter während der Schwangerschaft Drogen nahmen oder mit Polamidon substituiert wurden. Die Kollegin beschrieb, wie furchtbar die Neugeborenen unter dem Entzug leiden. Trotzdem hat man den Müttern die Kinder gelassen. Und ausnahmslos kam es dann irgendwann dazu, dass die Kinder in eine Pflegefamilie mussten, da die Mütter ihre Kinder völlig vernachlässigten.

Ich bin der Meinung, wenn eine Frau sich dafür entscheidet, während der Schwangerschaft nicht mit dem Drogenkonsum oder der Substitution aufzuhören, dann verfügt sie nicht über die Fähigkeiten, die eine Mutter haben muss.

@ekji
Hilfen für Familien dürfen nicht erst einsetzen wenn "das Kind in den Brunnen gefallen ist", der quasi von Staats wegen gegraben wurde - politisch verursachte Verwahrlosung der Jugend in großem Stil.

Ich kann nur wiederholen, dass viele Hilfen eben nicht immer erst zu spät eingesetzt werden. Bei meinen Betreuten, die schwanger waren, habe ich schon vor der Geburt veranlasst, ein dichtes ambulantes Hilfesystem aufzubauen. Und zu diesem Hilfesystem gehörten auch sehr engagierte Mitbeiterinnen, die alles andere als bevormundend und kontrollierend arbeiteten. Und trotzdem ist das Ergebnis letztendlich traurig und frühkindliche Störungen zeichnen sich ab.

Es ist zu einfach, immer nur dem Staat die Schuld zu geben. Es stimmt, dass in dieser Gesellschaft, in der es immer nur um Gewinnmaximierung geht, etwas völlig aus dem Ruder läuft und sich niemand – einige wenige ausgenommen – sich ernsthaft darüber Gedanken macht, wie man etwas ändern könnte. Aber diese Fehlentwicklung spiegelt sich auch im Einzelnen wieder. Und der Einzelne trägt dann wiederum zu genau dieser Entwicklung erneut bei.

Das, was in unserer Gesellschaft falsch läuft, wird man weder allein durch massive ambulante Hilfen noch durch rigorose Wegnahme der Kinder auffangen können. Eine Veränderung müsste an den Ursachen ansetzen und mit der Frage beginnen: „Warum sind viele Menschen zunehmend mit den Aufgaben der Kindererziehung so überfordert?“ Welches sind die Faktoren, die dazu geführt haben, dass bestimmte Fähigkeiten weniger als früher vorhanden sind?

Die Antwort würde mit Sicherheit nicht aus einem oder zwei Gründen bestehen. Das macht es ja so schwierig.

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Ich denke, es ist kein Entweder-Oder. Die Sensibilität für die Bedürfnisse anderer ergibt sich aus derjenigen für die eigenen. Drogenkonsum ist Selbstschädigung in großem Maßstab, und so lange diese nicht aufhört, kann eine solche Mutter auch ihrem Kind nicht gerecht werden. Dabei stellt Drogenkonsum nur eine Möglichkeit aus einer breiten Palette von Problemen dar. Ich fürchte, die meisten Menschen, die Eltern werden, sind sich der eigenen Defizite nicht bewusst.

Natürlich wäre es schön und wünschenswert, wenn jeder, der ein Kind bekommt, sich über seine Motive klar wäre. Das ist aber nicht der Fall. Viele Menschen sind schlicht nicht bereit, sich ihren Dämonen zu stellen, und das wäre eigentlich nötig, um Kinder nicht mit seelischen Altlasten zu überfrachten und ihnen gute Eltern zu sein. Dazu kann man niemanden zwingen, so gern man es vielleicht auch täte. Wenn es das Kindeswohl erfordert, muss eingegriffen werden - das sehe ich auch so. Nach all den Erkenntnissen, die man heute über die Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern hat, sollte das meines Erachtens auch schon früher geschehen. Die Zeiten sind vorbei, in denen es hieß: "Der/die ist noch so klein, der/die kriegt eh nichts mit!" Es mag brutal klingen, aber ich bin der Ansicht, dass man durchaus auch schon ankündigen können sollte, z.B. drogensüchtigen Müttern ihre Kinder direkt nach der Geburt wegzunehmen. Sie erfüllen schlicht schon durch die Tatsache ihrer Sucht nicht die Anforderungen, die eine Elternschaft mit sich bringt.

Bei weniger offensichtlichen Problemen als der Drogensucht ist das natürlich schon viel schwieriger. Wie immer bleibt es ein Abwägen: Schadet es dem Kind mehr, bei den Eltern zu bleiben oder ihnen weggenommen zu werden? Da Elternschaft in unserer Gesellschaft teilweise sehr verherrlicht wird (was sich schon an dem Begriff "Sorgerecht" zeigt), glaubt man noch immer, dass Eltern diejenigen Personen sind, die am besten für ihre Kinder sind. Es ist unter anderem auch ein Relikt aus dem Dritten Reich, dass man sich scheut, von staatlicher Seite einzugreifen und Eltern für erziehungsunfähig zu erklären - ich denke da an die grausame Praxis der Zwangssterilisation von "asozialen" und "geistig kranken" Menschen - da möchte man zu Recht nicht wieder hin. Ich wäre die letzte, die ein solches Vorgehen befürwortet. Dennoch werden heute an Eltern keinerlei Anforderungen gestellt - jeder, der sich irgendwas davon verspricht, kann ein Kind in die Welt setzen. Das widerläuft dem Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Kinder werden immer noch als Eigentum ihrer Eltern betrachtet und es gilt als Eingriff in deren Persönlichkeitsrechte, wenn man sich in die Erziehung einmischt und nach dem Wohlbefinden der Kinder fragt.

Was sich geändert hat im Vergleich zu früher: An die Stelle der lieblosen, macht- und autoritätsbezogenen Erziehung, die sich noch im Rahmen starrer Normen bewegte, ist eine Erziehung getreten, in der allein die Liebe alles gilt, es aber keinen Halt mehr gibt. Aber die zweifellos vorhandene Liebe der Eltern ist noch längst kein Garant für das Wohlergehen der Kinder. Gut gemeint ist nicht gut getan. Und in ihrer Bewusstlosigkeit verwechseln Eltern den eigenen Wunsch nach einem Liebesobjekt mit der Fähigkeit, im Sinne elterlicher Liebe zu handeln.

Ein Kind zu haben ist praktisch: Man hat Zugriff auf ein voll und ganz abhängiges Wesen, das einen bedingungslos liebt (weil es nicht anders kann, wohlgemerkt!!) - Kriterien, die andere Menschen nicht so ohne weiteres erfüllen. Ein Kind bietet eine Projektionsfläche für die eigenen Wünsche und Bedürfnisse ("Er/sie soll es mal besser haben als ich!"). Ein Kind bietet die Hoffnung auf Verbesserung des eigenen Lebens ("Wenn es erst da ist, dann kriege ich meine Beziehung/Sucht/Lebenssituation schon in den Griff!", "Kinderschitt ist Ehekitt!"). Etwas ähnliches dürfte auch die besagten drogensüchtigen Mütter motivieren. Ein Kind vermittelt Wärme und Zusammengehörigkeit, ohne offen die emotionalen Ansprüche eines Erwachsenen (z.B. nach Rücksichtnahme, Selbstreflektion, reifem Verhalten u.a.) zu stellen. Dass es andere Ansprüche hat, die befriedigt werden müssten, fällt unter den Tisch, denn das Kind kann sich weder äußern noch wehren auf eine Weise, die solche Eltern zu lesen verstehen. Am Ende ist es doch wieder nur das Kind, das auffällig, schwer erziehbar oder hyperaktiv, später kriminell, süchtig oder "faul" ist.

Ganz illusionsfrei - die Fähigkeiten, die eine Mutter haben muss, sind selten einfach so gegeben. Muttersein ist entgegen vieler Annahmen keine Instinktsache. Menschen, die Kinder kriegen, sollten selbst erwachsen sein, aber ich schätze, sie sind es im Großteil der Fälle nicht.

Zu den Bedürfnissen von Kindern ist hinreichend geforscht worden - an Wissen mangelt es also nicht. Wie vermittelt man das, was man weiß? In Elternkursen? Schulungen für Jugendamtsmitarbeiter? Oder lehnt man sich zurück und sagt pauschal: "Die Gesellschaft muss sich ändern, weil sie die persönlichen Probleme der Eltern erst hervorruft!"? Die Gesellschaft sind wir alle. Zum Lesen und Lernen kann man den einzelnen ebenso wenig zwingen wie zum Inanspruchnehmen von Hilfe. Ich bin ziemlich ratlos, wie das Problem zu lösen wäre...

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Dem, was Du schreibst, ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Deine Formulierung „Verherrlichung der Elternschaft“ trifft genau den Punkt. Heute kann man selbst entscheiden, ob man ein Kind möchte, was natürlich auch überhaupt nicht zu kritisieren ist. Aber dadurch bekommt das Ganze nicht selten einen rosaroten Anstrich. Früher war Schwangerschaft durchaus nicht immer das große Glück und entsprechend wurde sie auch nicht so rosarot verklärt. Heute ist das Thema Schwangerschaft, Kind, Elternschaft entsetzlich ideologiebesetzt. Ich finde es sehr interessant, dass heute die Formulierung „ein Kind bekommen“ oftmals durch die Formulierung „ein Baby bekommen“ ersetzt wird. Süß, kuschelig, klein, niedlich – es wird ausgeblendet, dass dies nur eine sehr, sehr kurze Zeit so ist. Aber auch Kinder sind heute keine Kinder mehr, sondern „Kids“. Ebenfalls eine Verniedlichung, zu der Probleme und Stress so gar nicht passen wollen.

Es wurde früher als durchaus normal empfunden, dass die Tatsache, ein Kind zu bekommen, nicht immer zwangsläufig das große Glück darstellen muss. Darin steckte eine große Portion Realismus, denn Elternschaft hat nicht nur glückliche Seiten, sondern auch sehr anstrengende und fordernde. Früher war sich jeder weitgehend bewusst, dass Elternschaft auch eine enorme Einschränkung des eigenen Lebens darstellt. Heute scheinen Eltern davon völlig überrascht zu sein und nicht wenige Beziehungen zerbrechen an den Anforderungen, die durch die Elternschaft bestehen.

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ähm
Lösung? Für die wenigsten Probleme gibt es die Lösung. Leben ist das stetige Reagieren auf Problemlagen ... und ihrer Verdrängung ;)

Ich stimme Ihnen - nach einer guten halben Stunde reiflichen Lesens - in fast allem zu. Bei P.Aries "Eine Geschichte der Kindheit" können Sie sich im Gruselkabinett der Erziehungsmethoden zurücklesen bis zum ungesühnten Kindsmord in Griechenland. Es ist besser denn je!

Ein wenig bedenklich finde ich es, drogenabhängigen Müttern prinzipiell die elterliche Sorge zu entziehen. Ich kann den Gedanken als niedrigschwellig, akzeptierender Drogensozialarbeiter durchaus nachvollziehen. Vielleicht liese sich aber im Gegenzug die Bedeutung der Leiblichkeit koppeln, mit einer Stärkung des Besuchs- und Mitbestimmungrechts. Zentral wären hier allerdings Standards, Standards, Standards. Sozusagen ein Grundgesetz der Sozialarbeit. Wer ist abhängig, ab wieviel von was? etc etc

Bezüglich Drogen und Kindheit: Ich erlebe in der Arbeit Gewalt als die Grundursache der Drogensucht. 90% und der Rest, glaube ich, erzählt es mir nur nicht. Das erstreckt sich dann vom Schlüsselkind bis dahin, daß man nach der Geburt in die Mülltonne geschmissen wurde, von der emotionalen Deprivation in gehobenem Hause bis hin zur Folter.

Die Wirkungskette kann aber ganz unterschiedlich sein. Die Droge als Medikament. Kokain für ADHSler, Heroin für Borderliner und Schmerzpatienten, Extasy für Depressive und Kiffen für Sozialarbeiter ;) Da hilft es dann oft, das Medikament zu wechseln: Ritalin, Zyprexa, Valoron, Doxepin und eine andere Arbeit oder Rotwein. Die Frage, wie wir im Minenfeld der Pharmakologie einen stofflich Drogenabhängigen (für die Standards) definieren können ?!

So manche ehemals drogenabhängige Mutter aus meinem Bekanntenkreis würde zudem widersprechen, daß es nicht auch klappen kann - auch nach der Geburt - und daß daraus ganz wunderbare Familien entstehen können. Die "Versager-"quote bei den Vätern möchte ich garnicht kennen, sage ich als Mann.

Mir scheint als könnten wir durchaus mehr erreichen, wenn wir - nur wer ist hier wir - unser Geld anders anlegen würden. Wenn wir uns gesellschaftlich umorientieren würden. Wenn wir uns Stück für Stück ausklinken aus dem bisherigen System und uns schon jetzt was Neues überlegen.

Ich vermute, nicht nur hierzulande ist es besser, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Und das macht es für uns jeden Tag wieder spannend, mitzuwirken an der Umgestaltung unserer Gesellschaft. Ich bin aber froh, daß ich bei elterlicher Sorge und Sicherungsverwahrung nichts mitzureden habe.

Bei der elterlichen Sorge macht mir Angst, was ich in Rumänien/USA bei einer amerikansichen Adoptionsvermittlung gesehen habe: Wenn wir soziale Armut und ihre Auswirkungen dadurch angehen, indem wir Kinder wegnehmen, anstatt Essen und Ausbildung zu geben.

Bei der Sicherungsverwahrung merke ich, wie mich das öffentliche Klima immer mehr abbringt vom eigentlichen Zehn-Stufen-Plan mit einer positiven Prognose.
Andererseits wohne ich witzigerweise Haus an Haus mit einem Mörder allein in einem einsamen Tal und ich weiß: er ist der größte Schutz für mich vor anderen und er ist die geringste Bedrohung für mich. Denn nur er hat schon beide Seiten gesehen, die des Täters als Opfer und umgekehrt. Nur er hat sich damit so intensiv auseinandergesetzt und neu konditioniert ... in uns allen anderen steckt der Mörder noch ... oder auch nicht ;)

Es würden uns allen auf jeden Fall besser gehen, wenn wir ein wenig den Druck rausnehmen. In der Arbeitswelt und in der Ausbildung, in der Ehe und mit den Kindern. Aber vor allem, den Druck auf uns selbst. Und das ist eigentlich garnicht so schwer.

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Wenn ich von "Wegnehmen" spreche, dann meine ich damit natürlich mitnichten die anschließende Versteigerung des Kindes an den Meistbietenden. Aber mir stehen hier die Bedürfnisse der Kindsmutter bzw. der Eltern zu sehr im Vordergrund. Natürlich ist es wünschenswert und wichtig, dass die Mutter weiterhin Kontakt zum Kind hält und die Chance bekommt, sich auch tatsächlich zu bewähren. Was aber nicht geht ist, dass frühkindliche Bedürfnisse ungedeckt bleiben, weil Mami sich noch nicht dazu entschlossen hat, für ihren Traum von einer "wunderbaren Familie" auch zu arbeiten - denn Arbeit ist es, und zwar vor allem Arbeit an sich selbst. Sonst setzt sich das Problem eben doch über Generationen fort (und die besagte Mülltonne ist, zumindest im bildlichen Sinne, nicht so weit entfernt).

Essen und Ausbildung sind das eine, und sie sind immens wichtig. Dort für Kinder aller sozialen Verhältnisse gute Bedingungen zu schaffen betrachte ich durchaus als Aufgabe des Staates (und wie schwer der sich damit tut, sieht man gerade mal wieder). Aber ich finde es halt problematisch, es darauf ankommen zu lassen, ob es mit der wunderbaren Familie klappt oder nicht. Ein Kind ist kein Experimentierfeld, und man muss sich nicht wundern, dass es möglicherweise ersäuft, wenn man es sehenden Auges in den Brunnen fallen lässt.

Wichtig bei alledem ist es natürlich, die gesetzlichen ebenso wie die Rahmenbedingungen für das Lebensumfeld des Kindes so zu gestalten, dass es sich gut entwickeln kann - sonst macht man auch als staatliche Behörde dieselben Fehler, die eine unfähige Mutter machen würde und es bessert sich nichts. Ich bin auch gar nicht dafür, der Mutter vollständig den Kontakt zu Kind zu untersagen, aber sie darf eben meiner Meinung nach nicht die Hauptsorge für das Wohlergehen des Kindes tragen, insbesondere nicht für das seelische, solange sie sich nicht einmal angemessen um das eigene kümmern kann. Dazu muss sie zu allererst befähigt werden, denn sonst nimmt das Kind Schaden. Man hilft also beiden, wenn man der Mutter hilft. Aber meiner Ansicht nach hat eine Mutter kein Recht auf ihr Kind, sondern das Kind das Recht auf die Mutter, die sich entsprechend kümmern können muss. Wenn sie das kann, ist sie die erste Wahl für das Kind. Wenn sie es nicht kann, ist (meiner bescheidenen persönlichen Meinung nach) der Aspekt der Leiblichkeit zu vernachlässigen zugunsten adäquater und liebevoller Pflege. Ein Kind kann sich nicht allein helfen, es kann sich nicht wehren, sich seine Lebensumstände nicht aussuchen - ein Erwachsener kann es. Sorry, ich weiß, ich wiederhole mich (hier wie andernorts). Aber es ist mir eine Herzensangelegenheit. Wie gesagt, das soll nicht bedeuten, dass ein Erwachsener keine Hilfe verdient und allein klarkommen sollte - im Gegenteil.

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daß Sie mich nicht falsch verstehen ...
ich gebe Ihnen in allem Recht. Im Grunde geht es mir weniger um die Eltern, als um die Kinder, denen die leiblichen Eltern nicht "ausgeredet" werden sollten. Je mehr Eingriff, desto mehr Respekt auch vor den Eltern. Je mehr Hilfe für das Kind, desto mehr Hilfe für die Eltern. Das klingt doch gut, oder?

Vielleicht bin ich schon zu lange dabei, denn irgendwie hab ich sie fast alle liebgewonnen, die Schwerstabhängigen. Gerade in ihrer oft groben Art finde ich oft mehr Ehrlichkeit als in der eloquenten Welt in der Ich lebe. Und wenn dann noch ein Quäntchen Quantenphysik mit reinspielt, dann weiß ich oft nicht mehr, was hier falsch und was richtig ist.

Wenn ich mich in die Welt eines Psychotikers reindenke, dann weiß ich eigentlich nicht, wie anders ich meine Welt als die wirkliche werten könnte, als daß ich schlichtweg die Mehrheit repräsentiere.

Unsere Gesellschaft ist nicht auf Familie ausgerichtet, sondern auf Profit. Wir arbeiten an unserer Gesellschaft und bezahlen mit unseren Steuern die tägliche Gewalt nicht nur in Afghanistan. Ich bin am zweifeln, ob unser Hilfesystem den Zustand nicht nur zementiert. Eine Gesellschaft mit weniger Profit und mehr Zeit, das würde vielleicht helfen. Da hätte ich schon die ein oder andere Idee.

Abschliesend noch kurz zu den Erwachsenen. Ich finde die Frage garnicht so einfach: Wann ist man denn erwachsen? Gewalt ist vorwiegend die Sprache jener, die sich anders nicht mehr zu helfen wissen, sich mit Worten nicht zu wehren - und einiger anderer. Und ihre Lebensumstände können sich viele auch nicht mehr aussuchen. Beim Entzug der elterlichen Sorge gibt es aber keine mildernden Umstände. Determiniert und trotzdem voll verantwortlich - ich glaube von Albert Camus.

Schon seit längerem wird viel aussortiert, an Menschenmaterial, und man weiß nicht so recht, wohin damit. Da bedarf es einer gründlichen gesellschaftlichen Umorientierung. Sonst erleben wir Zustände wie in den USA. Drogenpolitik, Familienpolitik, wie auch der Schutz des Kindes sind ein gesellschaftliches Steuerungselement. Die Finanzierung wie auch die Festlegung der Standards folgen einem Konsens, der hierzulande scheinbar von den Medien geformt wird. Es gilt sich einzumischen, wenn es nicht passt.

Freue mich schon immer auf abends, auf diesen Blog. Mein Ansatz ist immer etwas kraftvoll, um nicht zu sagen gewalttätig. Ich heiße ja nicht umsonst hartelinie. Das bitte ich, nicht falsch zu verstehen. Denn wenn Sie mal über unseren Kontinent hinausblicken, dann leben wir im Paradies.

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Denn wenn Sie mal über unseren Kontinent hinausblicken, dann leben wir im Paradies.

Ach je, das würde ich nicht unbedingt so sehen. Die Probleme auf unserem Kontinent liegen nur inhaltlich ein kleines bisschen anders als anderswo. Damit will ich nicht ignorieren, dass es uns materiell im Großen und Ganzen sehr gut geht und dass andere Menschen, die um ihre Existenz kämpfen müssen, sich vielleicht sagen würden: "Mensch, deren Probleme müsste ich mal haben!"

Sie schreiben von Menschenmaterial und Profit, und ich stimme mit Ihnen in dieser Hinsicht überein. Ich mache mir auch keine Illusionen über die Wirksamkeit der Bemühungen, die Familie als Institution, wie wir sie jahrzehntelang kannten, wiederherzustellen. Diese Strukturen basierten auf einer Ungleichbehandlung der Geschlechter und auf der Annahme, der Mann sei allein in der Lage, die wirtschaftliche Existenz der Familie sicherzustellen. Die Rollenverteilungen, auf denen das konservative Familienbild aufgebaut ist, sind schon allein deshalb weitestgehend überkommen, weil die Arbeit des Mannes (bzw. eines einzelnen "Versorgers", welchen Geschlechts auch immer) allein heute oft nicht mehr ausreicht und Frauen sich am Erwerbsleben beteiligen müssen. Dabei geht es noch gar nicht um Selbstverwirklichung und Wertschätzung der Arbeit von Frauen. Das ist wieder ein ganz anderes Kapitel. In dem Rahmen, den das globale Wirtschaftssystem des Kapitalismus vorgibt, ist der Mensch als Individuum mit seinen Bedürfnissen nicht gefragt, auch wenn die Werbung etwas anderes predigt. Wir sind verwertbares Rohmaterial, oder wir sind es nicht und fallen dann durch das Raster. Damit umzugehen hat uns niemand gelehrt und kann uns auch niemand lehren. Das müssen wir selbst hinbekommen. Dazu gehört auch, dass man lernt, neue Formen der gegenseitigen Sorge und Fürsorge zu finden und die Umstände zu verändern. Das aber nur als Gedankengang am Rande.

Zum Thema Erwachsenwerden: Es geht mir dabei hauptsächlich um die Übernahme der Verantwortung für die eigenen Emotionen und das eigene Handeln. Natürlich ist diese Art der Auffassung eher eine Orientierung an (m)einem Idealzustand. Ich bin mir durchaus bewusst, dass viele Menschen schlicht nicht dazu in der Lage sind. Das heißt aber nicht, dass ich das Ziel erstens deshalb weniger erstrebenswert finden muss, noch zweitens, dass das (zumindest in meinen Augen) für eine angemessene Kindererziehung nicht eine Vorbedingung sein dürfte. Die Frage ist, wie sich Menschen dazu befähigen lassen, aus ihrer Bewusstlosigkeit auszubrechen und die Verantwortung für ihr Seelenleben zu übernehmen. Wie Sie selbst so trefflich schrieben, stellen z.B. stoffliche Süchte eine Möglichkeit dar, den Zustand der Bewusstlosigkeit aufrecht zu erhalten. Sie verhindern eine Bewusstwerdung des eigenen Schmerzes und der eigenen Ängste und schützen somit vordergründig die seelische Stabilität des Einzelnen. Ähnlich verhält es sich auch mit nicht-stofflichen Süchten, z.B. Arbeits-, Spiel- oder Beziehungssucht.

Wir spüren im Allgemeinen die Inakzeptabilität gewisser Gefühle, lernen sie als lediglich gefährlich, unerwünscht und negativ kennen, und das hindert uns an der Bewusstwerdung - die Ängste sind größer. Zumal sich der Glücksdruck in unserer Gesellschaft stets erhöht, während uns unsere unbewussten Antennen aber genau sagen: Niemand ist immer und allzeit glücklich. Die Diskrepanz zwischen den tatsächlich vorhandenen und den erwünschten Gefühlen lässt viel mehr Menschen innerlich verzweifeln, als nach außen sichtbar wird. Ja, sicher sind "Ihre" Drogenabhängigen ehrlich - sie zeigen deutlich, dass sich der Mensch nicht verformen und verwerten lässt, ohne darunter zu leiden, und sie spiegeln damit die Mängel und Unfähigkeiten ihrer Umgebung.

Dass das so ist, will ich weder in Abrede stellen, noch wagte ich zu behaupten, dass Menschen, die ein Kind erziehen wollen, möglichst konform mit der Gesellschaft, Wirtschaft und dem Markt gehen sollten. Wenn ich von den Bedürfnissen der Kinder spreche, die manche (vielleicht sogar viele) Eltern nicht decken können, dann meine ich damit essentielle Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, Gehalten- und Gesehenwerden, elterlicher Präsenz und Authentizität, nach Grenzen, Rahmen, Sicherheit und Vorbild. Ich meine damit nicht den "Early English"-Kurs für die lieben Kleinen und die notorische Frühüberförderung der Kinder, oder etwa Eltern, die ewig grinsend durch die Gegend laufen oder sich selbstlos geben, um ihre Kinder nicht mit den Unbillen des Lebens zu konfrontieren. Jemand, der sich permanent Gedanken darüber macht, ob er/sie eine gute Mutter/ein guter Vater ist, ist in der Tat doch eher ich-fixiert als auf das Kind gerichtet. Und wenn ich dann das Erwachsenwerden anschneide, dann meine ich eine Lösung von dieser Ich-Fixierung zugunsten der adäquaten Sorge um ein zunächst vollkommen hilfloses menschliches Wesen.

Ob nun Dein Ansatz kraftvoll bis gewalttätig oder gar hart ist - keine Ahnung. Ich habe Schwierigkeiten, Menschen für hart zu halten, die sich selbst als hart bezeichnen... Ich denke, Du siehst es mir nach. Ebenso wie die Tatsache, dass ich den Zusammenhang zu Quantenphysik nicht verstehe (vielleicht auch nicht will) und das Auftauchen von Psychotikern in diesem Kontext nicht wirklich einordnen kann.

@Gitta: Ich hoffe, ich bin nicht zu weit abgeschwiffen... Thema verfehlt?

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@einemaria
Mir ist es während meiner Arbeit im niedrigschwelligen Drogenbereich nicht gelungen, die Schwestabhängigen liebzugewinnen, weswegen ich die Arbeit dann auch beendet habe. Ich habe mich gefragt, woran das lag und ich glaube, es ist das mit der Drogensucht verbundene Selbstmitleid, das ich nicht mehr ertragen konnte. Sich von vorneherein als Opfer anzusehen und dieses Rolle gar nicht verlassen zu wollen – das ist zwar einerseits vor dem Hintergrund der Biographie verständlich, aber dennoch nicht für jeden auszuhalten. So manche der Kolleginnen haben in meinen Augen auch zumindest teilweise diese Opferideologie unterstützt. Und genau damit verhindert man die Unterbrechung dieses verhängnisvollen Kreislaufs.

„Das über diesen Kontinent hinausblicken“ halte ich auch für wichtig und es bringt mich auch immer wieder zum Nachdenken. Wenn ich die Armut „hier“ mit der Armut in der Dritten Welt vergleiche, dann komme ich ins Grübeln. Obwohl es von der rein materiellen Seite gesehen den Menschen in der Dritten Welt erheblich schlechter geht, scheint es mir hier „bei uns“ manchmal trotzdem würdeloser zu sein. Armut inmitten einer von Überfluss geprägten Konsumwelt ist keine existentielle Armut, aber es ist vielleicht dennoch mit mehr sozialer Ausgrenzung und Entwürdigung verbunden.

@Sturmfrau
Auch ich bin genau wie Du weit davon entfernt, Kindererziehung nur denjenigen erlauben zu wollen, die mit unserer Gesellschaft konform gehen (das wäre auch verheerend…). Aber Menschen, die schon mit ihrem eigenen Leben massive Schwierigkeiten haben und die nur mit umfangreicher Hilfestellung von außen ihren Lebensalltag bewältigen, sollten darüber nachdenken, ob sie überhaupt in der Lage sind, ihrem Kind den nötigen Halt und die nötige Geborgenheit zu geben, die es für eine gesunde Entwicklung benötigt. Ich bin immer wieder sprachlos, mit welcher Naivität und Unbedachtheit manche Menschen diese Frage konsequent und rigoros ausklammern. Und wir Sozialarbeiter vermeiden die dringend erforderliche Thematisierung genauso konsequent. Meinem Gefühl nach scheint es ein regelrechtes Tabu für die Thematisierung zu geben. Kinderkriegen ist nun mal das Natürlichste von der Welt, also muss auch bedingungslos abgenickt werden. Irgendwie ist das nicht so weit entfernt von dem Abtreibungsverbot der katholischen Kirche, die davon ausgeht, dass jede Frau aufgrund ihrer biologischen Voraussetzung automatisch in der Lage ist, einem Kind das zu geben, was es braucht.

Du bist natürlich nicht zu weit abgeschweift! Dieses Thema ist nun mal so komplex und hängt mit so vielen anderen Faktoren zusammen, dass die Berührung anderer Probleme unvermeidlich ist.

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@behrens
Dem kann ich nur zustimmen. Eigentlich sehe ich das das ganze System als in sich verhaftet. Jeder lebt ganz gut damit. Nur die einen werden eigentlich dafür bezahlt, dem entgegenzuwirken.

Für das Gefühl, daß wir hierzulande unserer eigenen Würdelosigkeit zumindest entgegenwirken können, ist es hilfreich, sich hin und wieder unter die Ärmsten zu mischen.
Zitat: "Poverty does have the appearence of a simple life that we admire after having had a three course dinner but it is boring to death. The guy downstairs in the armchair didnt move a slightest bit since we have moved into our hotel. Walking Ouagadougou after 10pm you see these armchair people all over, not a word leaving their lips, apathetic. They die before they are dead. Poverty hurts even just standing by and in the end it kills before you get thirty. Finished!"

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Kinderkriegen ist nun mal das Natürlichste von der Welt - das ist eine Annahme, die viele Probleme verursacht. Man nimmt leider auch an, dass es so etwas wie ein fundamentales Recht auf Elternschaft gibt. Das zeigt sich schon allein an den mir persönlich erschreckend anmutenden Bemühungen unfruchtbarer Paare, partout auf künstlichem Wege ein leibliches Kind zu bekommen - die zum Teil auch noch von den Kassen subventioniert werden. Ich habe nur wenig Verständnis dafür - auch wenn ich mich mit dieser Ansicht möglicherweise unbeliebt mache.

Ich meine, wenn Menschen wie die drogenabhängigen Mütter immer und immer wieder schwanger werden, dann hängt das damit zusammen, dass sie etwas haben wollen. Geben können sie nicht. Und so ist das Neugeborene dafür zuständig, dass sich die Mutter gebraucht fühlt, dass sie einen "Sinn" im Leben findet, dass sie in den Genuss der Wärme und Anhänglichkeit dieses Wesens kommt und eine symbiotische Verbindung genießen kann, die ein Erwachsener - schon gerade unter diesen schwierigen Bedingungen - nie liefern würde. Kinder sind enorm anpassungsfähig, auch wenn sie darunter leiden (Überleben ist nicht gleich Leben). Die Gefahr besteht auch bei Kindern, die nicht in solche Verhältnisse hineingeboren werden, aber erstens bekommen solche Kinder im Austausch, worauf sie angewiesen sind, und die Eltern sind in der Lage, sich zu hinterfragen und mit den Kindern zu entwickeln.

Das, was diese Mütter sich wünschen oder haben wollen bietet indes aber einen deutlichen Hinweis darauf, was ihnen fehlt: Das Gefühl, nicht verlassen zu werden (Sicherheit!), bedingungslose Liebe zu erhalten, in einem Zustand von Wärme, Lebendigkeit und Kontakt zu sein. Das sind Dinge, die wir alle brauchen, idealerweise aber auch mehr oder weniger bekommen. Aber den besagten "Schlüssel-" bis "Mülleimer-Kindern" fehlt diese Basis. Die Konsequenzen sind in meinen Augen logisch.

Was das Über-den-Kontinent-Hinausblicken betrifft, wollte ich keineswegs die Probleme anderer Weltteile bagatellisieren. Ich bin der Ansicht, dass die Probleme, die wir hier haben und die Probleme in anderen Ländern aus derselben Quelle stammen. Unser materieller Wohlstand geschieht auf Kosten der sogenannten Schwellen- und Dritte-Welt-Staaten. Auch hier bei uns entstehen "Kosten" (ich meine nicht die monetären), aber sie sind für uns weniger sichtbar. Wir entfremden uns vom eigenen Leben, weil die Lustbefriedigung, die uns als "Glück" vorgegaukelt wird, unsere wahren Bedürfnisse nicht deckt - wir bleiben innerlich leer, sogar dann, wenn wir scheinbar alles haben. Unser kapitalistisches System ist verselbständigter Selbstzweck - wir wissen schon längst nicht mehr, was wir wirklich brauchen. Dieses System ist über alle Maßen zerstörerisch: Es bringt Kindersoldaten und Blutdiamanten ebenso hervor wie völlig verwüstete Landstriche, Hungerbäuche, Großstadtalkoholiker, im "Wohlstand" verhungerte Kinder und koksende Manager. Die Annahme, Armut sei das Problem, lässt den Rückschluss zu, mit Wohlstand sei das Problem zu lösen, aber das trifft nicht zu. Das Problem ist die auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Verwertungsmaschinerie, die uns wie Rohstoffe verheizt und uns im Gegenzug nur die Karotte an der Angel vor die Nase hält und uns mit einem innerlichen "Wenn ich nur erst...!" sitzenlässt. Wir haben das selbst geschaffen, sind seiner aber längst nicht mehr Herr. Meine zwo Cents...

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