Dienstag, 29. November 2011, 03:11h
Meine Betreuten III – Traumatisierungen aus der Nazizeit
Bei einer meiner Betreuten hatte ich schon immer den Verdacht, dass jemand aus ihrer Familie während des Dritten Reichs von den Nationalsozialisten umgebracht wurde. Und obwohl ich meine Betreute Frau V. schon fast elf Jahre betreue, ist es mir nie gelungen, ein wenig mehr darüber zu erfahren. Dies liegt daran, dass die 84jährige Frau V. sowohl an einer psychotischen Erkrankung als auch an dementiellen Symptomen leidet. Meist ist sie so aufgeregt, dass sie von einem Thema zum anderen springt und es nicht möglich ist, konzentriert über eine Sache zu sprechen.
Heute allerdings war dies anders. Ich besuchte Frau V. in der Tagespflegestätte, weil sie dringend etwas mit mir besprechen wollte. Meist sind es ganz banale Dinge, wie zum Beispiel ein Werbebrief oder etwas, was sie falsch verstanden hat, was Frau V. in so große Aufregung bringt, dass sie mit mir sprechen will. Als ich sie heute antraf – sie hatte gerade einen Mittagsschlaf gemacht und war ungewohnt ruhig – hatte sie schon wieder vergessen, was sie eigentlich mit mir besprechen wolle. Ich weiß nicht mehr genau, wodurch wir auf das Thema kamen, aber wir gelangten wieder einmal zu ihrer Vergangenheit und wie immer sprach sie davon, dass „jemand abgeholt wurde“. Diesmal ließ ich nicht locker und fragte immer wieder nach. Und dabei kam ihr schreckliches Erlebnis aus der Kindheit ans Licht.
Die Mutter von Frau V. war blind und während des Dritten Reichs wurde sie aufgrund ihrer Behinderung irgendwann abgeholt und kehrte nie wieder zurück. Weder Frau V. noch ihr Vater oder sonst irgendjemand hat jemals erfahren, was mit der Mutter passierte. Bei Frau V. die meiner Rechnung nach damals im Alter von zehn bis achtzehn Jahren alt gewesen sein muss, hat dies spurlose Verschwinden der Mutter einen großen Schock ausgelöst. Anscheinend reagierte sie darauf so heftig und nachhaltig, dass dies auch anderen auffiel. Nach Meinung von Frau V. hat eine Haushaltsangestellte dann jemand von der Behörde über ihren Zustand informiert. Dies hatte die tragische Folge, dass auch Frau V. abgeholt und in eine geschlossene Anstalt gebracht wurde. Der Vater von Frau V. schien wohlhabend zu sein, denn er beauftragte einen sehr renovierten Anwalt damit, sich für die Rückkehr von Frau V. einzusetzen. Der Anwalt erreichte schließlich, dass Frau V. nach Hause zurückkehren durfte. Frau V. erinnert sowohl den Namen des Anwalts als auch den der Hausangestellten.
Bei Frau V. hat dieses schreckliche Erlebnis zu einer schweren Traumatisierung geführt. Sie war zwar zeitweilig in der Lage, zu arbeiten und hat später auch geheiratet, aber sie war nie wirklich belastbar. Dadurch, dass sie auch noch zwei weitere schwere Schicksalsschläge erlebt hat, hat sie dann vollends ihre psychische Stabilität eingebußt. Nur durch die Einnahme von Medikamenten kann sie einigermaßen angstfrei leben.
Nach dem Gespräch ist mir auf erschreckende Weise klar geworden, warum Frau V. schon durch kleine Vorfälle oder Unregelmäßigkeiten völlig beunruhigt ist und immer das Gefühl hat, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren kann. Eine Mutter, die plötzlich spurlos verschwindet und nie wieder auftaucht. Danach eine Zwangseinweisung in eine geschlossene Anstalt weitab von zuhause. Das sind Wunden, die niemals ganz verheilen.
Ich möchte noch anfügen, dass Frau V. trotz allem, was man angetan hat, nur an das Gute im Menschen glaubt. Und in ihrer Gutmütigkeit verschenkt sie dann sogar oftmals ihr Geld oder Lebensmittel, so dass für sie selbst kaum genug übrig bleibt.
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