Sonntag, 23. Oktober 2011, 14:56h

Die Zahlen explodieren – Kettenreaktionen in der sozialen Arbeit

behrens

In der psychosozialen Arbeitsgruppe, in der sich einmal monatlich Vertreter der diversen Einrichtungen unseres Bezirks treffen, wurde beim letzten Treffen über die Zunahme der Anträge auf Einrichtung einer Betreuung gesprochen, die mittlerweile so zahlreich sind, dass es nur noch möglich ist, mit Hilfe einer Deckelung die Bearbeitung zu bewältigen. Gleichzeitig hat sich in der Zeit, in der ich an der psychosozialen Arbeitsgruppe teilnehme, die Zahl der Teilnehmer, die einem Anbieter von PPM (Personenbezogene Hilfen für psychisch kranke Menschen) angehören, erhöht. Von zwei Seiten – der rechtlichen und der pädagogischen – wird folglich eine Zunahme des Bedarfs an Betreuung deutlich, der wiederum zeigt, dass immer weniger Menschen in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.

Ich glaube allerdings, dass es auch noch einen anderen Faktor gibt, der bei der augenfälligen Zunahme des Bedarfs an Betreuung eine Rolle spielt. Hierzu muss man sich die verschiedenen Hintergründe der Antragstellung auf Betreuung ansehen. Es kommt nämlich sowohl vor, dass ein PPM-Träger eine rechtliche Betreuung beantragt als auch dass ein rechtlicher Betreuer eine pädagogische Betreuung beantragt. Was sind die Gründe hierfür?

Zum einen gibt es den Grund, dass man seinen Betreuten so gut wie möglich versorgt wissen will. Er oder sie soll die Hilfen erhalten, die zur Bewältigung des Lebensalltags erforderlich sind. Rechtliche Betreuung spielt sich in der Regel nicht vor Ort ab und erfüllt somit nicht den Bedarf der Alltagsbegleitung. Pädagogische Betreuung ist vorrangig Beziehungsarbeit und kann einen hohen Anfall von administrativen Aufgaben somit meist nicht befriedigend erfüllen. Aufgrund der völlig verschiedenen Arbeitsaufträge kann unter Umständen die Beantragung der jeweiligen anderen Betreuungsform folglich eine unumgängliche Erfordernis sein.

Ich habe aber die Vermutung, dass es noch ein weiteres Motiv für die Beantragung der jeweiligen anderen Betreuungsform gibt. Eine Betreuung stellt oftmals auch ein sehr hohes Maß an Verantwortung dar. Und vielleicht spielt es eine Rolle, dass man Verantwortung lieber teilen möchte, als sie allein zu tragen. Was nicht unbedingt als Furcht vor der Verantwortung einzustufen ist, sondern vielmehr als Furcht davor, in seiner Arbeit mangelhaft zu sein. Wenn man beispielsweise einen psychisch kranken Menschen rechtlich betreut, kann man – wenn man Glück hat – den Bereich des Wohnens, der Finanzen und der Antragstellungen ausreichend regeln. Aber zusätzlich auch noch den Bereich der sozialen Einbindung zufriedenstellend zu regeln, übersteigt dann allerdings meist die Möglichkeiten. Ein pädagogischer Betreuer wiederum kann – auch nur wenn er Glück hat – erreichen, dass der Betreute seinen Lebensalltag so verändert, dass er wieder in der Lage ist, eigenständig am sozialen Leben teilzunehmen. Wenn der Betreute sich allerdings auch weiterhin so verhält, dass er immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten gerät, stößt der pädagogische Betreuer an seine Grenzen.

Diese Grenzen, an die man in der sozialen Arbeit zwangsläufig immer wieder stößt, sind etwas, das nicht nur auf Dauer schwer auszuhalten ist, sondern das auch immer wieder in Rechtfertigungsnöte bringt. Ob pädagogischer oder ob rechtlicher Betreuer – wenn der Betreute nicht in der Lage ist, sich zu verändern und beispielsweise immer wieder in stationäre Behandlung kommt oder immer wieder in Konflikt mit dem sozialen Umfeld gerät, dann wird die Ursache unweigerlich nicht in der Person des Betreuten gesehen, sondern im Betreuer. Dem wird plötzlich Allmacht (in der Sozialpädagogik wird dies gern Omnipotenz genannt) zugesprochen und somit hat man auch endlich das, was soziale Missstände und Konflikte so schön einfach und übersichtlich macht: einen Sündenbock! Je nach Naturell wird sich dann dieser Schuh mehr oder weniger auch angezogen. Ich selbst tue mich oftmals auch schwer damit, ungerechtfertigte Vorwürfe an mir abprallen zu lassen.

Aber selbst wenn ein pädagogischer oder rechtlicher Betreuer in der Lage ist, die Schuldzuweisungen Dritter von sich zu weisen, so bleibt doch immer noch die ganz persönliche Ebene, auf der man mit den Grenzen seines Handelns leben muss. Und da erfordert es ein hohes Maß an Abgrenzung, wenn der Versuch, eine Verbesserung der Situation des Betreuten zu erreichen, scheitert. Wenn man trotz sehr viel Aufwands an Grenzen stößt und kaum Veränderungen bewirkt und man sich irgendwann unweigerlich fragt: „Was tue ich hier eigentlich?“.

Ich glaube, dass dieses latent oftmals vorhandene Ohnmachtsgefühl dazu beiträgt, dass man versucht, das Netzwerk der Hilfsmöglichkeiten zu erweitern und sich andere Helfer „mit ins Boot“ zu holen. Dies ist wohlgemerkt nur ein Aspekt des Phänomens der steigenden Betreuungszahlen im Bereich rechtlicher und pädagogischer Betreuung. Natürlich sind die Ursachen des steigenden Bedarfs sehr viel komplexer und beruhen in erster Linie auf gesellschaftlichen Veränderungen in den sozialen Beziehungen. Aber dennoch ist es wichtig, sich auch mit diesen Aspekt der „Kettenreaktion“ sozialer Arbeit auseinander zu setzen.

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