Mittwoch, 27. August 2014, 00:33h

Auf den Punkt gebracht

behrens

Das Problem ist, dass die Politik im Grunde aus dem Patienten einen Kunden machen möchte
Giovanni Maio, Ethikmediziner

Der Ethikmediziner Giovanni Maio äußert sich am Beispiel der Rückenoperation zu der Problematik der Fallpauschale. Diese hat im Zeitraum 2005 - 2013 zu einem sprunghaften Anstieg der durchgeführten Operationen von 327.000 auf 734.000 (!) geführt. Er führt weiter aus:

Ein System, das eine falsche Vorstellung von der Medizin hat. Ein System, bei dem man davon ausgeht, dass es in der Medizin letztlich so zugeht wie in einer Industrie. Je mehr Stücke produziert werden, desto besser. Und das kann man für Dinge zwar sagen, aber nicht wenn es um Menschen geht.

Im Grunde ist dem nichts hinzuzufügen. So wie ich es hier auch schon in Bezug auf den Bereich des Sozialen beschrieben habe, stellt es auch im Bereich der medizinischen Versorgung eine äußerst bedenkliche Entwicklung dar, wenn ökonomische Leitlinien die fachlichen verdrängen.

Sicher – es gab schon zu allen Zeiten das Bestreben gut verdienen zu wollen. Neu ist jedoch, dass man dies der Öffentlichkeit jetzt ungeniert als Verbesserung verkauft, indem man suggeriert, die Orientierung an marktwirtschaftlichen Leitlinien würde mehr Qualität schaffen und folglich der “Kunde” besser gestellt sein als der Patient.

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Samstag, 23. August 2014, 14:45h

Spring doch!

behrens

In diesem Blog habe ich mich schon einige Male mit der Einstellung einiger Betreuer auseinandergesetzt, die in Bezug auf das Thema Suizidalität die Ansicht vertreten: ”Wer sterben will, soll doch sterben!” Eine Einstellung, deren Glaubwürdigkeit sofort heftig ins Wanken kommt, wenn es um Suizidalität innerhalb der eigenen Angehörigen geht, denn dann wird dieser Grundsatz selbstverständlich sofort verworfen und stattdessen wird laut nach Hilfe all jener gerufen, die ansonsten als unprofessionell und die Selbstbestimmung missachtend abqualifiziert werden.

Ich greife dieses Thema jetzt anlässlich des Todes von Robin Williams nochmals auf, denn während der überwiegende Teil der Öffentlichkeit mit Betroffenheit auf den Selbstmord reagierte, gibt es durchaus auch andere Reaktionen. Zum Beispiel die des Kiss-Bassisten Gene Simmons: „Ich würde rufen: „Spring!“, wenn jemand auf dem Dach eines Wolkenkratzers steht und ihn fragen, warum er ankündigt zu springen.“ „Halt die Fucking Klappe und mach es schon. Die Menschheit wartet.

Simmons Eltern haben den Holocaust überlebt und trotz der Tatsache, dass die gesamte übrige Familie im Konzentrationslager umkam, würde seine Mutter – so Simmons – „jeden Tag auf Erden lieben.“

Es verwundert mich immer wieder, wie einfach das Weltbild mancher Menschen strukturiert ist. Ein Weltbild, demzufolge klar und ausnahmslos definiert ist, wer einen Grund zur Klage hat und wer eben nicht. Wer keinen Krieg, keine Bombenattentate, keine Umweltkatastrophen und keine Folter am eigenen Leib erlebt hat, hat gefälligst gut drauf zu sein. Und sollte dies nicht zutreffen – dann soll derjenige sich gefälligst die Kugel geben oder vom Hochhaus springen. Aber bitte schön leise und ohne Gejammer – denn dadurch fühlen sich Menschen wie Simmons offensichtlich in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt.

Schwer zu sagen, wodurch jemand zu so einer menschenverachtenden Einstellung gekommen ist. Vielleicht kann man sich es als Heavy Metall Bassist einfach nicht leisten, differenzierte und mitfühlende Ansichten zu vertreten, zumal das Männlichkeitsideal in dieser Szene ja ein anachronistisches ist, das jeder gesellschaftlichen Veränderung zum Trotz im Mittelalter stecken geblieben ist und sich hartnäckig jeder Weiterentwicklung verweigert.

Aber ehe man jetzt in eine Diskussion um das Für und Wider der Einstellung des „Spring-doch!“ eintritt, sollte man sich einfach die Gretchenfrage stellen, ob Gene Simmons wohl auch mit der gleichen Vehemenz sein „Spring doch!“ brüllen würde, wenn Töchterchen Sophie oder Sohnemann Nicholas auf dem Fenstersims eines Hochhauses herum balancieren würden. Nein – mit hundertprozentiger Sicherheit würde dann selbst ein richtiger Kerl wie Gene Simmons Rotz und Wasser heulen und dankbar für jeden Psychologen oder Polizisten sein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dies zu verhindern.

Simmons Familie fiel im Dritten Reich der grausamen Einteilung in Menschen und Untermenschen zum Opfer. Eine Selektion, derzufolge nur das Leben derjenigen als lebenswert angesehen wurde, die man als zur eigenen Volksgruppe gehörig erklärte. Es ist traurig, dass gerade der Nachkomme einer Hinterbliebenen des Holocaust genau diese Einstellung weiterleben lässt. Man mag jetzt als mildernden Umstand anführen, dass Menschen wie Simmons oder wie manche Betreuer sich höchstwahrscheinlich noch keine Gedanken darüber gemacht haben, wie es wäre, wenn jemand aus dem Kreise der eigenen Angehörigen sich das Leben nehmen würde. Aber genau das ist es, was die Ignoranz jener Menschen ausmacht – sich grundsätzlich erst dann für ein Problem zu interessieren, wenn man selbst davon betroffen ist. Bei dem Bassisten einer Heavy Metall Band mag diese Ignoranz noch hinnehmbar sein – bei einem Betreuer ist sie äußert bedenklich.

Warum ich hier schon wiederholt zu dem gleichen Thema geschrieben habe? Weil es um Menschenleben geht. Und die sollten es wert sein, sich zu wiederholen! Und weil meiner Meinung nach Angehörige ein Anrecht darauf haben sollten, dass ihre betreuten Familienmitglieder mit der gleichen Wertschätzung behandelt werden, mit der ein Betreuer auch seine eigenen Angehörigen behandelt.

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Donnerstag, 7. August 2014, 01:33h

Auf Entwicklungsprozesse bauen

behrens

Worauf kommt es an, wenn Konzepte entwickelt werden, mit denen Menschen geholfen werden soll, die einen besonderen Hilfebedarf haben? Geht es darum, möglichst schnell ein Defizit auszugleichen, oder steht es im Vordergrund, eine Entwicklung zu fördern? So unterschiedlich, wie die zugrunde liegenden Problemlagen sind, so unterschiedlich sind auch die Hilfsangebote.

Professionelle Hilfe kann auf der Basis von Akzeptanz erfolgen oder auf der Basis von Intervention. Beispielsweise fällt die akzeptierende Drogenarbeit in die erste Kategorie, denn es werden zwar Hilfsangebote wie Kleiderkammer, Schlafplatz, Spritzentausch etc angeboten, aber die Inanspruchnahme erfolgt grundsätzlich auf freiwilliger Basis und mit der Richtlinie, das Klientel nicht zum Entzug zu drängen. Die Familienhilfe hingegen stellt ein Beispiel dafür dar, die Inanspruchnahme nicht immer freiwillig ist, sondern als Auflage erfolgen kann, wie es z.B. der Fall ist, wenn es um die Gefährdung des Kindeswohls geht. Allerdings gibt es wiederum sowohl in der Arbeit mit Drogenabhängigen als auch in der Familienhilfe durchaus Bereiche, in denen auch andere Zielformulierungen handlungsbestimmend sind. Beispielsweise kann die Teilnahme an einer Drogentherapie sehr wohl mit klaren Verpflichtungen verbunden sein und auf der anderen Seite können auch familientherapeutische Hilfsangebote wie beispielsweise eine Erziehungsberatung auf völlig freiwilliger Basis erfolgen.

Wie sieht es denn nun eigentlich im Bereich der rechtlichen Betreuung aus? Hier gibt es ganz eindeutig Maßnahmen, die gegen den Willen des Betreuten durchgeführt werden können. Geldeinteilung, Veranlassung einer stationären Behandlung, Einweisung in ein Heim – all dies sind Maßnahmen, die auch ohne Einwilligung des Betreuten veranlasst werden können. Ohne hier jetzt das Für und Wider zu thematisieren, darf bei der Problematik nie vergessen werden, dass die Priorität immer bei der Ermöglichung von Entwicklungsprozessen liegen sollte. Auch ein Mensch, der nach objektiven Gesichtspunkten kaum noch in der Lage ist, selbständig in seiner Wohnung zu wohnen, sollte zuerst einmal behutsam an Alternativen herangeführt werden. Dies beginnt mit Gesprächen und kann auch den gemeinsamen Besuch einer Einrichtung des betreuten Wohnens oder eines Heimes bedeuten. Viele Betreute sind durchaus ambivalent in ihren Wünschen und sehen sehr wohl, dass die Aufgabe der eigenen Wohnung zwar schwer ist, aber nicht nur Nachteile mit sich bringt.

Ich erinnere mich an eine Fachtagung vor ein paar Jahren, an der neben Betreuern auch Betroffene teilnahmen. Als es um das Thema der Veranlassung einer geschlossenen Unterbringung ging – besser bekannt unter dem Begriff Zwangseinweisung – meldete sich der Vorsitzende des Vereins der Psychiatrieerfahrenen zu Wort und kritisierte die häufige Tendenz, auf psychotische Schübe vorschnell mit der Maßnahme einer stationären psychiatrischen Behandlung zu reagieren. Daraufhin meldete sich ein Betreuer zu Wort, der schilderte, dass er keineswegs auf psychotische Schübe oder psychische Krisen grundsätzlich mit der Veranlassung der stationären Unterbringung reagiert, sondern in solchen Situationen mit dem betreffenden Betreuten immer wieder Gespräche führt und dabei versucht, durch Einsicht die freiwillige Bereitschaft zur einer entsprechenden Behandlung zu erreichen. Nur wenn dies keinen Erfolg hat und Eigengefährdung droht, greift er zu dem Mittel der Veranlassung einer geschlossenen Unterbringung.

Die Schilderung dieses Betreuers stellt ein positives Beispiel dar für ein Vorgehen, das dem Betreuten ermöglicht, an Entscheidungen teilzuhaben. Denn abgesehen davon, dass eine gegen den Willen des Betreuten vorgenommene Maßnahme immer entwürdigend und demütigend ist, werden damit auch jegliche Entwicklungsprozesse im Keim erstickt und zunichte gemacht.

Dennoch darf nicht verschwiegen werden, dass es sehr viele Fälle gibt, in denen Menschen auch gegen ihren Willen eingewiesen werden müssen, weil nur dadurch Schaden an ihnen selbst oder an anderen abgewendet werden kann. Aber dennoch gibt es genug Situationen, in denen es möglich ist andere Wege zu gehen, die weniger rigoros sind. Allerdings setzt dies die Bereitschaft voraus, dem anderen die Zeit zu ermöglichen, die sein individueller Entwicklungsprozess erfordert. Und dies ist das zentrale Thema im Umgang mit Menschen – jedem das ihm eigene Tempo zuzugestehen. Der Kontext für dieses Thema ist beliebig erweiterbar, es muss nicht gleich um eine Zwangseinweisung gehen, sondern es kann sich auch um die Form der Geldeinteilung, um die Art zu Wohnen oder um Umgang mit anderen Menschen handeln.

Auf Entwicklungsprozesse bauen anstatt Entscheidungen anzuordnen – zwei völlig konträre Lebensphilosophien mit einem ebenso konträrem Menschenbild. Wer daran glaubt, dass Menschen entwicklungsfähig sind, wird nicht die zeitsparende lösungsorientierte Entscheidung in den Vordergrund stellen, sondern die Entwicklung der Fähigkeit der Eigenverantwortlichkeit des Betreuten. Dies ist nichts für Menschen mit einer autoritären Persönlichkeitsstruktur. Und auch nichts für Menschen, die damit überfordert sind, sich in die Position des Abwartens und des Gewährenlassens zu begeben.

Das, was letztendlich entscheidend dafür ist, ob Entwicklungsprozesse zugelassen oder blockiert werden, ist zum einen die Bereitschaft, Zeit in einen Menschen zu investieren und zum anderen die Einsicht, dass die eigene Sichtweise nicht unfehlbar ist. Und letztendlich geht es auch um die klare Absage an das Bedürfnis, über andere Menschen bestimmen zu wollen. Zugegeben - einfach ist dieser Weg nicht und leider auch nicht immer von Erfolg gekrönt. Aber er stellt dennoch die einzige Chance dar, die Fremdbestimmung von Menschen so gering wie möglich zu halten.

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