Samstag, 21. Mai 2011, 03:33h

Kleine Philosophie der Maxime des Nichtzuständigseins

behrens

Es gibt viele Dinge, in denen sich Menschen unterscheiden – politische Ansichten, religiöse Überzeugungen, unterschiedliche Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Einstellung zur Gewalt und was-sonst-noch-alles. Für mich ist einer der entscheidendsten Unterschiede zwischen Menschen die Art des Umgangs mit der Frage der Verantwortlichkeit. Und hier gibt es eine Aussage, die eine ganze Lebensphilosophie in einem einzigen Satz vereinigt. Dieser Satz lautet: „Dafür bin ich nicht zuständig“.

Zuerst einmal möchte ich betonen, dass dieser Satz auch durchaus seine Berechtigung haben kann. Zum Beispiel, wenn ein Patient seinen Zahnarzt bittet, auch seine Magenschmerzen zu behandeln. Oder wenn jemand bei einem Kauf im Supermarkt verlangt, dass ihm von der Verkäuferin die Ware nach Hause gebracht wird. Oder wenn jemand bei seiner Krankenkasse auch die Kostenübernahme für eine Autoreparatur beantragt. In all diesen Fällen ist klar – es liegt keine Zuständigkeit vor.

Auch bei Betreuern gibt es klare Definitionen unserer Aufgaben. Wir sind nicht dazu da, Socken oder Zahnbürsten zu unseren Betreuten ins Krankenhaus oder ins Heim zu bringen. Wir sind ebenfalls auch nicht dazu da, Einkäufe zu tätigen. Und es ist auch nicht unsere Aufgabe, den Betreuten zum Arzt zu begleiten. Und es ist auch nicht unsere Pflicht, am Wochenende oder nachts bei Krisensituationen Gewehr-bei-Fuß zu stehen.

Aber von diesen eindeutig definierten Bereichen abgesehen, gibt es viele Situationen, in denen es nicht mehr eindeutig ist, ob wir tätig werden sollten oder nicht. Und hier gibt es dann gravierende Unterschiede im Umgang mit der Zuständigkeit.

Bei einer Fortbildung zum Thema Büroorganisation für Betreuer, an der ich vor kurzem teilgenommen habe, ging es unter anderem auch um die Frage der Zuständigkeit. Und hierbei kam ich aus dem Stauen darüber nicht mehr heraus, welch – fast schon religiös wirkende – Bedeutung diese Frage bei manchen Betreuern hat.

Sicher, wir sind nach dem Tod des Betreuten formal nicht mehr zuständig. Aber wenn ein Nachlasspfleger noch ein paar Auskünfte benötigt, weil sich sonst die Bestattung des Betreuten – an dem wir übrigens jahrelang (manchmal sogar Jahrzehnte!) verdient haben – verzögert, dann könnte man auch trotz der formal beendeten Zuständigkeit einen kurzen Rückruf (da meist jeder eine Flatrate hat, ist dies auch kostenfrei) tätigen. Wenn Angehörige des Verstorbenen, die manchmal verständlicherweise mit den zu regelnden Angelegenheiten überfordert sind, noch die ein- oder andere Unterlage benötigen, könnte man sich fragen, ob man nicht diese fünf oder vielleicht auch zehn Minuten investiert, damit diese Menschen nicht tagelang in irgendwelchen Behörden verbringen müssen.

Wie gesagt – könnte man. Muss man aber nicht. Bei einer der Teilnehmerinnen löste meine Ansicht tiefstes Unverständnis aus. Und dann kam er wieder – dieser Satz, mit dem alles, was übers Plansoll hinausgeht, erbarmungslos abgeschmettert wird: „Dafür bin ich nicht zuständig“. Die gleiche Betreuerin, die erwartet, dass vom Pflegedienst Bekleidung ins Krankenhaus gebracht wird (was eindeutig nicht Aufgabe des Pflegedienstes ist und auch nicht bezahlt wird) und die von der Haushaltshilfe Tätigkeiten erwartet, die nichts mit deren Aufgaben zu tun hat, rührt aus tiefster Überzeugung keinen Finger mehr, wenn die Betreuung formal beendet ist. Man könnte meinen, dass in diesem Fall die Frage der Zuständigkeit vielleicht existenzielle Bedeutung hat, weil die Betreuerin so wenig verdient, dass sie rigoros jede Hilfeleistung ablehnen muss. Weit gefehlt – die betreffende Betreuerin führt fast doppelt so viel Betreuungen wie ich.

Ich halte die Frage der Zuständigkeit für eine hochphilosophische Frage des Umgangs mit Menschen. Und es löst bei mir Grauen aus, wenn man von anderen fordert, was man selbst nicht bereit ist zu geben. Es ist die Verhältnismäßigkeit, die dabei so erschreckend ist. Wenn man weiß, dass der Angehörige eines Verstorbenen vielleicht wochenlang einem Papier hinterrennen muss, und man keinen Finger rührt, obwohl man diese Notlage durch eine Gefälligkeit von ein paar Minuten verhindern kann, dann stellt dies eine Degeneration menschlicher Beziehungen dar.

Ich weiß, dass dies Phänomen nicht nur bei Betreuern zu finden ist. Vor ein paar Jahren erlitt ich auf einem auf einer Insel gelegenen Campingplatz eine schwere Lebensmittelvergiftung. Nach einer Nacht stundenlangen Erbrechens schleppte ich mich morgens schwankend zum Campingplatzinhaber, um zu erkunden, wie ich schnell zu einem Arzt kommen könnte. Der war offensichtlich sehr verärgert über die frühe Störung und verwies mich an die Anschläge am schwarzen Brett. Er sah auch keinen Grund, mich mit seinem Telefon das Taxi anrufen zu lassen, denn „er sei ja kein öffentliches Telefon“. Erst als ich der Angestellen zwei Euro für ein Telefonat bot, konnte ich den Transport zum Arzt veranlassen. Die Vergiftung war so schlimm, dass ich trotz Spritze mehrere Stunden am Tropf hängen musste.

Wenn jemandem in einer Situation, in der er kurz vorm physischen Zusammenbruch steht, von jemanden verärgert „Dafür bin ich nicht zuständig“ gesagt wird, dann stellt dies eine gefährliche Entwicklung dar. Allerdings nur aus menschlicher Sicht, nicht aus kaufmännischer. Vom kaufmännischen Standpunkt gibt es nichts zu beanstanden. Dem Campingwirt kann kein Fehlverhalten vorgeworfen werden, denn er ist weder Telefonvermittlung noch Krankenschwester. Betriebswirtschaftlich korrekt hat er sich an seine Aufgaben gehalten. Er war: „nicht zuständig“.

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