Sonntag, 14. März 2010, 18:33h

Der Tod der kleinen Lara aus Wilhelmsburg

behrens

Der Tod der kleinen Lara aus Wilhelmsburg jährt sich in diesem Monat. Lara wurde nur 9 Monate alt und wurde von ihren Eltern so vernachlässigt, daß sie mit einem Gewicht von 4,8 KG an Unterernährung starb. Die Familie war dem Jugendamt bekannt und es wurde sogenannte Familienhilfe durch eine Mitarbeiterin eines freien Trägers geleistet.

Auch ich arbeite in Wilhelmsburg, auch ich arbeite mit dem betreffenden Träger zusammen und auch einige meiner Betreuten sind nicht in der Lage, ihre Kinder eigenständig und angemessen zu versorgen.

Die Reaktion der Öffentlichkeit ist hart: neben der Betroffenheit über den Tod des kleinen Kindes auch jede Menge Entrüstung über die für die Familie zuständige Betreuerin der Familienhilfe. Das hätte doch verhindert werden können! Theoretisch ja. Wenn die betreffende Mitarbeiterin den Verdacht der Unterernährung gehabt hätte und das Kind umgehend von einem Kinderarzt hätte untersuchen lassen, wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht dazu gekommen. Aber ausschließen kann man es selbst in diesem Fall nicht. Wenn zweimal wöchentlich Besuche erfolgen und ein Kleinkind innerhalb von 4 Tagen weder Nahrung noch Flüssigkeit erhält, dann hätte das Kind auch trotz einer gewissenhaft ausgeführten Betreuung sterben können.

Was mir Unbehagen bereitet, ist die Tatsache, daß die Öffentlichkeit in den Fällen von Kindesvernachlässigung die Schuld hauptsächlich in den betreuenden Personen und nicht mehr bei den Eltern sieht. Diese Sichtweise birgt zwei große Gefahren in sich. Zum einen den Trugschluß, daß man die Unfähigkeit der Eltern durch eine ambulante Betreuung/Familienhilfe in den Griff bekommt. Zum anderen werden die eigentlichen Verantwortlichen – und dies sind nun mal nach wie vor die leiblichen Eltern – aus ihrer Verantwortung genommen.

Wie ich bereits in einem anderen Beitrag ausführlich beschrieben habe, wird von staatlicher Seite eine sehr umfassende Betreuung angeordnet, wenn man hierfür den Bedarf sieht. Und auch ich versuche, in meiner Arbeit den möglichen Rahmen auszuschöpfen. In erster Linie tue ich dies, um eine bestmögliche Versorgung der Kinder zu garantieren. Aber ich gebe ehrlich zu, daß irgendwo im Hinterköpfchen hierbei auch meine Angst eine Rolle spielt. Die Angst davor, daß irgendetwas passieren könnte, wofür man mich verantwortlich machen könnte.

Die gesellschaftliche Realität zeigt ein beängstigendes Schwinden der eigenverantwort-lichen sozialen Kompetenz. Und dieses Schwinden wird mit immer mehr Betreuung in verschiedener Form beantwortet. Man läßt dabei aber außer Acht, daß die Kinder der rundum betreuten Familien auch nicht mehr die Möglichkeit haben, eigenverantwortliche Elternschaft zu erleben und zwangsläufig bringt dieser Umstand neue Generationen von rundum betreuten Familien hervor.

Man kann nicht jedes gesellschaftliches Defizit mit Rundumbetreuung beantworten. Es müssen erst jede Menge Katastrophen passieren, ehe man Eltern ihre Kinder wegnimmt. Elternschaft ist bei uns – wie auch in den meisten anderen Gesellschaften – eine heilige Kuh, die nicht angetastet werden darf. Die Leidtragenden sind die Kinder, denen von vorneherein eine normale Kindheit versagt wird. Manche Kinder muß man vor ihren Eltern schützen. Und wir sollten nicht die Augen davor verschließen, daß in zunehmenden Maße auch eine ambulante Betreuung für einen wirklichen Schutz nicht mehr ausreichend ist.

Es gibt in Deutschland immer noch jede Menge Menschen, die vergeblich darauf warten, ein Kind adoptieren zu dürfen. Und vielleicht sollte man darüber nachdenken, ob man nicht eine Möglichkeit schaffen sollte, Kinder in eine Adoptionsfamilie zu geben, ohne den leiblichen Eltern rigoros jeden Kontakt zu verbieten – was in der Tat eine kaum zu verantwortende Härte darstellen würde, die auf keinen Fall voreilig angewandt werden darf.

In der BILD wurde erwähnt, daß demnächst der Prozeß vor dem Amtsgericht beginnt und neben der Betreuerin auch die Eltern angeklagt werden. „Auch die Eltern“ – eine Formulierung, die deutlich macht, daß die Betreuerin als die Hauptverantwortliche angesehen wird und nicht die Eltern. Und dies ist das Bedenkliche. Nicht nur für die Betreuer. Sondern auch oder gerade für die Kinder.

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