Samstag, 23. August 2014, 14:45h

Spring doch!

behrens

In diesem Blog habe ich mich schon einige Male mit der Einstellung einiger Betreuer auseinandergesetzt, die in Bezug auf das Thema Suizidalität die Ansicht vertreten: ”Wer sterben will, soll doch sterben!” Eine Einstellung, deren Glaubwürdigkeit sofort heftig ins Wanken kommt, wenn es um Suizidalität innerhalb der eigenen Angehörigen geht, denn dann wird dieser Grundsatz selbstverständlich sofort verworfen und stattdessen wird laut nach Hilfe all jener gerufen, die ansonsten als unprofessionell und die Selbstbestimmung missachtend abqualifiziert werden.

Ich greife dieses Thema jetzt anlässlich des Todes von Robin Williams nochmals auf, denn während der überwiegende Teil der Öffentlichkeit mit Betroffenheit auf den Selbstmord reagierte, gibt es durchaus auch andere Reaktionen. Zum Beispiel die des Kiss-Bassisten Gene Simmons: „Ich würde rufen: „Spring!“, wenn jemand auf dem Dach eines Wolkenkratzers steht und ihn fragen, warum er ankündigt zu springen.“ „Halt die Fucking Klappe und mach es schon. Die Menschheit wartet.

Simmons Eltern haben den Holocaust überlebt und trotz der Tatsache, dass die gesamte übrige Familie im Konzentrationslager umkam, würde seine Mutter – so Simmons – „jeden Tag auf Erden lieben.“

Es verwundert mich immer wieder, wie einfach das Weltbild mancher Menschen strukturiert ist. Ein Weltbild, demzufolge klar und ausnahmslos definiert ist, wer einen Grund zur Klage hat und wer eben nicht. Wer keinen Krieg, keine Bombenattentate, keine Umweltkatastrophen und keine Folter am eigenen Leib erlebt hat, hat gefälligst gut drauf zu sein. Und sollte dies nicht zutreffen – dann soll derjenige sich gefälligst die Kugel geben oder vom Hochhaus springen. Aber bitte schön leise und ohne Gejammer – denn dadurch fühlen sich Menschen wie Simmons offensichtlich in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt.

Schwer zu sagen, wodurch jemand zu so einer menschenverachtenden Einstellung gekommen ist. Vielleicht kann man sich es als Heavy Metall Bassist einfach nicht leisten, differenzierte und mitfühlende Ansichten zu vertreten, zumal das Männlichkeitsideal in dieser Szene ja ein anachronistisches ist, das jeder gesellschaftlichen Veränderung zum Trotz im Mittelalter stecken geblieben ist und sich hartnäckig jeder Weiterentwicklung verweigert.

Aber ehe man jetzt in eine Diskussion um das Für und Wider der Einstellung des „Spring-doch!“ eintritt, sollte man sich einfach die Gretchenfrage stellen, ob Gene Simmons wohl auch mit der gleichen Vehemenz sein „Spring doch!“ brüllen würde, wenn Töchterchen Sophie oder Sohnemann Nicholas auf dem Fenstersims eines Hochhauses herum balancieren würden. Nein – mit hundertprozentiger Sicherheit würde dann selbst ein richtiger Kerl wie Gene Simmons Rotz und Wasser heulen und dankbar für jeden Psychologen oder Polizisten sein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dies zu verhindern.

Simmons Familie fiel im Dritten Reich der grausamen Einteilung in Menschen und Untermenschen zum Opfer. Eine Selektion, derzufolge nur das Leben derjenigen als lebenswert angesehen wurde, die man als zur eigenen Volksgruppe gehörig erklärte. Es ist traurig, dass gerade der Nachkomme einer Hinterbliebenen des Holocaust genau diese Einstellung weiterleben lässt. Man mag jetzt als mildernden Umstand anführen, dass Menschen wie Simmons oder wie manche Betreuer sich höchstwahrscheinlich noch keine Gedanken darüber gemacht haben, wie es wäre, wenn jemand aus dem Kreise der eigenen Angehörigen sich das Leben nehmen würde. Aber genau das ist es, was die Ignoranz jener Menschen ausmacht – sich grundsätzlich erst dann für ein Problem zu interessieren, wenn man selbst davon betroffen ist. Bei dem Bassisten einer Heavy Metall Band mag diese Ignoranz noch hinnehmbar sein – bei einem Betreuer ist sie äußert bedenklich.

Warum ich hier schon wiederholt zu dem gleichen Thema geschrieben habe? Weil es um Menschenleben geht. Und die sollten es wert sein, sich zu wiederholen! Und weil meiner Meinung nach Angehörige ein Anrecht darauf haben sollten, dass ihre betreuten Familienmitglieder mit der gleichen Wertschätzung behandelt werden, mit der ein Betreuer auch seine eigenen Angehörigen behandelt.

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Mittwoch, 23. Juli 2014, 02:53h

Kranke Kinder und Hartz IV

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Die Umstellung von Sozialhilfe auf Hartz IV war mit vielen Streichungen verbunden, von denen die Öffentlichkeit weitgehend gar nichts mitbekommen hat. So war es vor der Reform beispielsweise möglich, dass vom Sozialamt die Kosten für verordnete Brillen, rezeptfreie Medikamente, erforderliche Taxifahrten zum Arzt/zur Klinik oder für manche orthopädische Hilfsmittel übernommen wurden. Außerdem waren Verordnungen noch nicht generell mit einem Eigenanteil verbunden. Ich will nicht abstreiten, dass es in manchen Fällen auch zu Missbrauch kam, aber für viele war die Kostenübernahme unentbehrlich, wie z.B. für Heimbewohner, die ja gar keinen Regelsatz mehr erhalten, sondern nur ein Heimtaschengeld, von dem nur schwer die Kosten für eine Brille gezahlt werden können.

Wahrscheinlich machen sich diejenigen, denen ein normales Gehalt zur Verfügung steht keine Vorstellung davon, wie schwer es ist, die durch die Erkrankung eines Kindes entstehenden Mehrkosten zu bewältigen. Ich habe gerade aus nächster Nähe mitbekommen, was dies für Eltern bedeutet, deren frisch operierter Säugling noch zur Nachbehandlung ins Krankenhaus gefahren werden muss. Da Hartz IV-Empfänger in der Regel kein Auto haben und öffentliche Verkehrsmittel von den behandelnden Ärzten als zu gefährlich und belastend eingestuft werden, bleibt nur das Taxi für den Transport. Liegt das Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, kann dies mal eben 100,00 € für Hin- und Rückweg kosten. Aber auch schon die durch die Besuche im Krankenhaus anfallenden Fahrtkosten sind nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass beispielsweise eine Tageskarte für einen Erwachsenen schon fast 6,00 € kostet.

Aber es gibt auch noch andere Schwierigkeiten. Die Wohnungen, in denen Hartz IV Empfänger leben, sind oftmals sehr beengt und so kann die dringende Empfehlung des Arztes, das Kinderbett im Schlafzimmer unterzubringen nicht immer erfüllt werden. Bei all dem muss man sich vor Augen halten, welcher psychischen Belastung Eltern ausgesetzt sind, deren neugeborenes Kind gerade eine lebensbedrohende Erkrankung nur knapp überlebt hat. Sich dann noch den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wie man die finanziellen Mehrkosten irgendwie in den Griff bekommt, kann die ohnehin hohe Anspannung noch weiter erhöhen.

Manchmal berührt es mich eigentümlich, wenn ich in irgendeinem Fernsehfilm ein geräumiges nett ausgestattetes Kinderzimmer sehe, in dem eine entzückende Wiege vor einem großen hellen Fenster mit Blick auf den eigenen Garten steht. Mir fallen dann die vielen winzigen Kinderzimmer ein, die ich im Rahmen meiner Arbeit kennengelernt habe, die allenfalls halb so groß sind und die sich von mehreren Geschwistern geteilt werden müssen. Zimmer mit zur Straße gelegenen Fenstern, die oft geschlossen gehalten werden, weil der Straßenlärm kaum auszuhalten ist. Einen Garten, in den man die Kinder auch spielen lassen kann, ohne jede Minute dabei sein zu müssen, gibt es so gut wie nie.

Sicher, eine glückliche Kindheit ist nicht von der Größe des Kinderzimmers abhängig. Aber eine belastende Situation – und dazu zähle ich eine schwere Erkrankung eines Kindes – wird noch schwieriger, wenn sich alle auf die Füße treten und das Haushaltsbudget so gering ist, dass selbst geringe Mehrkosten schon bedenkliche Einschränkungen verursachen.

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Freitag, 11. Juli 2014, 14:44h

„Denn ich bin gut dort wo ich bin“ – Statement zur Sterbehilfe von jemandem, der Glück im Unglück hatte

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Durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ wurde ich aufmerksam auf die Lebensgeschichte des Franzosen Philippe Pozzo di Borgo, der seit über zwanzig Jahren aufgrund eines Unfalls querschnittgelähmt ist. Im Film steht fast allerdings fast ausschließlich die Freundschaft zu seinem Pfleger Abdel Sellou im Mittelpunkt, während in der zugrunde liegenden Biographie, die ich bisher noch nicht gelesen habe, auch eingehend der Lebensalltag eines Querschnittsgelähmten und seine Zeit vor dem Unfall beschrieben wird.

Bei Stöbern im Internet fand ich auch ein aktuelles Interview mit Philippe Pozzo di Borgo, in dem er sich zur Sterbehilfe äußert. In Frankreich ist die Gesetzeslage ähnlich wie in Deutschland, das Einstellen lebenserhaltender Maßnahmen ist unter gewissen Umständen erlaubt, aber aktive Sterbehilfe ist verboten. Und ähnlich wie in Deutschland wird darüber diskutiert, ob nicht im Interesse der unheilbar Kranken auch aktive Maßnahmen erlaubt werden sollten („Leonetti-Gesetz“).

Wie beurteilt nun jemand wie Philippe Pozzo di Borgo die aktive Sterbehilfe? Dieser Mann, der vor seinem Unfall ein überaus aktives und selbstbestimmtes Leben geführt hat. Er äußert sich hierzu ganz konkret:

"Man stellt mir die Frage: "Hättest du gewünscht, dass man die Maschinen abschaltet, als es dir nach deinem Unfall so schlecht ging?" Sicher, ich habe daran gedacht, mich nach meinem Unfall umzubringen, aber 20 Jahre danach bin ich jetzt ziemlich zufrieden, dass man die Maschinen nicht abgestellt hat. Man darf diese Dinge nicht überstürzen, ich hätte es lieber, dass die Leute sich die Zeit nehmen, diese Frage zu betrachten, anstatt in einer Aufregung an ein Thema heranzugehen, die nur so lange wie eine Fernsehsendung andauern wird, bevor man dann diese Angelegenheit mit einem unglücklicherweise endgültigen Gesetz beerdigt.

(…) Und ich finde, dass das Leonetti-Gesetz diese Weisheit hat, viele nach ihrer Meinung zu fragen anstatt auf monolithische Art Gesetze zu erlassen. Wenn Sie mich gebeten hätten, als ich noch gesund war, ein Papier zu unterzeichnen, dass man die Maschinen abstellen sollte, wenn ich in so einem so katastrophalen Zustand geraten würde, hätte ich es unterschrieben genauso wie es heute 92 % der Franzosen tun würden. Nett, dass Sie mir jetzt nicht die Maschinen abstellen, denn ich bin gut dort wo ich bin.


Dann wird ein älteres Interview zitiert, in dem Philippe Pozzo di Borgo sich zu dem Recht äußert, den Schmerz zu unterbrechen:

"Was meinen Schmerz betrifft, mischen Sie sich bitte nicht ein. Ich möchte so lange wie ich es kann selbst darüber bestimmen. Und ich möchte nicht, dass jemand für mich entscheidet. Unsere keimfrei gemachte Gesellschaft spricht ungern über Schmerz. Dennoch gibt es einen Reichtum im Schmerz. Sie investieren wieder in die Gegenwart. Sie leben nicht in Bedauern und Erinnerungen, Sie machen keinen Plan über unseren Planeten, weil Sie von dem Schmerz beansprucht werden. Unsere Gesellschaft gleitet durch die Gegenwart, immer mit einem Kalender von 24 Stunden im Voraus im Kopf. Legen Sie ein wenig mehr Gewicht auf den gegenwärtigen Augenblick.

Während im neueren Interview deutlich betont wird, dass es sehr wohl auch unter größten körperlichen Einschränkungen möglich sein kann, sein Leben zu lieben, betont Philippe Pozzo di Borgo im älteren Interview, wie wichtig die Selbstbestimmung in Bezug auf das Aushalten des eigenen Leidens ist. Interessant ist jedoch, dass er nicht den Bogen zieht zum allgemein postulierten: „Jeder hat ein Recht, seinen Schmerz zu beenden“ sondern er kritisiert im gleichen Atemzug das Bedürfnis nach Tabuisierung des Schmerzes und des Leidens. Man könnte sich jetzt fragen: „Ist er denn nun für oder gegen das Recht auf Sterbehilfe?“ Aber wenn man seine Aussagen genau liest, dann erkennt man, dass er aus gutem Grund eine Festlegung ablehnt und stattdessen auf die Bandbreite der Thematik hinweisen will und dabei betont, wie enorm wichtig es ist, sich für eine so existentielle Entscheidung viel Zeit zu nehmen und möglichst viele Meinungen einzuholen.

Respekt vor dem Leiden eines Menschen und seiner Autonomie äußert sich eben gerade nicht in vorschneller und eigenmächtiger Befürwortung des Wunsches nach Sterbehilfe, sondern in der Bereitschaft, sich mit dessen Leiden vor dem Hintergrund seiner individuellen Biographie auseinanderzusetzen.

„Es gibt einen Reichtum im Schmerz“ – diese Aussage aus dem Munde eines Menschen zu hören, der mit Sicherheit ein Höchstmaß an Schmerz am eigenen Leib ertragen muss, öffnet die Sicht auf den existentialistischen Bereich des Daseins, ein Bereich, der durch unsere extrem materialistisches Weltauffassung kaum noch wahrgenommen wird. Und Philippe Pozzo di Borgo trifft mit seiner Formulierung der „keimfrei gemachten“ Gesellschaft genauso ins Schwarze wie mit seiner Kritik an einer überschnell getroffenen Entscheidung zugunsten der Sterbehilfe,

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – niemand darf gezwungen werden, über das Erträgliche hinausgehende Schmerzen zu erdulden. Aber es ist eine Anmaßung, beurteilen zu wollen, ob das Leben eines anderen Menschen für diesen noch lebenswert ist oder nicht. Erst wenn alles getan wurde, um dem Betreffenden sein Leiden zu erleichtern und erst wenn alle Menschen zu Rate gezogen wurden, die dem Betreffenden nahe stehen, werden die Voraussetzungen geschaffen, um den Wunsch nach Sterbehilfe – so dieser unverändert weiterbesteht – erfüllen zu dürfen.

Wie gut, dass es Menschen wie Philippe Pozzo die Borgo gibt, die uns an ihrer Lebensgeschichte teilhaben lassen. Und welch Glück hatte er, dass es niemanden gab, der – mit dem Blick zur Uhr – jegliche Entwicklungsprozesse verhindert hätte durch das lapidare „Wer sterben will, soll doch sterben“.

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Freitag, 23. Mai 2014, 16:21h

Patchworkfamilien II – „Du hast mir gar nichts zu sagen!"

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Ich habe vor kurzem hier ein wenig über meine Erfahrung mit den speziellen Probleme von Patchworkfamilien geschrieben. Dabei hatte ich mich mit der Problematik der Folgen von Trennungen befasst. Allerdings gibt es auch Probleme, die völlig unabhängig von Trennungssituationen existieren. Probleme, die beispielsweise darauf beruhen, dass es Unterschiede gibt zwischen jenen Auseinandersetzungen von Kindern mit ihren leiblichen Eltern und jenen Auseinadersetzungen zwischen Kindern mit den Lebensgefährten eines Elternteils.

Kommt es beispielsweise in der Pubertät zum Versuch der Abgrenzung gegenüber den Eltern, dann hat es der nichtleibliche Elternteil oftmals schwerer sich durchzusetzen, als der leibliche Elternteil. Grundsätzlich geht es zwar sowohl bei leiblichen als auch bei nichtleiblichen Eltern um das Gleiche, nämlich um die Infragestellung der Autorität der Erwachsenen. Allerdings wird der leibliche Elternteil nicht grundsätzlich in seiner Position als Vater oder Mutter in Frage gestellt, wohingegen die Position des Lebensgefährten weniger klar und gefestigt ist. „Du hast mir gar nichts zu sagen“ lautet dann nicht selten das Argument der Kinder. Die Dynamik eines solchen Konfliktes ist dann ungleich komplizierter, da sich der Konflikt auch auf die Beziehung zwischen leiblichem Elternteil und dessen Lebensgefährten auswirkt, denn der leibliche Elternteil kann sehr schnell zwischen die Fronten geraten und sich dabei zu der Entscheidung gedrängt fühlen, für die eine oder die andere Seite Partei ergreifen zu müssen.

Natürlich gibt es auch in Familien, die aus leiblichen Eltern und deren gemeinsamen Kindern bestehen, unterschiedliche Parteilichkeit gegenüber den Kindern. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass Kinder ihren leiblichen Eltern keinen Vorwurf darüber machen, dass diese eine Beziehung eingegangen sind. Geht es jedoch um einen Lebensgefährten, der von einem Kind nicht akzeptiert wird, kann es jedoch sehr wohl zu einem mehr oder weniger bewussten Vorwurf gegenüber dem leiblichen Elternteil kommen, dass dieser sich für jemanden entschieden hat, mit dem das Kind überhaupt nicht einverstanden ist. Das kann dann wiederum in dem Appell an die Mutter/den Vater münden, sich gegen den Partner zu stellen. Nicht jede Beziehung hält diesen Konflikt aus und manchmal kommt es dadurch zu Trennung.

Ein weiterer Aspekt ist, dass auch die härtesten und schwierigsten Auseinandersetzungen zwischen Eltern und deren leiblichen Kindern nur selten dazu führen, dass die Eltern ihre leiblichen Kinder nicht mehr lieben und den Kontakt gänzlich abbrechen. Es mag eine Hassliebe sein, aber dennoch sind Gefühle vorhanden. Bei den Lebensgefährten hingegen besteht die Gefahr, dass diese vor dem Konflikt kapitulieren und die Einstellung gegenüber dem Kind nur noch negativ besetzt ist, bzw. sich im Falle einer Trennung in völliger Gleichgültigkeit ausdrückt. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich während einer medizinischen Anwendung mit einem Masseur führte, der sich bitter über die pubertierende Tochter seiner Lebensgefährtin beklagte. Und ich werde nie die Aussage vergessen: „Über die müsste man einfach mal mit dem Auto drüberfahren, das wäre nicht schade drum“.

Sicher, auch Auseinandersetzungen in „normalen“ Familien, die aus den leiblichen Eltern und deren Kinder bestehen, können eskalieren und auch dort kann es zu Gewalt kommen. Und natürlich gibt es auf der anderen Seite auch diverse Patchworkfamilien, in denen tragfähige Beziehungen entwickelt wurden und in denen die Kinder den neuen Lebenspartner voll und ganz akzeptieren. Man darf weder das eine idealisieren noch das andere dämonisieren. Aber dennoch ist es ein Erfahrungswert, dass Patchworkfamilien in mancher Hinsicht mit schwierigeren Bedingungen zu rechnen haben. Diese Beobachtung habe ich nicht nur im Rahmen meines Berufes gemacht, sondern auch im privaten Kreis. Kinder, die einen neuen Partner der Mutter/des Vaters nicht akzeptieren, können sehr viel Energie darauf verwenden, diesem das Leben schwer zu machen. Und auf der anderen Seite ist es für Kinder Kind alles andere als einfach, ein neues Familienmitglied vor die Nase gesetzt zu bekommen, das sie nicht mögen und das als Fremdkörper oder Konkurrent um die Liebe des leiblichen Elternteils empfunden wird.

Vielleicht ist das das Entscheidende – die Beziehung zu den leiblichen Eltern besteht von Anfang an. Auch wenn es sich um eine schwierige und unharmonische Beziehung handelt, so ist diese Beziehung eine Gegebenheit, in die das Kind hineingewachsen ist. Und auch die Eltern hatten die Chance, ihr Kind vom ersten Tag an in seiner Entwicklung zu erleben.

Ich habe heute ein langes Gespräch mit einer Klientin geführt, die eine sehr schwierige Kindheit mit viel Gewalt durchlebt hatte, in der beide Eltern mehrere Partner hatten. Mit der kleinen Tochter der Freundin ihrer Mutter verstand sie sich sehr gut und sie liebte diese „heiß und innig wie eine eigene Schwester.“ Dennoch riss im Erwachsenenleben die Beziehung ab. Als nachfragte, woran dies läge, antwortete sie nachdenklich: „Das weiß ich eigentlich gar nicht, es gibt keinen bestimmten Grund.“

Auch mich hat dies nachdenklich gemacht. Sind es vielleicht erlernte Konventionen, die uns daran hindern, Menschen, mit denen wir leiblich verwandt sind, nicht so leicht fallen zu lassen und kann man daraus ableiten, dass uns dies bei fremden (= nichtverwandten) Menschen sehr viel leichter fällt? Fühlen wir uns vielleicht doch mehr verpflichtet und in der Verantwortung, wenn unser Verhältnis zu Menschen durch die Konstellation „Mutter, Vater, Tochter, Sohn, Schwester, Bruder“ etc definiert ist? Und überfordert es vielleicht den Menschen, tragfähige und verantwortungsbewusste Beziehungen zu Menschen aufzubauen, wenn diese Beziehungen ihren Bezugsrahmen durch die Beendigung einer Partnerschaft verlieren?

Ich würde gern Idealistin sein und daran glauben können, dass ein Mensch uns auch dann viel bedeuten kann oder uns zumindest nicht völlig gleichgültig ist, wenn die Beziehung zu ihm nicht durch irgendein Verwandtschaftsverhältnis definiert ist. Aber meiner Erfahrung nach scheint dies leider nur in Ausnahmen der Fall zu sein. So sehr verwundert dies im Grunde nicht, denn dieses Verhaltensmuster findet man längst nicht nur in Familienkonstellationen. Auch in meiner Tätigkeit als Betreuerin war ich immer wieder erstaunt darüber, welch himmelweiter Unterschied zwischen denjenigen Maßstäben liegt, die Kollegen für das Wohl der eigenen Angehörigen anlegen und jenen Maßstäben, die sie für Menschen anlegen, mit denen sie nicht verwandt.

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Sonntag, 27. April 2014, 15:47h

Patchworkfamilien - nicht so nett, wie es sich anhört

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Sowohl in meinem beruflichen Tätigkeitsfeld als auch im privaten Umkreis habe ich immer wieder mit Familienstrukturen zu tun, die mit dem Ausdruck Patchworkfamilie bezeichnet werden. Damit sind Familien gemeint, in denen Kindern nicht mehr mit beiden leiblichen Eltern zusammenleben, sondern ein leiblicher Elternteil einen neuen Partner hat.

Der Ausdruck Patchworkfamilie hört sich eigentlich ganz optimistisch an, man assoziiert damit etwas Positives wie Vielfältigkeit oder Buntheit. Der früher verwandte Ausdruck Sieffamilie hingegen erweckt eher die Assoziation an etwas Unvollkommenes, das nur einen Ersatz für eine richtige Familie darstellt. Das abgeleitete Adjektiv „stiefmütterlich“ macht die negative Besetzung sehr gut deutlich.

Aber entspricht die vornehmlich positive Darstellung einer Familiensituation, in der die Kinder mit dem neuen Lebenspartner eines Elternteils zusammenleben, tatsächlich der Realität? Ich habe daran Zweifel. Bei den Patchworkfamilien, die ich kennengelernt habe, habe ich zunehmend die Erkenntnis gewonnen, dass diese Familienkonstellation oftmals mit großen Problemen für die Kinder verbunden ist. Dabei stellt insbesondere eine Situation für Kinder eine besonders große Belastung dar: die Situation einer erneuten Trennung.

Wenn es bei einer „normalen“ Familie – sprich eine Familie, die aus Eltern und deren leiblichen gemeinsamen Kindern besteht – zu einer Trennung kommt, bestehen die familiären Bindungen in den meisten Fällen (allerdings auch hier nicht immer) trotzdem weiter. Für die leiblichen Eltern besteht die Elternschaft für die Kinder auch nach einer Scheidung fort und auch wenn die Trennung für alle Beteiligten schwer und schmerzhaft verläuft, so ändert dies nichts an der Verantwortlichkeit der Eltern.

Bei einer Patchworkfamilie ist die Situation eine andere. Die Beziehung zu den nichtleiblichen Kindern steht und fällt mit der Bindung zwischen dem leiblichen und dem neuen Partner. Auch in der Situation, in der Kinder einen neuen Partner voll und ganz als Mutter oder Vaterersatz akzeptieren, ist es im Falle einer Trennung nur in seltenen Ausnahmen der Fall, dass der nichtleibliche Elternteil die Bindung zum Kind des früheren Partners verlässlich aufrechterhält.

Ich glaube, dass sich viel zuwenig Gedanken darüber gemacht wird, wie tragisch sich eine erneute Trennung in einer Patchworkfamilie für die Kinder auswirkt. Kinder brauchen stabile Beziehungen, auf die sie sich verlassen können, für ein Kind stellt der plötzliche Verlust des Partners der Mutter/des Vaters fast immer ein äußerst schmerzhaftes Trauma dar. Ich erinnere mich noch an die Presseberichte über die Trennung unseres früheren Bundeskanzlers, die – genau wie auch zuvor die Ehe – eine hohe Medienpräsenz hatte. Dabei wurde auch eine der Töchter der Ex-Frau zitiert, die davon berichtete, dass sie wochenlang weinte, weil der Mann, der für sie zuvor einen Vaterersatz darstellte, von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verschwand. Für sie war überhaupt nicht verständlich, warum sie so behandelt wurde. Der verschwundene Vater verschwendete keine Zeit mehr für sein altes Leben, zumal die Situation eintrat, die es öfter bei Patchworkfamilien gibt - es gab schon ein neues Kind, das Zuwendung einforderte.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – ich plädiere nicht dafür, dass Beziehungen um jeden Preis aufrechterhalten werden müssen. Eine schlechte Partnerschaft kann die Hölle für alle Beteiligten – also auch die Kinder – bedeuten, die oftmals nur durch eine Trennung beendet werden kann. Aber es ist Augenwischerei, dass das Eingehen neuer Partnerschaften die Lösung aller Probleme darstellt.

Auch ich habe keine Lösung für die Probleme, denen Kindern aus Patchworkfamilien ausgesetzt sind, wenn die Eltern sich erneut trennen. Aber ich bin der Meinung, dass diese Problematik stärker thematisiert werden sollte. Schon seit langem hat sich die Form der Beziehungen geändert und Trennungen erfolgen schneller als früher. Oftmals bleibt es auch nicht bei einer Trennung, sondern auch neue Partnerschaften werden wieder gelöst. Bisher reagiert man auf diese Thematik erst dann, wenn sich bei den betroffenen Kindern Störungen manifestieren. Es werden dann sozialpädagogische Familienhilfen zur Seite gestellt, Beratungsangebote gemacht oder den betroffenen Elternteilen sozialpsychiatrische Hilfsangebote gemacht. Diese Hilfen sind ihrer Natur nach so konzipiert, dass sie erst dann ansetzen, wenn der Hilfebedarf offensichtlich wird.

Vielleicht müsste ein Umdenken erfolgen und schulische Einrichtungen sowie Kindertagesheime sollten einen viel höheren Anteil an psychosozialer Beratung und Betreuung beinhalten. Wenn sich Schulen nicht nur auf Wissensvermittlung beschränken und Kindertagesheime nicht nur auf Aufbewahrung, dann kann ein Raum entstehen, der Kindern Halt und Sicherheit gibt. Je besser Kinder bei familiären Problemen von ihrem Umfeld aufgefangen werden, desto größer ist die Chance, dass die Traumatisierung einer Trennung aufgearbeitet werden kann. Ich weiß, dies alles kostet sehr viel Geld. Aber das kosten die zahlreichen sozialpädagogischen Interventionsangebote auch. Und leider ist es eine Realität, dass der Erfolg dieser Hilfen sehr gering ist.

Patchwork ist ein Albtraum. Man kann nie gerecht seine Zeit und Liebe verteilen. Und Ex-Partner können nie wirklich liebevoll miteinander umgehen, weil die Verwundung stattgefunden hat. Und die Narbe wird es immer geben.
Matthias Reim

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Samstag, 29. März 2014, 11:49h

Zur Pflege nach Polen

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In einer Dokumentation „Zur Pflege nach Polen“ wurde eindrucksvoll beschrieben, wie kräftezehrend es für Angehörige sein kann, wenn ein Familienmitglied dement und pflegebedürftig wird und dass der Entschluss zu einem Wechsel in ein Heim oftmals eine schwere Entscheidung darstellt.

Einmal geht es um den an Parkinson erkrankten Vater und einmal um den dementen Ehemann. Die Tochter und die Ehefrau sind am Ende ihrer Kräfte und entscheiden sich für ein Pflegeheim in Polen. Während der Vater es anscheinend akzeptiert, begehrt der Ehemann auf und will wieder zurück in seine Wohnung.

Man kann sowohl die Gefühle der Angehörigen als auch die der Pflegebedürftigen verstehen. Und die Lösung für dieses Dilemma kann eigentlich nur in einem bestehen:

Ein flächendeckendes Netz von kleinen Pflegeheimen, das örtliche Nähe zum bisherigen Lebensraum garantiert.


http://www.ardmediathek.de/ndr-fernsehen/die-reportage/zur-pflege-nach-polen?documentId=19144306

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Mittwoch, 25. Dezember 2013, 16:11h

Gratulation zum Erfolg eines absurden Rechtsstreits. Ein Ort zum Sterben - jetzt auch in der eigenen Nachbarschaft

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Vor zwei Jahren hatte ich über den Protest gegen die Planung eines Hospizes in unserem Stadtteil geschrieben. Argumente waren damals die durch den Bau zu angeblich zu befürchtenden sinkenden Grundstückspreise und die psychische Belastung der in der Nachbarschaft lebenden Kindern durch den Anblick der Leichenwagen.

Allen Widrigkeiten zum Trotz ist das Hospiz jetzt aber doch gebaut und vor einer Woche feierlich eingeweiht worden. Die Befürworter des Hospiz mussten aber bis zuletzt zittern, denn nachdem die erste Klage gegen den Bau abgewiesen wurde, wurde mit anderen, ebenso merkwürdigen Argumenten weiter prozessiert. Wie lauteten die Argumente? Das Gebäude würde dem geltenden Bebauungsplan widersprechen, da es zweigeschossig ist und dadurch nicht im „Einklang mit dem Gebietscharakter“ stehen würde. Ich kenne den Stadtteil und bin daher sehr verwundert über dieses Argument, da sich dort jede Menge zweigeschossige Gebäude befinden. Ein weiteres Argument lautete, dass die geplante Kapazität von 12 Betten für unseren Bezirk „zu hoch“ sei. Dies Argument ist noch merkwürdiger als das erste, da der betreffende Bezirk mehr als 150.000 Einwohner hat und ein Hospiz außerdem natürlich auch von anderen Bezirken in Anspruch genommen werden kann. In meiner vergangenen Tätigkeit als Betreuerin hätte schon ich allein mehrere Schwerkranke für einen Platz vermitteln können.

Ob jetzt endlich Ruhe ist mit den absurden Klagen, kann man noch nicht sagen, da die Einlegung von Berufung beim Hamburger Oberverwaltungsgericht möglich ist. Was an dem ganzen Vorgang so schockierend ist, ist nicht nur die Tatsache, dass das Klagen gegen die Entstehung eines Hospiz an sich schon ein Unding ist, sondern der Umstand, dass das geplante Vorhaben natürlich nicht mittendrin unterbrochen werden konnte und das Hospiz mittlerweile kurz vor der Eröffnung steht. Somit wären bei einer erfolgreichen Klage sowohl das ganze Engagement der ehrenamtlichen Unterstützer sowie auch die investierten Gelder einschließlich der vielen Spenden völlig vergebens gewesen. Bezeichnenderweise schien selbst dies bei den klagenden Anwohnern in keiner Weise moralische Bedenken auszulösen.

Aber ich will ja nicht nur den negativen Teil der Hospizgründung sehen, sondern in erster Linie freue ich mich natürlich über das Gerichtsurteil. Und finde es toll, wie viele Menschen sich ehrenamtlich engagiert haben für diese dringend erforderliche Einrichtung. Wenn man den Presseberichten trauen kann, sind rund zwei Millionen Euro gespendet worden. Das wiegt die Existenz prozessierender Anwohner wieder auf.

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Sonntag, 22. Dezember 2013, 23:06h

Eine Fehlentscheidung, die ein Menschenleben kostete.

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So frage ich dich Gott, was war mein Leben,
als dass ich schrie und nach dem Tode frug.
Und niemand hat mir seine Hand gegeben,
bis man mich auf der anderen Hände trug.

Johannes, Patient aus einer psychiatrischen Abteilung

Es liegt schon einige Jahre zurück, als ich mit einem besonders erschütternden Suizid konfrontiert wurde. Es handelte sich nicht um einen meiner Betreuten, sondern um die Freundin eines Betreuten meines Kollegen, die sich auf sehr grausame Weise das Leben genommen hatte. Die Freundin war genau wie der Betreute psychisch krank und litt seit einiger Zeit verstärkt an Ängsten und Depressionen. Als dieser Zustand für sie nicht mehr erträglich war, suchte sie ihren Psychiater auf und bat ihn, sie in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Obwohl es ihr sehr schlecht ging und sie nicht zu den Menschen gehörte, die oft andere um Hilfe bitten, verweigerte ihr Arzt ihr ihren Wunsch nach einer Einweisung. Einige Zeit später ging sie in den Keller, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an.

Der Betreute erzählte, dass seine Freundin eher zu den schüchternen und zurückhaltenden Menschen gehörte und es sie daher eine große Überwindung gekostet hatte, den Arzt um Hilfe zu bitten. Und er verstand überhaupt nicht – und genauso geht es mir auch – wieso so jemanden in so einer verzweifelten Situation diese Bitte verweigert wurde.

Als ich den Namen es Psychiaters Dr. V. erfuhr, war ich merkwürdig berührt, denn auch ich hatte schon einmal sehr unschöne Erfahrungen mit ihm gemacht. Das war in der Zeit, als ich in der Betreuungsstelle für Langzeitarbeitslose arbeitete und mir ein Klient erzählte, wie schlecht es ihm ging und wie er sich nach dem Tod sehnen würde. Ich sagte ihm, dass ich ihm im Rahmen meiner Stelle nicht weiterhelfen könne und ob es für ihn vorstellbar wäre, eine Therapie zu machen. Dies erzählte er dann seinem Arzt – eben jenem Dr. V. Als ich Dr. V. anrief, um mit ihm über meine Sorge in Bezug auf den Klienten zu sprechen, erhielt ich ein Donnerwetter: „Wie kommen Sie auf die Idee, dass so jemand eine Therapie machen sollte, dazu ist der überhaupt nicht in der Lage“. Und mir fuhr der Schreck in die Glieder, als mir Dr. V. eröffnete, dass er gedenke, sich bei der Krankenkasse über mich zu beschweren.

Ich war Anfang der 90er Jahre noch Berufsanfängerin und hatte sofort das Gefühl, einen riesigen Fehler gemacht zu haben. Allerdings fiel mir kurze Zeit später ein Seminar aus meinem Studium ein, in dem das Thema Suizid ausführlich behandelt worden war und ich erinnerte mich an die Regel der Suizidprophylaxe, dass es keine Kontraindikationen für eine Therapie im Falle von Suizidgefährdung gäbe. Ob Psychose, Demenz oder akute Krise – wer bei suizidalen Gedanken HIlfe benötigt, muss sie auch erhalten. Das beruhigte mich ein wenig.

Während der Fall der Freundin des Betreuten ein so tragisches Ende nahm, war dies bei meinem Klienten glücklicherweise nicht der Fall, denn zu den damaligen Zeiten gab es noch eine weitgefächerte ABM-Szene und dabei sogar die Möglichkeit, in schwierigen Fällen einen Arbeitsplatz maßzuschneidern. So kam es, dass der Klient, der ein ausgesprochener Literaturfan war, in einem Kulturprojekt die Möglichkeit erhielt, eine Arbeit über die Literatur des Stadtteils anzufertigen, was für ihn genau das Richtige war.

Aber zurück zu der Freundin des Betreuten, die um Hilfe bat und der tragischerweise diese Hilfe ärztlicherseits verweigert wurde. Einmal mehr wird dabei deutlich, wie sehr jemand trotz Suizidgedanken noch am Leben hängen kann. Dem Mythos von der angeblich so freien Entscheidung zum Tod steht die Realität entgegen, in der deutlich wird, wie verzweifelt jemand mit dieser Entscheidung ringt und wie groß die Sehnsucht nach Hilfe ist.

Hatte der Suizid eigentlich Konsequenzen für Dr. V.? Natürlich nicht, denn es erfuhr ja niemand von dem vorherigem Arztbesuch. Der Freund litt ebenfalls an einer psychischen Erkrankung, so dass seine Aussage nur bedingt ernst genommen worden wäre. Und abgesehen davon ist es immer ein mühsamer Weg, einen Zusammenhang zwischen Hilfeverweigerung und Suizid nachzuweisen. Meist wird in ähnlichen Fällen lakonisch darauf hingewiesen, dass sich der Betreffende ja vielleicht auch trotz des gewünschten Klinikaufenthalts umgebracht hätte. Bleiben noch mein Kollege und ich. Und wir haben – und dafür schäme zumindest ich mich immer noch – keine Schritte zur Untersuchung des Falles eingeleitet.

Ich bin froh, dass Dr. V. schon seit einiger Zeit in Rente ist und kein Unheil mehr anrichten kann.

Und ich bin froh über den oben aufgeführten kleinen Vierzeiler, der mir von einem Psychiatriepatienten aufgeschrieben wurde. Dabei geht mir insbesondere der Satz unter die Haut „Und niemand hat mir seine Hand gegeben“. Jemand, der es wissen muss, bringt damit klar und unmissverständlich zum Ausdruck, worum es in der Arbeit mit Menschen geht: Menschlichkeit!

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Freitag, 13. Dezember 2013, 13:10h

Morgendlicher Besuch. Armut ist relativ

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Vor ein paar Tagen wurde ich früh morgens durch ein Gemurmel vor unserer Wohnungstür geweckt. Als ich die Tür öffnete, sah ich in Augenhöhe zuerst nichts und erst als mein Blick weiter nach unten wanderte, entdeckte ich einen Mann, der gebettet auf eine seiner Jacken auf dem Boden lag. Ich wohne im vierten Stock in einer Dachgeschosswohnung und entsprechend klein ist der Flur, so dass der Mann sich gerade eben ausstrecken konnte. Ich fragte den Mann erstaunt, was er auf dem Boden machen würde. „Ich dachte, hier ist niemand zuhause“ antwortete er mir und machte sich daran zu gehen. Meine Frage, ob er keine Wohnung hätte, wurde bejaht, so dass ich ihm sagte, dass er meinetwegen dort liegen bleiben könne, aber leise sein sollte.

Mein Lebensgefährte war etwas irritiert über meine Auskunft, dass jemand vor unserer Tür schlafen würde und als er ebenfalls nachsah, muss er wohl ein wenig furchteinflößend ausgesehen haben, so dass unser Besucher seine Jacke anzog und gehen wollte. Davon ließ er sich auch nicht abhalten, als ich ihm nochmals beteuerte, er könne bleiben.

Mir hängt dieses Erlebnis auch jetzt noch nach. Es herrscht Eiseskälte und jemand hat keine Bleibe, so dass er sich in Hausfluren schlafen legt. Armut ist relativ. Einige Menschen nennen etliche Immobilien ihr Eigen oder haben ein sechstelliges Jahreseinkommen und jammern trotzdem um die Wette. Andere wiederum besitzen noch nicht einmal ein möbliertes Zimmer, haben lediglich ein Existenzminimum zur Verfügung und beklagen sich nicht. Und gehen einfach, wenn sie das Gefühl haben, unerwünscht zu sein. Und erinnern dabei an einen Hund, der fortgejagt wird.

Wie lange hält eine Gesellschaft so ein riesiges soziales Gefälle noch aus? Ich hoffe, nicht mehr allzu lange…

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Freitag, 11. Oktober 2013, 00:28h

Fragwürdige Wertungen und bröckelnde Fassaden

behrens

Vor kurzem traf ich eine pädagogische Betreuerin wieder, die ich seit längerem nicht mehr gesehen hatte und mit der ich früher sehr gern zusammengearbeitet habe. Besagte Betreuerin war im Rahmen einer Maßnahme der „persönlichen Betreuung von psychisch kranken Menschen“ tätig, in der es um die Hilfe bei der Bewältigung und Gestaltung des Lebensalltags geht.

Ich ließ die Zusammenarbeit ein wenig Revue passieren und ich erinnerte mich daran, dass zwei meiner Betreuten von der pädagogischen Betreuerin betreut wurden. Beide waren von ihr begeistert und empfanden die die von ihr geleistete Unterstützung als eine große Hilfe. Allerdings erinnerte ich mich auch daran, dass eine meiner Kolleginnen sich sehr abfällig über die betreffende Betreuerin geäußert hatte und kommentierte: „Die ist ja selbst fast wie eine Betreute“. Mich hat diese Formulierung sowohl geärgert als auch nachdenklich gemacht.

Was hatte mich an der Betitelung so geärgert? In erster Linie die merkwürdige Ansicht der Kollegin, Menschen in Betreute und Nichtbetreute einzuteilen – nämlich in diejenigen, die ihrer Ansicht nach in irgendeiner Form nicht der Norm entsprechen und diejenigen, bei denen alles vorbildmäßig verläuft und die ihr Leben anscheinend perfekt meistern. Ich kann nur spekulieren, aus welchem Grund besagte Kollegin die pädagogische Betreuerin der ersten Kategorie zuordnete. Vielleicht weil sie oftmals eine sehr direkte und manchmal auch etwas flapsige Art hat. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass sie äußerlich nicht dem Typ der adretten Bürodame entspricht, sondern eher dem der etwas flippigen Szenefrau. Allerdings sind dies wahrscheinlich genau die Gründe, warum sie von meinen Betreuten so gemocht wurde, denn auch die beiden entsprachen in ihrer Lebensart nicht den gängigen bürgerlichen Normen. Und beide hatten ein sehr empfindliches Gespür dafür, ob sich jemand ihnen gegenüber aufrichtig verhielt und ob das Interesse an ihrer Person auch wirklich echt war.

Die Welt ist bunt, wie es so schön im Volksmund heißt. Und bunt sind auch die Lebensentwürfe. Nicht jeder Mensch will heiraten, Kinder haben, ein Haus bauen, Lebensversicherungen abschließen und um jeden Preis einen perfekten Eindruck machen. Manche Menschen haben einen steinigen Lebensweg und es geht um andere Wertigkeiten, wie zum Beispiel um Authentizität und Aufrichtigkeit. Ich persönlich schätze die Zusammenarbeit mit solchen Menschen sehr, denn in der Arbeit mit Menschen – und dazu zählt rechtliche Betreuung genauso wie pädagogische – kommt es eben gerade nicht darauf an, einen guten Eindruck zu machen, sondern die Beziehung zum Betreuten authentisch und tragfähig zu gestalten.

Die Aussage „Die ist ja selbst fast wie eine Betreute“ steht für mich für ein Weltbild, demzufolge das eigene Leben als perfekt funktionierend eingeschätzt wird, während Probleme und Unzulänglichkeiten ausschließlich bei anderen wahrgenommen werden. Das Fatale an dieser Selbsteinschätzung ist, dass dabei alle eigenen Schwächen und Konflikte konsequent ausgeblendet werden. Tragischerweise hat dies wiederum die Tendenz zur Folge, sich allen konfliktreichen und anstrengenden Beziehungen zu entziehen und sich nur noch den netten und angenehmen zu widmen. Dies kann sowohl auf den familiären Bereich als auch auf den beruflichen Bereich zutreffen.

Auch im Bereich der rechtlichen Betreuung ist es möglich, schwierige und anstrengende Betreuungen abzugeben. Fast jeder Betreuer hat Betreute, mit denen die Zusammenarbeit manchmal an die Grenzen des Erträglichen geht und irgendwann an den Punkt gelangt, an dem es besser ist, einen Betreuerwechsel zu beantragen um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Allerdings sollte dies immer nur die letzte Möglichkeit sein und nicht allein aus dem Grund veranlasst werden, weil man sich lieber denjenigen Menschen widmet, zu denen die Beziehung harmonisch verläuft und durch die man sich positiv bestätigt fühlt.

Es ist eine traurige Erkenntnis, dass gerade bei denjenigen, deren Lebensstrategie darin besteht, alle Disharmonien konsequent auszublenden, Schein und Realität weit auseinanderklaffen und die Fassade der heilen Welt irgendwann gefährlich bröckelt. Mich erfüllt dies nicht mit Genugtuung, aber ich fühle mich bestätigt in meiner Ansicht, dass diese Lebensstrategie weder für die Arbeit mit Menschen taugt, noch für den Umgang mit Menschen im Allgemeinen. Weder Betreute noch Angehörige profitieren von einem guten Eindruck. Das, worauf es ankommt, ist Authentizität, Aufrichtigkeit und echtes Interesse für den Anderen. Gerade die Bereitschaft, den anderen auch in schwierigen und anstrengenden Konflikten nicht fallen zu lassen, macht den Wert einer menschlichen Beziehung aus.

Selbst wenn die zweifelhafte Betitelung „Die ist ja selbst fast wie eine Betreute“ tatsächlich auf jemanden zuträfe, so steht dies meiner Meinung nach der Arbeit mit Menschen weniger entgegen als die Haltung eines Menschen, der nur dann Interesse an Beziehungen hat, wenn diese die Fassade der Harmonie und Perfektion nicht gefährden.

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