Mittwoch, 4. Januar 2012, 00:59h
Jammern auf hohem Niveau und die Sache mit dem Einfühlungsvermögen
Manche Leserbriefe in meiner Tageszeitung treffen den Nagel auf den Kopf. Es ging heute um die wachsende Altersarmut und das damit verbundene Risiko des Zusammenbruchs des sozialen Zusammenhalts. Und eine Ursache dafür liegt nach Ansicht eines Leserbriefschreibers darin, „dass Politiker selbst hohe Pensionen beziehen und sich dementsprechend schlecht in die Situation der normalen Bevölkerung hineinversetzen können“. Auf eine Kurzformel gebracht geht es in der Aussage um den Verlust des Einfühlungsvermögens.
Ich kann mir mittlerweile – das war nicht immer so – nicht mehr vorstellen, dass jemand, der gut verdient, noch in der Lage ist, sich in jemanden hineinzuversetzen, dem nur das Existenzminimum zur Verfügung steht. Dafür mag es mannigfache Gründe geben. Einer ist, dass sich erfahrungsgemäß Menschen, die gut verdienen, für schlecht verdienend halten. Entsprechend sind solche Menschen dann mit bestem Gewissen voll und ganz mit sich selbst beschäftigt, da sie ja ihrer eigenen Wahrnehmung gemäß zu den Armen gehören. Somit ist das ausschließliche Kümmern um sich selbst nicht egoistisch, sondern quasi eine Form der Armenfürsorge. Ein weiterer Grund ist, dass manche Menschen ihre Arbeit, die nach objektiven Gesichtspunkten völlig durchschnittlich ist, für das absolute Nonplusultra halten und infolgedessen ihren Lohn als eine himmelschreiende Unterbezahlung ansehen.
Es gibt mit Sicherheit auch Ausnahmen. Vor kurzem kam ich mit einer Bankangestellten ein wenig ins Gespräch über das Thema Armut, als ich ein Pfändungskonto für einen Betreuten einrichten ließ. „Ich kann nicht klagen, ich gehöre zu denen, denen es gut geht“, meinte die Bankangestellte. Ich gab meiner Verwunderung Ausdruck, da ich diesen Satz schon sehr, sehr lange nicht mehr gehört habe. Daraufhin antworte meine Gesprächspartnerin, dass man zwar schon mal ins Jammern verfallen würde, aber dies wäre dann „Jammern auf hohem Niveau“, weil man sich alles, was man braucht, leisten kann. Dies wäre also ein Beispiel dafür, dass jemand durchaus in der Lage ist, zu sehen, dass es sehr viele Menschen gibt, die erheblich weniger verdienen.
Gutverdienende Politiker können sich kaum noch in Geringverdienende hineinversetzen. Wie ist es um uns Betreuer bestellt? Auch wir verdienen ein Vielfaches von dem geltenden Hartz-IV-Satz. Sind wir trotzdem noch in der Lage, uns in unsere Betreuten hineinzuversetzen, die niemals in Urlaub fahren können, kein Auto haben und deren Kinder auf Dinge wie Musikunterricht und Auslandsschulbesuche verzichten müssen? Wenn ich mir die Anwaltskollegin vor Augen halte, die einer im Hartz-IV-Bezug stehenden alleinerziehenden Mutter trotz staatlichen Beratungsscheins eine Summe von 100,00 € abfordert, dann kann man die Frage mit einem sicheren „Nein“ beantworten. Dasselbe „Nein“ gilt genauso sicher für jene Kollegen, die Menschen, die mit ihren lausigen 96,00 € Heimtaschengeld nicht auskommen, Anspruchsdenken vorwerfen.
Natürlich gibt es auf der anderen Seite wiederum auch Kollegen, denen die Armut unserer Betreuten sehr wohl bewusst ist und die sogar bei finanziellen Engpässen aus eigenen Mitteln Geld vorstrecken. Nur ehe man jetzt ins nebulöse „es gibt solche und solche“ verfällt, muss ehrlicherweise sagen, dass Betreuer – obwohl direkt in die Hartz-IV-Problematik involviert – nie und nirgends in Erscheinung treten, wenn es darum geht, sich öffentlich zu äußern. Man setzt sich innerhalb des klar umrissenen Aufgabenkreises für die Betreuten ein – aber mehr auch nicht. Das Einfühlungsvermögen mag auf der individuellen Ebene vorhanden sein, auf der gesellschaftlichen Ebene im Sinne von Parteilichkeit sucht man es leider vergeblich.
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