Mittwoch, 21. Dezember 2011, 13:01h

Die Falle des Tu-quoque

behrens

Durch Zufall bin ich beim Lesen über die Argumente der Kritik an den Nürnberger Prozessen auf den Begriff des Tu-quoque-Arguments gestoßen, von dem ich bisher noch nie gehört hatte. Tu-quoque- heißt wörtlich übersetzt „Du auch“ und beruht auf der Ansicht, dass man einen Vorwurf von jemanden durch einen Vergleich mit dessen Verhalten zurückweisen kann. Bei den Nürnberger Prozessen wurde beispielsweise von den Verteidigern versucht, den Anklagepunkt des Angriffskriegs damit zu entkräften, dass auch die Alliierten schon Angriffskriege geführt haben. Das Tu-quoque-Argument wird als logischer Fehlschluss angesehen. Im Bereich der Justiz bildet diese Einschätzung eine Grundlage, denn – wie mir mein juristischer Kollege ausführlich erklärte – kann Unrecht natürlich nicht dadurch Straffreiheit erlagen, dass der Kläger ebenfalls Unrecht begangen hat.

Wird das Tu-quoque-Argument aber auch im Alltagsleben als logischer Fehlschluss angesehen? Meiner Meinung nach fast nie, denn das „Du auch“ ersetzt in vielen Diskussionen die argumentative Auseinandersetzung. Was mir wiederum auch nicht völlig abwegig vorkommt, wenn man sich einfach einmal irgendeinen beliebigen der vielen alltäglichen Streitpunkte herausfischt. Nehmen wir einfach mal jemanden, der seinem Gesprächspartner vorwirft, dass er ständig anderen ins Wort fällt und dieser Vorwurf wird ausgerechnet von jemanden erhoben, der selbst auch anderen dauernd ins Wort fällt. Dann gibt es eigentlich kaum ein näherliegendes Argument als das des Tu-quoque. Oder etwa nicht?

Ja und Nein. Auch wenn jemand das Recht hat, bei Kritik an eigenem Fehlverhalten darauf hinzuweisen, dass dieses Fehlverhalten auch bei dem Kritiker vorhanden ist, so bleibt es dennoch ein Fehlverhalten. Und genau dieser Punkt wird bei der Tu-quoque-Argumentation übersprungen. Beide Gesprächspartner werden – folgt man bei dem Beispiel der Tu-quoque-Logik – bis ans Ende ihrer Tage anderen ins Wort fallen und bei der leisesten Kritik darauf hinweisen, dass es ja auch andere gibt, die ins Wort fallen. Die Gelegenheit, das eigene Diskussionsverhalten zu verbessern und dadurch auch die Möglichkeit zu schaffen, produktiver und sinnvoller zu diskutieren, wird mit Hinweis auf „Tu-quoque“ verschenkt. Tu-quoque ist eine rhetorische Sackgasse, in der sich die Gesprächspartner ihr Fehlverhalten wie Ping-Pong-Bälle um die Ohren hauen. Und manchmal erinnert es an das Gezanke von Kleinkindern im Sandkasten wo der Satz „Du bist doof“ beantwortet wird mit dem Satz „Du bist selber doof“.

Je mehr man in die Sichtweise der Tu-quoque-Argumention eindringt, desto mehr wird deutlich, welche Falle sich in diesem Schema verbirgt. Denn man verschenkt nicht nur die Möglichkeit einer Auseinandersetzung, sondern man verhindert sie auch rigoros. Und nicht nur das – man kann sich perfekt vor Verantwortung schützen, denn man kann sich mit Tu-quoque sogar selbst ausbremsen, in dem man das Tu-quoque in ein „Ego-quoque“ wandelt. Dies sieht dann so aus, dass man sich in einer Situation, in der man Zeuge eines schädigenden Verhaltens wird, der Anforderung eines Eingreifens argumentativ dadurch entzieht, dass man selbst ja auch nicht fehlerfrei ist. Man hat somit ja gar nicht die Berechtigung, anderen ihr Fehlverhalten vorzuwerfen. Um dies mit einem praktischen Beispiel zu erläutern: in der Situation, in der jemand bemerkt, dass jemand einen anderen Menschen schadet, indem er ihn etwa beleidigt, ausnutzt oder täuscht, gibt es nach dem Ego-quoque-Prinzip nicht die geringste Verpflichtung, einzugreifen – weil man selbst ja auch moralische Schwächen hat. Wer ist nicht schon mal schwarzgefahren, hat in der Schule abgeschrieben oder hat vielleicht in der Pubertät eine Telefonzelle demoliert? Und weil man sich eben selbst auch schon etwas zuschulden kommen lassen hat, kann man getrost zu allem Ja und Amen sagen.

Abgesehen von allem Für und Wider in Bezug auf Tu-quoque bleibt es selbstverständlich eine Pflicht, das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen. Dazu muss man gar nicht auf lateinische Sprichwörter ausweichen, sondern das volkstümliche „Sich an die eigene Nase fassen“ bringt es auch sehr treffend auf den Punkt. Natürlich sollte man immer darüber nachdenken, ob die Vorwürfe, die man anderen macht, nicht auch bei der eigenen Person begründet sein könnten. Aber es wäre fatal, wenn dies dazu führen würde, dass überhaupt niemand mehr Kritik äußert.

Das Tu-quoque-Prinzip findet man überall, so auch unter uns Betreuern. Als ich darüber las, wurde ich sofort an meinen früheren Kollegen erinnert, der jede Stellungnahme vermeidet, indem er das „Tu-quoque“ wie ein Schutzschild vor sich herschiebt. Und der Kollege hat sogar noch eine weitere Abwandlung des Tu-quoque erfunden, nämlich die des „Ille-quoque“. Die Ille-quoque – also die „Er auch“ Argumentation – benutzte er, als wir im Rahmen unserer Arbeit Zeugen wurden, wie es zu einer heftigen Übervorteilung eines Betreuten kam. Auf meine Kritik an unserem Nicht-Eingreifen konterte der Kollege damit, dass der Betreute in der Vergangenheit „ja auch schon mal“ kriminelle Aktivitäten gezeigt hatte. Würde man dieser seltsamen Argumentation konsequent folgen, käme dies einem Verbot jeglicher Strafverteidigung gleich, denn wer eine Straftat begangen hat, hat damit das Recht auf eine Verteidigung verwirkt.

Tu-quoque mag auf den ersten Blick aussehen wie ein Argument. Aber schon beim zweiten Blick entpuppt sich das Tu-quoque als perfekte Tarnung um sich gekonnt vor Konfrontation und der damit verbundenen unbequemen Pflicht zum Handeln zu drücken. Und durch die Kombination mit dem Ego-quoque wird das Ganze dann letztendlich auch noch in etwas durch und durch Positives gewandelt – denn was ist schließlich rühmlicher, als der Hinweis auf die eigene Fehlbarkeit?

Ich bin leider des Lateinischen nicht mächtig und habe mir das „Ego-quoque“ und das „Ille-quoque“ konstruiert in der Hoffnung, dass es so richtig ist.

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