Mittwoch, 6. Juli 2011, 03:12h
Meine Betreuten II - Jemand, der Deutschland über alles liebt
Seit etwa 3 Jahren betreue ich einen dreißigjährigen Mann, der seine afrikanische Heimat verließ, um in Deutschland zu studieren. Nach seinem Germanistikstudium in Afrika arbeitete Herr J. einige Zeit als Lehrer in seiner Heimat und bewarb sich dann um einen deutschen Studienplatz für das Fach Kommunikationswissenschaften. Die ersten Semester seines Studiums absolvierte Herr J. sehr erfolgreich. Aber dann entwickelte Herr J. plötzlich Symptome einer psychischen Erkrankung, die schließlich in eine schwere Psychose mündeten. Zu den Symptomen gehörte ein sogenannter Stupor, das ist ein Zustand der Bewegungslosigkeit, in der oftmals auch keine Nahrung oder Flüssigkeit mehr aufgenommen wird und überhaupt keine Kommunikation mehr mit anderen stattfindet. Dieser Zustand ist meist auch mit großer Angst und Depression verbunden.
Beim ersten Krankheitsschub, der noch nicht zur Einrichtung einer Betreuung, aber zu einem langen stationären psychiatrischen Aufenthalt führte, gab es massive finanzielle Unterstützung durch die evangelische Studentengemeinde, so dass der Verbleib in Deutschland gesichert war. Aber der Fond, über den die Studentengemeinde verfügt, ist nur für vorübergehende Notlagen eingerichtet und so war es unsicher, wovon Herr J. in Zukunft leben würde. Beim zweiten Krankheitsschub wurde dann die Betreuung eingerichtet, denn inzwischen hatte sich die Situation so zugespitzt, dass die Ausweisung schon beschlossen war und Herr J. sich schon mit einem Bein im Flugzeug befand. Dank des sehr engagierten Rechtsanwalts von Herrn J. kam es aber nicht dazu, denn Herr J. war so schwer krank, dass eine Ausweisung für ihn mit Sicherheit verheerende gesundheitliche Folgen gehabt hätte, was dann zu einer Aussetzung der Abschiebung führte.
Eine Zeitlang hangelte ich dann von einer Fiktionsbescheinigung (das ist eine Art vorübergehende Aufenthaltsduldung) zur nächsten und kämpfte zunächst gegen Windmühlen, als ich versuchte, den Lebensunterhalt und die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse für Herrn K. zu sichern. Herr J. hatte eigentlich gar kein Recht auf einen Aufenthalt in Deutschland, denn die Aufenthaltserlaubnis war definitiv nur zum Zwecke der Aufnahme eines Studiums erteilt worden, und dieses war ja durch die schwere Erkrankung gar nicht mehr realisierbar. Aber irgendwann nach sehr viel Schriftverkehr mit Behörden und nach einigen Widersprüchen waren dann doch die befristete Aufenthaltserlaubnis und der Sozialhilfebezug gesichert.
Die Betreuung von Herrn K. hat viele Aspekte, die es wert sind, einmal genauer betrachtet zu werden. Das sehr dramatische Krankheitsbild einer schweren mit einem Stupor verbundenen Psychose, der Kampf um ein Bleiberecht und der Albtraum, der entsteht, wenn jemand einen Status hat, der ihn schonungslos durch alle sozialen Netze fallen lässt. Was ich aber so beeindruckend an der Lebensgeschichte von Herrn J. empfinde, ist seine große Liebe zu Deutschland. Diese äußerte sich seiner Aussage nach bei ihm schon, als er noch ein kleiner Junge war und er ein begeisterter und treuer Fan des deutschen Fußballs wurde. Später dann vertiefte er seine Liebe zu Deutschland durch ein Studium der Germanistik. Und seine Verehrung von Deutschland sollte darin ihren Höhepunkt finden, dass er es schaffte, in seinem Traumland einen Studienplatz zu erhalten.
Und dann platzte dieser Traum auf sehr grausame Art. Die psychische Erkrankung von Herrn J. tritt so massiv und extrem auf, dass er sich mittlerweile die meiste Zeit in stationärer psychiatrischer Behandlung befindet. Seine Angstzustände sind oft so quälend, dass er es in seiner Wohnung nicht aushält.
Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was die auslösende Ursache für diese schwere Erkrankung sein könnte. Hat die Verwirklichung des großen Traums vielleicht auch Seiten, die schwer zu ertragende Widersprüche offenbart haben? Ist es vielleicht für einen sensiblen Menschen ein zu großer Schritt, fernab der Heimat zu wohnen? Sind die Unterschiede zwischen den Kulturen so groß, dass sie vielleicht auch manchmal den Boden unter den Füßen wegreißen können?
Ich hatte einmal ein langes Gespräch mit meinem Herrn J., in dem ich ihn gefragt habe, was es denn genau ist, das ihn an Deutschland so fasziniert. Herr J. sagte mir, dass es ihn ungeheuer beeindrucke, wie man es in diesem Land geschafft hatte, aus einem Trümmerfeld wieder etwas Neues aufzubauen. Und dann beschrieb er, dass etwas Ähnliches in seiner Heimat unvorstellbar wäre, da dort zum einen keine demokratischen Strukturen herrschten und zum anderen Posten grundsätzlich nicht nach Fähigkeit besetzt werden würden, sondern nur aufgrund von guten Beziehungen. Es bestände gar keine Möglichkeit einer Reform, da es jedem einzelnen immer nur um die eigene Position, bzw. die der eigenen Familie gehen würde. Herr J. sah wenige Anlass zu Optimismus, da aufgrund dieser Struktur Veränderungen gar nicht zustande kämen.
Ich fragte Herr J. nach dem Thema seiner Magisterarbeit (das interessiert mich irgendwie immer sehr). Herr J. schrieb ausgerechnet über eines meiner Lieblingsbücher, nämlich „Demian“ von Hermann Hesse. Spezifisch setzte sich Herr J. mit dem Thema „Eigensinn“ in diesem Buch auseinander.
Für mich hat Herr J. etwas, was ich nur schwer in Worte fassen kann. Ich habe insgeheim den Gedanken, dass es für Herrn J. trotz seiner großen und ehrlichen Liebe zu Deutschland ein Fehler war, seinen Traum zu verwirklichen. Es prallen zwei völlig unterschiedliche Kulturen aufeinander. Und das, was Herr J. von Deutschland aus der Ferne wusste, waren die schönen und bewundernswerten Seiten. Politik, Fußball, Literatur – all das sind Teile eines Landes, die sehr beeindruckend sein können. Aber das reale Leben hier hat unendlich viele andere Facetten. Herr J. kommt aus einer Familie, in der Tradition und Hierarchie einen großen Wert darstellt. Er hat 10 Geschwister und sein Vater hat drei Ehefrauen. Das Leben in einer anonymen Großstadt wie Hamburg stellt da einen ziemlich drastischen Gegenpol dar.
Vielleicht hat die schwere Erkrankung auch völlig andere Ursachen, und ich sehe einen Zusammenhang, der in Wahrheit viel weniger Bedeutung hat, als ich vermute. Was aber mit Sicherheit niemals unterschätzt werden darf, ist die Bedeutung der kulturellen Wurzeln, die man niemals ablegen kann. Wenn es gelingt, die eigenen Wurzeln heil in einen fremden Boden zu verpflanzen, dann kann dies einen großen Gewinn darstellen. Aber ich befürchte, dass dabei eben manchmal auch Verletzungen entstehen können.
*Aus Gründen des Datenschutzes wurden von mir einige Angaben geändert.
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