Sonntag, 11. April 2010, 19:59h

Die Missbrauchsfälle in den katholischen Einrichtungen – dort und anderswo Wegsehen als Lebensstrategie

behrens

Es hört einfach nicht auf – das Bekanntwerden immer neuer Fälle von Missbrauch in katholischen Erziehungseinrichtungen. Hoffentlich wird dies endlich zu der längst überfälligen Diskussion und Reformierung des Umgangs mit Sexualität führen. Und hoffentlich wird man es nicht bei der Bitte um Verzeihung belassen, denn die wird den zukünftigen Schülern überhaupt nichts nützen. Nur das Verändern von Strukturen und Richtlinien wird etwas bewirken können.

Aber mir jetzt es an dieser Stelle nicht um die Thematisierung der dem Missbrauch zugrunde liegenden speziellen Thematik – Zölibat, Machtgefälle und klerikale Strukturen. Mir geht es um etwas, das mich fast ebenso wie der eigentliche Missbrauch schockiert. Mir geht es darum, dass zweifellos und konsequent weggesehen wurde. Ohne diesen Umstand hätte Missbrauch in diesem Ausmaß nicht jahrelang bestehen können.

Es gibt nicht nur Täter und Opfer, sondern auch noch jede Menge Menschen drum herum: Kollegen, Mitschüler, Untergebene, Vorgesetzte, Nachbarn, Besucher, Freunde, Familienangehörige, Besucher e.t.c. Wie ist es möglich, dass Massen von Menschen über Jahrzehnte lang nichts gesehen haben? Das ist eben nicht möglich. Denn es gibt nicht nur die Tragödie im Stillen, sondern auch jede Menge Zuschauer. Aber eigentlich ist Zuschauer nicht das richtige Wort. Besser passt: Wegschauer. Und so wie die Tragödien in den Theatern ihre Zuschauer haben, haben die Tragödien im alltäglichen Leben ihre Wegschauer.

Es kann kein Unrecht geschehen, ohne dass nicht irgend jemand darüber hinwegsieht und schweigt. Und das ist nicht auf Kindesmissbrauch beschränkt sondern auf jedes Unrecht.

Und dass ich mich zu dieser Thematik hier in meinem Betreuerblog äußere, ist auch nicht ohne Bezug zu meiner Arbeit. Denn eben dieses hartnäckige und konsequente Wegsehen hat die Betrügereien in dem Betreuungsverein, in dem ich zwei Jahre arbeitete, möglich gemacht. Und obwohl ich Kindesmissbrauch als sehr viel folgenschwerer und tragischer ansehe als finanziellen Betrug, ist die Grundproblematik die Gleiche: Macht wird zum eigenen Vorteil missbraucht und es wird profitiert davon, dass es sich um Abhängige – denn das sind Betreute nun mal – handelt, die sich nicht wehren können. Und dies wird erst ermöglicht durch das verlässliche Wegschauen aller Mitwisser.

Ich kann nichts über die Menschen sagen, die stillschweigend dem Missbrauch von Kindern zugesehen haben. Aber ich kann sehr wohl etwas über das stillschweigende Mitansehen meiner Kollegen und mir aussagen. Da gibt es zwei, drei unterschiedliche Typen von Wegsehern. Dem ersten ist es schlichtweg schnurz-piepe-egal und falls die Betrügereien doch einmal erwähnt werden, dann wird nur dumpf mit den Schultern gezuckt und lakonisch geantwortet „Is’ doch nicht mein Problem, ich mach’ das wofür ich bezahlt werde“. Im Gegensatz zu diesem Typus verursachen dem zweiten Typus die Missstände Magenschmerzen. Aber dabei bleibt es dann auch. Es wird zwar versucht, durch viel Einsatz für die Betreuten einen Ausgleich zu schaffen, aber es wird weiterhin tatenlos zugesehen, wie Menschen Schaden zugefügt wird.

Ach ja, und zu dem dritten Typus rechne ich mich selbst. Ich habe zwar meinen damaligen Chef lautstark die Meinung gesagt, aber genau wie bei dem Magenschmerztypus blieb es dann dabei. Ich bin weder zur Polizei, noch zur Presse gegangen, noch habe ich umgehend (sondern erst zwei Jahre später) gekündigt. Stattdessen werde ich hier wohl bis ans Ende meiner Tage in diesem Blog oder auch auf meiner Homepage schreiben um damit mein schlechtes Gewissen und meine Verbitterung in den Griff zu bekommen.

Und wie reagieren eigentlich Typus 1 und 2 in der Retrospektive auf das Geschehene? Beim Typus 1 ist es klar: der wiederholt weiterhin stereotyp seinen Satz „Is’ doch nicht mein Problem, ich hab’ das gemacht, wofür ich bezahlt wurde“ – zu einer differenzierteren Sichtweise wäre er auch gar nicht in der Lage. Typus 2 lässt sich zwar nicht zu solchen Dumpfheiten hinreißen, aber würde auch nie den Gedanken an eine Aufarbeitung haben. Stattdessen konstruiert er jedes nur erdenkliche Argument für mildernde Umstände und kontert vehement damit, dass man selbst auch nicht ohne Tadel ist. Damit hat er zweifellos auch Recht, nur ist dies eine mehr als faule Ausrede, um sich vor der Auseinandersetzung mit der Übernahme von Verantwortung zu drücken.

Und wenn man jetzt von der speziellen, jeweils sehr unterschiedlichen Problematik des Wegsehens übergeht zur exemplarischen Problematik des Wegsehens, die für alle Bereiche des täglichen Lebens gleichermaßen gilt, dann sollte man jetzt endlich mal das tun, was schon lange getan hätte werden müssen: sich zu der eigenen Feigheit bekennen. Das ist das Mindeste, was man den Geschädigten schuldig ist. Anstatt sophistisch ausgeklügelte Rechenschaftsargumente zu konstruieren sollte man schlicht und einfach nur eins sagen:

Mea culpa – ich bin schuldig!

Wer Unrecht duldet, stärkt es.
Willy Brandt

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Missbrauch des Missbrauchs?
Meine Freundin ist gläubige Katholikin und wir sind über das Missbrauchsthema in Streit geraten. Als ich erwähnte, was für ein furchtbarer Abgrund sich da aufgetan hat, kritisierte sie sofort die Presse. Die Berichterstattungen seien ungenau und würden auf die Sensationslust abzielen. Das mag ja auch nicht ganz von der Hand zu weisen zu sein, aber reicht dies schon aus, um das Thema vollständig zu verlagern und die eigentliche Tragödie – nämlich den Missbrauch – darüber zu vergessen? Das erinnert mich an Tschernobyl. Kaum war die Katastrophe bekannt, ergoss sich die DKP (gibt es die eigentlich noch?) über die Presse, die alles tun würde um die Katastrophe zu einem Feldzug gegen den Kommunismus zu nutzen.

Aber zurück zur katholischen Kirche. Was ist eigentlich so schwer daran, ein großes und gravierendes Problem offen anzusprechen? Es mag ja sein, dass alle, die sowieso gegen die Kirche sind, dies Thema nutzen um zu postulieren, dass Religion gefährlich ist. Aber dies entbindet trotzdem nicht von der Pflicht, sich jetzt grundlegend mit dem Thema Sexualität zu befassen. Allerdings sind religiöse und auch politische Dogmen so stark, dass man dabei gegen Wände läuft. Die Menschen lieben ihre Dogmen und geraten sofort in Alarmbereitschaft, wenn man sie auch nur ein winziges bisschen in Frage stellt.

Wer gern zölibatär leben möchte, sollte das tun können. Und wer nicht zölibatär leben möchte, sollte das verdammt noch mal auch tun können. Das ist so einfach wie es sich anhört. Aber auch wiederum nicht, weil man auch das Thema Homosexualität angehen muss. Die meisten der missbrauchten Kinder sind Jungen – und auch wenn jetzt meine Freundin an die Decke gehen würde – ein sehr großer Teil der Mönche und Priester sind homosexuell. Die Erlaubnis der Ehe wird daher noch nicht ausreichen, um den Missbrauch zu bekämpfen. Aber selbst wenn ich all meine Phantasie spielen lasse – die offizielle Anerkennung von Homosexualität kann ich mir beim besten Willen in der katholischen Kirche vorstellen.

Also doch nicht so einfach? Ganz sicher nicht, aber man sollte jetzt nicht den Fokus auf die böse Presse verschieben. Sondern ihn da lassen, wo etwas geändert werden muss: beim Umgang mit Sexualität.

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Dieser Umgang mit Sexualität ist auch immer ein Umgang mit Macht. Nichts erscheint mir so gefährlich für strukturell starre Institutionen wie die mehr oder weniger "triebhafte" Natur der Sexualität. Was schwer beherrschbar scheint, muss, so der Fehlschluss, in besonders enge Muster von Verbot, Stigmatisierung und Reglementierung gepresst werden, um die Kontrolle zu gewährleisten. Dann noch zu argumentieren mit dem äußerst wirksamen, weil höchst emotionalen und wenig widerlegbaren Dogma, Sexualität in jeglicher Form außer in der zur Fortpflanzung bestimmten sei Sünde, ist konsequent, wenn auch überaus menschenverachtend. Etwas als Sünde zu deklarieren versetzt den, der es tut, in die machtvolle Position, die Gefühle der "Schäfchen" zu einem großen Teil zu dominieren. Scham und Furcht treiben Menschen, die an dieses System glauben, in ein inneres Gefängnis, aus dem sie sich nicht lösen können, weil sich sexuelle Regungen und Gefühle nun einmal nicht ausblenden oder beherrschen lassen und beginnen, ein Eigenleben zu führen, wenn sie unterdrückt und weggesperrt werden, und das in umso höherem Maße, wenn sie negativ konnotiert sind.

Das gilt im Übrigen für die gesamte Gesellschaft, nicht allein für Priester und Internats-Erzieher. Sexualität ist etwas überaus Sensibles, und überall dort, wo restriktiv oder grenzüberschreitend mit ihr umgegangen wird, entsteht zum Teil irreparabler Schaden.

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