Sonntag, 2. September 2018, 18:37h

Nicht nur in Chemnitz. Nicht nur Pegida und AFD

behrens

Wie beurteilten eigentlich diejenigen Menschen die Flüchtlingsproblematik, die selbst Einwanderer sind oder die selbst aus einer Einwandererfamilie kommen? Kann man davon ausgehen, dass diejenigen, die sich oftmals selbst im Asylstatus befinden oder befanden aufgrund ihrer eigenen Situation mit Solidarität und Verständnis reagieren?

Nein, das kann man leider nicht. Besonders wenn es um das Thema Wohnungssuche geht, ist die Reaktion fast immer eindeutig ablehnend. Ich arbeite in einem Stadtteil, dessen Einwohner mittlerweile zu rund fünfzig Prozent aus Menschen mit Migratinshintergrund bestehen. Da folglich auch zu meinem Klientel viele Migranten gehören, bekomme ich immer wieder auch einen Einblick in deren Einstellung zu Flüchtlingen. „Erst kommen doch wir!“ drückte es beispielsweise ganz klar eine durch ein Asylverfahren nach Deutschland gekommene Kurdin aus. Ein anderer, aus einer türkischen Einwandererfamilie stammende Klient, der mittlerweile einen deutschen Pass besitzt, reagierte genauso rigoros: „Warum werden die Flüchtlinge mir als Deutschem vorgezogen? Das ist eine große Ungerechtigkeit“. Eine Roma, die sich noch im Asylstatus befindet äußerte sich dazu kurz und bündig: „Die (Flüchtlinge) sollte man alle sofort wieder zurückschicken“.

Sicher, es ist ein riesiger Unterschied, ob Menschen einfach nur empathielos und unsolidarisch sind, oder ob Menschen so wie jetzt in Chemnitz zur Hatz auf jeden aufrufen, der ausländische Wurzeln hat. Was die jedoch die grundlegende Einstellung betrifft, so ist der Unterschied erschreckend gering. In beiden Fällen geht es um das „Wir zuerst!“. Der in einem tristen Plattenbau wohnende arbeitslose Chemnitzer reagiert nicht viel anders als ein in einer Flüchtlingsunterkunft lebender arbeitsloser Afghane oder eine Kurdin, deren Zukunftsperspektive genauso hoffnungslos ist. Was aktive Solidaritätsbekundungen oder Unterstützung der Arbeit mit Flüchtlingen betrifft, so ist dies ebenfalls nicht unbedingt ein Terrain, in dem man viele Menschen findet, die einst selbst völlig mittellos aus einem anderen Land in ein ihnen völlig fremdes Deutschland kamen.

Und man sollte eines nicht vergessen: auch in Flüchtlingsunterkünften werden soziale Konflikte oftmals mit brutaler Gewalt gelöst. Für christliche Minderheiten dürfte das Leben in einer Flüchtlingsunterkunft nicht unbedingt so viel weniger gefährlich sein, als dies für Menschen mit ausländischen Wurzeln in Chemnitz oder anderen ostdeutschen Städten der Fall ist. Das Gleiche gilt für Frauen, die ohne männliche Begleitung in einer Flüchtlingsunterkunft leben.

Es ist mir wichtig, auch ein Gegenbeispiel zu nennen: Klientin Frau A., eine Albanerin, die im Frauenhaus wohnte und trotz Dringlichkeitsschein nahezu drei(!) Jahre verzweifelt vergeblich eine Wohnung suchte. Frau A. spricht kaum Deutsch und ist Analphabetin. Als die Sprache auf die zunehmende Zahl der Flüchtlinge kam, durch die sich die Aussicht auf eine Wohnung weiter verringerte, antwortete Frau A.: „Was sollen machen? Sind auch Menschen, brauchen auch Wohnung“. Mir ist die Nennung dieses Gegenbeispiel auch deswegen sehr wichtig, weil bei jeglicher kritischer Äußerung zum Verhalten von Migranten sofort die unzureichende Bildung als Hauptursache ins Feld geführt wird. Die sechzigjährige Frau A, der der Schulbesuch von ihren Eltern verboten wurde, hat erheblich weniger Bildung, als dies bei den von mir vorab zitierten Klienten der Fall ist. Trotz ihrer verzweifelten und hoffnungslosen Situation brachte Frau A. Mitgefühl und Verständnis auf für diejenigen, die sich in der gleichen Notlage wie sie sebst befanden.

Edit 04.09.18:
Der auf diesen Beitrag erfolgte Kommentar veranlasst mich, hier nochmals klarzustellen, worum es mir geht und worum es mir nicht geht. Fangen wir mit letzterem an:

Es geht mir in diesem Beitrag nicht um das Thema der moralischen Beurteilung derjenigen, die keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen (das ist ein anderes komplexeres Thema).

Es geht mir hier in diesem Beitrag um die Thematisierung eines Phänomens, das in der Öffentlichkeit kaum Beachtung findet, nämlich die Tatsache, dass auch ein großer Teil der Migranten keine Flüchtlinge aufnehmen will. Wenn es eben nicht nur Menschen aus der Rechtsaußenszene sind, die Flüchtlinge ablehnen, sondern auch viele derjenigen, die eingewandert oder sogar selbst geflüchtet sind, dann geht es offensichtlich nicht unbedingt nur um Fremdenhass, sondern auch um anders begründete Ängste. Wie wäre es, wenn man es nicht bei „Nazis-Raus-Parolen“ und dem Zünden von Bengalos belassen, sondern sich stattdessen diese Ängste mal näher ansehen würde?

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Montag, 30. April 2018, 02:42h

Das Bonmot nach Mitternacht

behrens

"Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren."
Karl Raimund Popper (1902-1994), aus: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“

Dazu hier in meinem anderen Blog ein wenig ausführlicher.

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Samstag, 17. März 2018, 21:22h

Gewalt gegen alte Menschen und das Phänomen der fehlenden Lobby

behrens

Vor ein paar Tagen wurde in einer Hamburger Seniorenwohnanlage eine 93jährige Bewohnerin von einer ehemaligen Mitarbeiterin der Anlage ausgeraubt, mit dem Messer angegriffen und schwerverletzt liegengelassen. Vor drei Jahren wurde eine 84jährige in Hamburg Wilhelmsburg überfallen, brutal misshandelt und erstickt. Persönlich betroffen war ich, als ich erfuhr, dass einer meiner Grundschullehrer und dessen Frau bei einem Raubüberfall Opfer eines Gewaltverbrechens wurden. Beide waren berentet und schon weit über achtzig Jahre, als der aus dem dörflichen Umfeld stammende 38jährige deutsche Täter in ihr Haus eindrang und sie brutal ermordete. Gibt man im Internet die Begriffe „Raubüberfall/Raubmord an Rentner“ ein, dann gibt es unzählige ähnliche Fälle. Selbst für mich, für die das Thema kein Neuland ist, ist die große Anzahl derartiger Fälle überraschend.

Eine absolute Ausnahme bei Gewalttaten gegen alte Menschen sind diejenigen Fälle, in denen es zu Gegengewalt kommt und sich die Opfer wehren. Als im Jahr 2010 in einem niedersächsischen Dorf ein Rentner von einer Gruppe von fünf albanischen Jugendlichen überfallen wurde, erschoss er einen der Täter. Bei dem Täter handelte es sich um einen 16jährigen Intensivtäter. Ein ähnlicher Fall ereignete sich im Jahr 2015 in Hamburg bei einem 63jährigen Hausbesitzer, der mit seinem bettlägerigen, pflegebedürftigen Vater zusammenlebte. Als zwei Männer gewaltsam in seine Wohnung eindrangen, erschoss er einen der Täter, bei dem es sich um einen 25jährigen nigerianischen Intensivtäter handelte.

Selbstjustiz wurde auch schon mal das Thema einer Rockoper. Im Jahr 1987 inszenierte Peter Zadek das Rock-Musical „Andi“, in dem es um den Mord an dem 16jährigen Andreas Z. geht, der 1979 von einem Kioskbesitzer erschossen wurde, als dieser sich durch seine Gewaltausbrüche bedroht fühlte. Auch wenn besagter Kioskbesitzer noch nicht im Rentenalter war, sondern soweit ich es erinnere, etwa Ende fünfzig, so ging es dennoch gerade darum, dass sich älterer Mensch gewaltsam gegen die Bedrohung von Jüngeren zur Wehr setzt.

Was bei der Thematik der Selbstjustiz der hier zitierten ersten beiden Fälle so verwundert, ist die Reaktion der Angehörigen der Täter. Familie und Bekanntenkreis reagierten extrem aggressiv, im Fall des Nigerianers kam es dabei zu so massiven Bedrohungen, dass Polizeischutz angeordnet werden musste. Auch wenn Selbstjustiz auf jeden Fall abzulehnen ist, so ist es doch erstaunlich, dass die Angst und die Panik des Opfers genauso vollständig ausgeblendet werden wie die erbarmungslose Brutalität und die erschreckende Skrupellosigkeit des Täters. Alte Menschen, die sich in ihrer Panik nicht wehrlos und schicksalsergeben ausrauben, misshandeln oder ermorden lassen wollen, werden plötzlich nicht mehr als Opfer, sondern als skrupellose Killer angesehen.

Gewalt gegen alte Menschen ist zwar einerseits ein öffentlichkeitswirksames Thema, das auch immer wieder gern entsprechend von der Presse aufgegriffen wird, aber andererseits scheint dieser Thematik eine politische Dimension abgesprochen zu werden. Während die Gesellschaft beispielsweise im Fall von Gewalt gegen Frauen oder gegen Ausländer die politische Dimension klar erkannt hat und dies folglich auch entsprechend im politischen Kontext diskutiert wird, wird dies erstaunlicherweise bei alten Menschen ausgeblendet und es fehlt jegliche Auseinandersetzung, die über bloße Entrüstung hinausgeht. Im Klartext: es gibt keinerlei Lobby!

Woran mag dies liegen? Warum gibt es zwar jede Menge äußerst engagierte Menschen, die aktiv auf Gewalt und Verfolgung aufmerksam machen, aber keine, die sich dabei der Thematik der Gewalt gegen alte Menschen annehmen?

Mir fallen hierbei immer wieder einige meiner früheren Kommilitonen oder Kollegen aus der Sozialarbeit ein, die bei Diskussionen, in denen es um alte Menschen ging, gern mal den Kommentar abgaben: „Alte Menschen sind voll fascho!“. Auch wenn diejenigen, die solche Platituden äußern, glücklicherweise eine Ausnahme darstellen, so sollte es doch zu denken geben, dass ausgerechnet in einer Szene, in der das Engagement für gesellschaftlich benachteiligte Menschen im Zentrum steht, eben solche undifferenzierten Platituden geäußert werden. Und irgendwie kann man sich der Frage nicht erwehren, warum es zwar die Begriffe „frauenfeindlich“ sowie „ausländerfeindlich“ gibt, aber nicht den Begriff „altenfeindlich“.

Was immer es für Gründe haben mag, dass alles mit dem Alter Zusammenhängende ignoriert, verdrängt oder lächerlich gemacht wird – irgendwann trifft es jeden und dann wird man am eigenen Leib erfahren, wie sich Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit anfühlt.


https://www.mopo.de/hamburg/polizei/84-jaehrige-getoetet-lebenslang-fuer-brutalen-mord---richter-hatte--gaensehaut---24790826

https://www.welt.de/print-welt/article211157/Verdaechtiger-nach-Doppelmord-gefasst.html

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13522034.html

ttps://www.mopo.de/hamburg/wollen-die-angehoerige-nun-rache--moustapha-a----25---das-ist-der-erschossene-raeuber-von-jenfeld-1190876

http://www.zeit.de/1987/12/theatralische-null-loesung/komplettansicht

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