Donnerstag, 16. Juni 2016, 00:00h

Geschichte eines verhinderten Selbstmordes. Geschichte eines vollzogenen Selbstmords.

behrens

"Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich (...) stehen, wie vor dem Eingang zur Hölle."
Franz Kafka (1883 - 1924)

Normalerweise bleiben die Hintergründe eines Selbstmordes immer im Bereich des Spekulativen, da nur der Betreffende selbst beschreiben könnte, was genau zu seiner Tat geführt hat. Bei dem Buch „Die Geschichte meines Selbstmordes“ ist dies anders, denn der Autor Viktor Staudt überlebte seinen Selbstmordversuch und schrieb später seine Leidensgeschichte nieder. In seinem Buch geht es zum einen um die Phase unmittelbar vor dem Selbstmordversuch, zum anderen werden die an die Tat anschließenden Krankenhausaufenthalte und Therapien geschildert.

Viktor Staudt litt schon seit Kindheitstagen an schweren Ängsten, die seinen Lebensalltag erheblich beeinträchtigen. Im Jahr 1999 im Alter von 30 versucht Viktor Staudt, sich durch den Sprung vor einen Zug das Leben zu nehmen. Er überlebt schwerverletzt und verliert beide Beine. Tiefverzweifelt versucht Staudt, sich wieder in seinem Leben zurechtzufinden, aber die entscheidende Wendung in seinem Leben tritt erst viele Jahre später ein, als eine Ärztin ihm ein neues Medikament verschreibt.

Das Buch gibt in erster Linie Einblick in die tiefe Verzweiflung, die einem Suizid vorausgeht und nicht in dessen familiären Hintergrund. Man erfährt viel über die Auswirkungen von Angstzuständen, die oftmals mit großen Einschränkungen des alltäglichen Lebens verbunden sind und die irgendwann zu Resignation führen, die so stark wird, dass die Verzweiflung unerträglich wird.

Viktor Staudt hatte das Glück, irgendwann auf Menschen zu treffen, die in der Lage waren, ihm zu helfen. Dabei spielte in seinem Fall die Verschreibung des richtigen Medikaments anscheinend eine größere Rolle als die stationären Aufenthalte. Wenn man sich vor Augen hält, dass Viktor Staudt nach dem Verlust seiner beiden Beine ein sehr viel glücklicheres Leben führt als in der Zeit der körperlichen Unversehrtheit vor dem Suizidversuch, wird deutlich, dass es nicht die Lebensumstände als solche sind, die den Ausschlag für Suizidalität bilden, sondern die Ursachen sehr viel komplexer sind. Letztendlich lebt er noch, weil er auf Menschen getroffen ist, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Menschen dabei zu helfen, ihre Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu überwinden. Und genau dies tut Viktor Staudt jetzt ebenfalls, denn er widmet sein Leben der Präventionsarbeit und veranstaltet Workshops und Vorträge zum Thema Suizidprävention. Sein Buch ist ein wichtiger Teil dieser Prävention und soll dazu beitragen, Menschen davor zu bewahren, die gleiche Leidensgeschichte wie er zu durchleben.

Tragischer ausgegangen ist die Leidensgeschichte von jemandem aus meinem Bekanntenkreis, der sich vor kurzem das Leben nahm. Ich kannte denjenigen nur sehr oberflächlich, war aber dennoch sehr bestürzt, da niemand etwas von der Verzweiflung und den Ängsten mitbekommen hatte. Im Gegenteil – der Betreffende war äußerst aktiv und sozial engagiert und wirkte eher wie ein Fels in der Brandung, der anderen Halt gibt. Es gab weder Hinweise auf die Tat, noch gibt es einen Abschiedsbrief, der erklärt, was dazu geführt hat, den Tod dem Leben vorzuziehen. Bei der Trauerfeier waren so viele Menschen anwesend, dass der Platz in der Kirche nicht für alle ausreichte. Und die Frage bleibt unbeantwortet, warum unter so vielen Freunden und Bekannten niemand war, der etwas mitbekommen hat von dem Leiden eines Menschen, das zu groß war um es ertragen zu können.

Ich bin froh über jemanden wie Viktor Staudt, dessen großer Wunsch es ist, Menschen bei der Überwindung ihres Leidens und ihrer Verzweiflung zu helfen. Es sind Menschen wie Viktor Staudt, die man auch dringend bräuchte in Bereichen wie dem der rechtlichen Betreuung – einem Bereich, in dem es viele Menschen gibt, die an Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit leiden. Und nach wie vor ist es mir ein großes Anliegen darauf hinzuweisen, wie unverantwortlich und fahrlässig es ist, psychisch Kranke in die Hände von Betreuern zu geben, die auf das Leiden eines Betreuten mit dem lapidaren Ausspruch reagieren: ”Wer sterben will soll doch sterben!” Solche Menschen sollen sich mit Immobilien, Aktien oder Versicherungen beschäftigen – aber sich um Himmelswillen von der Arbeit mit Menschen fernhalten.

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Donnerstag, 10. März 2016, 18:51h

Wenn auf einmal alles völlig anders gesehen wird – weil man plötzlich selbst betroffen ist. Und ein Zitat von Hannah Arendt

behrens

Es erstaunt mich immer wieder, zu welch enormen Meinungswechsel Menschen fähig sind, wenn sie von Dingen, die sie zuvor nur vom Hörensagen kannten, irgendwann selbst betroffen sind.

Ich hatte hier ja schon einige Male erwähnt, dass ich vor meiner Selbständigkeit als rechtliche Betreuerin zwei Jahre in einem Betreuungsverein beschäftigt war, der nach sieben Jahren von behördlicher Seite aufgrund äußerst fragwürdiger Arbeitsweisen geschlossen wurde. In der lokalen Presse und der Öffentlichkeit löste es damals relativ viel Empörung aus, dass die Geschäftsführer eines gemeinnützigen Vereins ihre Arbeit für den privaten Profit missbrauchten. Zu denjenigen, die diese Reaktion überhaupt nicht verstanden, gehörte ausgerechnet auch einer meiner Bekannten, der die von mir geteilte Empörung als völlig übertrieben und unangemessen abwertete und sich außerdem jegliche Diskussion darüber verbat. Eben jener Bekannte nahm vor einigen Jahren bei einem der früheren Geschäftsführer eine Arbeit auf, denn besagter Geschäftsführer hatte sich nach der Schließung des Betreuungsvereins sofort wieder selbständig gemacht – diesmal mit einem sogenannten „Betreuungsservice“, bei dem mein Bekannter nun angestellt war. Vor kurzem hörte ich nun, dass mein Bekannter sich mit Geschäftsführer überworfen und eine neue Stelle gesucht hatte. Was war passiert? Nun, der Geschäftsführer stand mit Gehaltszahlungen im Rückstand und außerdem stellte sich heraus, dass er seit längerem im Rahmen von Lohnzahlungen weiterzuleitende Gelder einfach für sich selbst einbehalten hatte. Letzteres ist juristisch übrigens eindeutig als Betrug zu werten. Während mein Bekannter mir zuvor Kleinlichkeit und Unangemessenheit in der Reaktion auf die Vorkommnisse vorwarf, sah er dies jetzt in eigener Sache ganz anders und ging direkt zur Polizei um eine Strafanzeige zu stellen.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass meine Empörung während meiner damaligen Arbeit im Betreuungsverein in erster Linie nicht auf dem Umstand beruhte, selbst um einen Teils meines Lohns betrogen worden zu sein (denn auch mir ist dies genauso wie meinem Bekannten wiederfahren), sondern auf den Betrug an den Betreuten, die sich in einer wesentlich abhängigeren Position als ich befanden und die sich aufgrund ihrer Hilfsbedürftigkeit gar nicht wehren konnten.

In meinem damaligen Kollegenkreis fiel die Reaktion übrigens ähnlich aus wie die meines Bekannten und ich erntete Unverständnis und Vorwürfe für meine Kritik, wobei immer wieder darauf hingewiesen wurde, wie „rufschädigend“ diese doch sei. Keine Spur von Mitgefühl für die betrogenen Betreuten, keine Spur von Empörung über das schamlose Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen.

Wieso gelten bei eigener Betroffenheit plötzlich völlig andere Maßstäbe? Wieso wird alles zuvor vehement Vertretene plötzlich verworfen? Ganz einfach: weil eine Schweinerei anscheinend erst dann zur Schweinerei wird, wenn die eigene Person davon betroffen ist.

Gestern gab es eine sehr ausführliche Dokumentation über die Philosophin Hannah Arendt. Eine ihrer Erkenntnisse lautet, dass manche Menschen in der Lage sind, die Situation und das Leid anderer voll und ganz auszublenden. Sie spricht in dabei von einem „denkbar zuverlässigstem Schutzwall gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst“. Das traurige Resümee dieser äußerst zutreffenden Aussage ist: der Schutzwall verliert seine Zuverlässigkeit erst dann, wenn die Situation der anderen plötzlich zu eignen wird.

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Sonntag, 7. Februar 2016, 18:40h

Meine Betreuten X: Sammeln, Horten, Aufbewahren

behrens

Dass die Menschen, die an dem sogenannten Messie-Syndrom leiden, völlig unterschiedliche Persönlichkeiten haben können, habe ich schon in meinem vorherigen Beitrag erwähnt. Während es in dem betreffenden Beitrag um eine Betreute ging, die anderen Menschen gegenüber äußerst feindselig gesinnt war, möchte ich jetzt über eine Betreute schreiben, die bei den meisten Menschen ausgesprochen beliebt war.

Während ich vor Beginn meiner Betreuertätigkeit noch davon ausging, ein Mensch mit Sammelsucht würde sein Sammeln nur auf die eigene Wohnung ausdehnen, so wurde ich durch Frau B. eines Besseren belehrt. Frau B. hatte nicht nur ihre eigene Zweizimmerwohnung bis an die Wohnungsdecke vollgestellt, sondern auch noch drei Garagen, eine weitere Wohnung, eine Gartenlaube und einen Keller. Im Laufe der Betreuung kam dann zutage, dass sie früher auch schon einen Kuhstall als Lager angemietet hatte und außerdem auch schon eine frühere Wohnung wegen Vermüllung geräumt worden war.

Auch bei Frau B. war eine Meldung des Vermieters der Grund für die Einrichtung der rechtlichen Betreuung, da ihre Wohnung renoviert werden sollte und dies aufgrund des sich bis an die Decke türmenden Sammelsuriums nicht möglich war. Frau B. sah es zwar grundsätzlich ein, dass dies dringend geändert werden müsste, aber sie war dennoch unfähig, sich auch nur von einem ihrer Gegenstände zu trennen. In ihren als Lagerstätten genutzten Räumen fanden sich Kuriositäten wie beispielsweise Buttermarken aus dem zweiten Weltkrieg, Päckchen mit Backpulver von Dr. Oetker zum Preis von 5 Pfennig, Kleider aus den Fünfzigern, die jede Besitzerin eines Second-Hand-Ladens in Verzückung gebracht hätten (mich übrigens auch) und unzählige andere Gegenstände, für die heutzutage gar keine Verwendung mehr bestand.

Frau B. hatte inzwischen vom Vermieter eine andere Wohnung erhalten, in die sie noch am Tag der Räumung einziehen sollte und für die sich ein Pflegedienst um die Herrichtung ihrer Räume kümmerte. Frau B. wollte sich aber nicht abhalten lassen, auch selbst bei der Räumung anwesend zu sein und als sie dann in ihrer alten Wohnung inmitten der laufenden Räumung erschien, brach sie schreiend in einen Weinkrampf aus. Abgesehen davon, dass eine Wohnungsräumung immer traumatisch für den Betreffenden ist, bestätigte sich für mich eine Erfahrung, die ich während meiner Betreuungstätigkeit immer wieder machte: die günstigsten Räumungsunternehmen sind oftmals nicht immer die besten. Obwohl ich die ganze Zeit anwesend war und einige Dinge sorgsam aussortiert hatte, landete letztendlich fast alles auf dem Müll. Die Mitarbeiter zeichneten sich durch eine beispiellose Gedankenlosigkeit aus und es war ihnen völlig gleichgültig, dass auf keinen Fall alles weggeworfen werden durfte.

Mir wird immer eine Begebenheit in Erinnerung bleiben, die sehr deutlich macht, dass es für einen unter Sammelsucht leidenden Menschen nichts gibt, für das es nicht doch irgendeine Verwendung geben könnte: Als ich ein gebrauchtes Papiertaschentuch in den Müllsack schmiss, nahm Frau B. es gleich wieder heraus und kommentierte dies mit den Worten: „aber das kann man doch noch verfeuern!“ Mir fiel dabei meine Kindheit ein, in der es auch selbstverständlich war, alles Brennbare in den Ofen zu schmeißen. Ich erinnere mich auch an die Schilderungen meiner Eltern und Großeltern über deren Kindheit, in denen es oftmals eisig kalte Winter gab, in denen es die Aufgabe der Kinder war, überall nach irgendetwas Brennbaren zu suchen. Frau B. gehörte dem Jahrgang 1912 an und gehörte somit zu der Kriegsgeneration, der die Erfahrungen dieses Entbehrens immer noch tief in den Knochen steckt. Zeiten des Hungerns und Frierens, in denen es an allem fehlte. Damals war es unerlässlich, jeden Gegenstand genauestens auf seine Verwertbarkeit zu prüfen. Kann man ein Kleidungsstück noch irgendwie reparieren oder daraus ein anderes für die Kinder machen? Hat ein Gegenstand noch irgendeinen Tauschwert auf dem Schwarzmarkt? Gibt es an einem verschimmelten Brot vielleicht doch noch eine Ecke, die man essen kann?

Wie endete die Geschichte von Frau B.? Frau B. wurde in ihrer neuen Wohnung niemals wirklich heimisch. Obwohl sie körperlich gebrechlicher wurde und auf Hilfe angewiesen war, kam sie nicht mit der Situation zurecht, in ihrer Wohnung von einem Pflegedienst aufgesucht und betreut zu werden. Sie äußerte schließlich von sich aus, lieber in ein Heim ziehen zu wollen, was ich dann auch veranlasste. Frau B. gewöhnte sich im Heim bemerkenswert schnell ein. Ich beauftragte einen Besuchsdienst, mit dem Frau B. auch sehr gut zurechtkam.

Als ihr 90. Geburtstag anstand, informierte unsere darüber Lokalzeitung, die dann ein kleines Interview mit ihr machte, in dem sie ein wenig über ihr Leben erzählte. Aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft in der SPD war sie auch vielen Menschen des Bezirks bekannt, von denen manche sie liebevoll „Tante Klärchen“ nannten. Zu der Feier, die ich beim Heim veranlasst hatte, kamen dann auch einige ihrer Bekannten, was bei vielen Heimbewohnern leider längst nicht selbstverständlich ist.

Ich habe mich immer wieder darüber gewundert, dass Frau B. im Heim nicht wieder mit dem Sammeln anfing. Vielleicht lag es daran, dass im Heim andere für sie sorgten und nicht mehr sie selbst für alles verantwortlich war. Typisch für Frau B. war auch, dass sie mir irgendwann die Räumung ihrer Wohnung verzieh. Ich erinnere mich noch an ihre Worte „Sie können ja auch nicht dafür, dass Sie diese Aufgabe hatten.“

Im Alter von 91 Jahren schlief Frau B. dann friedlich in Gegenwart ihres Besuchsdienstes ein. In meiner Betreuertätigkeit ging ich nur in Ausnahmefällen zu der Beerdigung verstorbener Betreuter. Frau B. war so eine Ausnahme.

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Meine Betreuten IX: Leben auf einer Müllhalde

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Den Begriff des Messie-Syndroms gibt es noch nicht allzu lange, erst seit den 80er Jahren widmet man dieser Form einer ausgeprägten Wohnungsverwahrlosung Aufmerksamkeit.

Während meiner Tätigkeit als Betreuerin hatte ich zwei Klientinnen, die beide wegen extremer Wohnungsverwahrlosung unter Betreuung gestellt wurden, die aber unterschiedlicher kaum hätten sein können. Beiden war jedoch gemeinsam, dass die Betreuung aufgrund der Meldung von Seiten der Vermieter eingerichtet wurde, da die Wohnungen kaum noch betretbar waren, es schon eine Geruchsbelästigung gab und außerdem dringend erforderliche handwerkliche Arbeiten verweigert wurden, bzw. überhaupt nicht mehr möglich waren.

Fangen wir mit Frau S. an: Frau S. Wohnung war völlig vermüllt und verdreckt, es stank erbärmlich und man konnte sich kaum noch in der Wohnung bewegen. Das Gesundheitsamt war bereits informiert worden und von Seiten des Sozialamtes war bereits eine sogenannte Grundreinigung und Entmüllung bewilligt worden. Ein Pflegedienst hatte bereits diverse Müllsäcke mit Abfall gefüllt, aber dann kam die Sache ins Stocken, denn das Sozialamt verlangte die Darlegung der Vermögensverhältnisse und hierzu war Frau S. nicht bereit. Nach Einrichtung der Betreuung wurde der Grund hierfür ziemlich schnell ersichtlich, denn Frau S hatte rund 40.000,00 DM (20.000 €) gespart, die sie bei diversen Banken deponiert hatte.

Obwohl nicht ich für das Gesetz der Subsidiarität/Nachrangigkeit verantwortlich war, hatte ich Frau S. gegenüber jetzt die Rolle des Sündenbocks inne. Hierzu sei gesagt, dass Frau S‘ Ersparnisse nicht durch eigene Arbeit entstanden waren, sondern durch den Umstand, dass sie sich so manche Sozialleistung erschlichen hatte und außerdem grundsätzlich diverse Hamburger Tafeln und Kleiderkammern aufsuchte, so dass sie auf diese Weise fast nie Geld ausgaben musste. Frau S. hortete also nicht nur wahllos Gegenstände, Essen, Kleidung und Müll, sondern auch Geld.

Am Tag, an dem eine für den geplanten Einsatz beauftragte Entmüllungsfirma kommen sollte, rief mich Frau S. schon morgens um 6.00 Uhr an und eröffnete mir, dass sie sich nicht gut fühlen würde und die Aktion vertagt werden müsse. Ich bestand allerdings auf die Durchführung der Entmüllung, da ansonsten die Firma aufgrund des Verdienstausfalls trotzdem bezahlt hätte werden müssen. Eigentlich beabsichtige ich, nur am Anfang dabei zu sein, aber kaum hatte ich den Rücken gekehrt, machte Frau S. Anstalten, die vier Mitarbeiter wieder nach Hause zu schicken. Also blieb ich notgedrungen da.

Es passierte mir während meiner Tätigkeit als Betreuerin nur ein paar Mal, dass ich mich fast übergeben hätte und eines der Male ereignete sich in der Wohnung von Frau S., als ich mitanpackte und mir dabei eine Tüte zerriss, in der sich Erbrochenes befand. Einem der Möbelpacker wurde ebenfalls schlecht, als er den Kühlschrank öffnete, der – so etwas hatte selbst ich noch nicht gesehen – voll mit pechschwarzem Schimmel war. Die Toilettenschüssel war so verdreckt, dass ich sie auswechseln lassen musste. Als einige Wochen später ein von mir beauftragter Pflegedienst die Arbeit aufnahm, war die Toilette jedoch schon wieder so dreckig, dass der Pflegedienst die Reinigung verweigert und um eine erneute Auswechslung bat.

Obwohl Frau S. mir nie verzieh, dass ich ihr eigenes Geld für die Wohnungsinstandsetzung einsetzte, rechnete sie es mir hoch an, während der Entmüllung selbst kräftig mitangepackt zu haben. Neben allem Hass gegen mich erwähnte sie dennoch immer wieder, dass ich mehr gearbeitet hätte als die vier Herren. Und über das Resultat der Entmüllung und Neugestaltung ihrer Wohnung war sie erstaunlicherweise regelrecht entzückt, was sie damit formulierte: „Ich könnte stundenlang meine Wohnung angucken, so schön ist die jetzt." Allerdings bestand Frau S. dann doch irgendwann auf einen Betreuerwechsel, da sie mir meine „Betrügereien“ nicht verzieh.

Anzumerken ist noch, dass mich während der Betreuung von Frau S. immer wieder verschiedene Stellen anriefen, weil sie. überall erzählte, ich würde ihr kein Geld auszahlen. Immer wieder musste ich geduldig erklären, dass dies nicht stimmte und Frau S. sehr wohl über mehr als genug Geld verfügte. Die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes wurden trotz ihres sehr engagierten Einsatzes von Frau S. oftmals heftig beleidigt und beschimpft und manchmal öffnete sie auch nicht die Tür, so dass die Mitarbeiterinnen unverrichteter Dinge wieder gehen mussten. Frau S. warf sowohl dem Pflegedienst als auch mir immer wieder auf Heftigste vor, dass wir für unsere Arbeit bezahlt wurden und nicht ehrenamtlich arbeiteten. Insbesondere der Umstand, dass eine erste Vergütungsabrechnung von Frau S. selbst bezahlt werden musste, führte zu einem ausgeprägten Hass gegen mich, der in Bedrohungen gipfelte und in der bemerkenswerten Aussage, ich sollte mir gut vor Augen führen, “ dass man schon für 40,-- DM einen Menschen umbringen lassen könnte.“ Im Laufe der Betreuung erfuhr ich, dass Frau S. gegen andere Menschen schon handgreiflich geworden war. Sie hatte sie eine Sozialarbeiterin mit einem Messer bedroht und einen minderjährigen Apothekenboten sexuell so heftig bedrängt, dass dieser sich weigerte, sie jemals wieder aufzusuchen.

Abfälligkeit gegenüber anderen Menschen schien ein wenig in der Familie zu liegen, denn die Schwester von Frau S. erklärte meiner Nachfolgerin, ich hätte meinen Beruf verfehlt und den Pflegedienst beurteilte sie als ebenso als unfähig. Mich macht gerade die Beurteilung der betreffenden Mitarbeiterinnen fassungslos, denn eine Wohnung zu reinigen, die schon nach ein- bis zwei Tagen wieder völlig vermüllt ist, erfordert nicht nur eine hohe Schmerzgrenze, sondern auch ein sehr großes Engagement. Sowohl die Haushaltshilfen als auch ich in meiner Betreuungsarbeit haben weit mehr als das Plansoll erfüllt – andernfalls hätte Frau S. mit Sicherheit ihre Wohnung verloren. Allerdings ist es nicht ungewöhnlich, dass gerade diejenigen Angehörigen, die sich niemals auch nur im Geringsten um ihre Verwandten kümmern, Dritten gegenüber allerhöchste Ansprüche stellen und das Engagement anderer generell für selbstverständlich halten.

Kurze Zeit nachdem eine neue Betreuerin und auch ein neuer Pflegedienst eingesetzt worden waren, verstarb Frau S. Sie hatte sich nach wie vor geweigert, die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes in die Wohnung zu lassen, obwohl dies mittlerweile auch aus gesundheitlicher Sicht erforderlich war. Ich hatte noch kurz vor dem Betreuerwechsel den Zutritt zur Wohnung beantragt, damit im Notfall die Wohnung betreten werden konnte dadurch die gesundheitliche Versorgung sichergestellt würde, aber dazu war es dann anscheinend nicht gekommen und so wurde Frau S. tot in ihrer Wohnung aufgefunden.

Bei jedem Mensch enthält die Biographie Gründe, die erklären, warum er sich so und nicht anders entwickelt hat. Auch bei Frau S. wird es Erklärungen dafür geben, wieso das Horten und Sammeln von Dingen für sie irgendwann viel wichtiger wurde als menschliche Beziehungen und wieso sie letztendlich die Fähigkeit zum Leben in einer Gemeinschaft gänzlich verlor. Und bevor man urteilt, sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass eine Verhaltensweise – und sei sie noch so extrem – im Ansatz bei fast jedem vorhanden ist. Der Unterschied zu Frau S. besteht in einer krankhaften Gewichtung, die irgendwann das gesamte Leben bestimmt und keinen Platz mehr lässt für andere Aktivitäten und soziale Kontakte.

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