Samstag, 12. September 2015, 02:29h

Was wäre wenn…die Arbeitsgrundlagen rechtlicher Betreuung auch in anderen Bereichen öffentlicher Aufgaben angewandt würden? Ein beunruhigendes Gedankenspiel.

behrens

Auch diejenigen, die persönlich kaum etwas mit Behörden oder öffentlichen Einrichtungen zu tun haben, werden bestimmte Vorstellungen haben, wie dieser Bereich arbeitet und strukturiert ist. So wird wahrscheinlich jeder grundsätzlich davon ausgehen, dass mit öffentlichen Aufgaben betraute Einrichtungen eingegliedert sind in Verwaltungsstrukturen, die sich auszeichnen durch gesetzliche Vorgaben, klar definierte fachliche Weisungen und Kontrollorgane, durch die die Arbeit beaufsichtigt und unterstützt wird. Sollte also jemand in die Situation kommen, auf die Hilfe einer bestimmten öffentlichen Leistung angewiesen zu sein, wird jeder es als selbstverständlich voraussetzen, dass man diese Leistung nicht von einer einzelnen privaten Person erhält, die ihre Aufgabe freiberuflich und ohne jegliche behördliche Zuordnung wahrnimmt, sondern von einer für das Anliegen zuständigen Abteilung der betreffenden Behörde.

Für den Bereich der rechtlichen Betreuung trifft jedoch genau dies nicht zu, hier erfolgt die Hilfe nicht in einem behördlichen Rahmen, denn ein rechtlicher Betreuer ist kein Mitarbeiter einer Behörde oder einer sozialen Einrichtung, sondern ein Freiberufler, der frei entscheiden kann, ob er in einer Bürogemeinschaft oder allein arbeitet. Über die Höhe seines Einkommens entscheidet folglich auch kein klar definierter Tarifvertrag, sondern allein die Höhe der Anzahl seiner Betreuten, die wiederum allein vom Betreuer bestimmt wird.

Was wäre die Folge, wenn dieses Prinzip plötzlich nicht nur für rechtliche Betreuer gelten würde, sondern auch auf andere Bereiche ausgeweitet wird? Stellen wir uns beispielsweise die Mitarbeiter eines Jugendamtes vor, die eine bestimmte Anzahl von Jugendlichen, bzw. Familien zu betreuen haben und die dies plötzlich nicht mehr im Rahmen einer angestellten Tätigkeit tun würden, sondern auf freiberuflicher Basis. Selbstverständlich wäre auch hier der gesetzliche Rahmen nach wie vor geregelt, genauso wie auch die Tätigkeit rechtlicher Betreuer durch entsprechende rechtliche Grundlagen geregelt ist. Allerdings würden die Mitarbeiter jetzt nicht mehr innerhalb einer klar gegliederten Verwaltungsstruktur angesiedelt sein, sondern hätten eigene Büros, die weder zusammenarbeiten noch miteinander kommunizieren.

Nehmen wir jetzt also an, es tritt der Fall ein, dass eine Familie mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert ist, es kommt zur Vernachlässigung und das Jugendamt wird darüber informiert. Normalerweise wird daraufhin innerhalb des Jugendamtes nach Absprache die Zuständigkeit geregelt und ein Mitarbeiter mit dem Fall betraut. Der betreffende Mitarbeiter ist eingebunden in ein Team und wird sich über die Führung des Falles trotz eigenständigen Arbeitens in seinem Team austauschen und der Vorgesetzte muss über wesentliche Schritte informiert sein. Die Grundlage für die Arbeit geht weit über juristische Aspekte hinaus und zeichnet sich aus durch eine enge Vernetzung mit anderen Stellen wie beispielsweise Schule, Verwandte, Therapeuten etc. und wird ist an sozialwissenschaftlichen Richtlinien ausgerichtet. Die Teilnahme an regelmäßigen Fortbildungen und Supervision sind fast immer selbstverständlich und bei schwierigen Fällen erfolgen zusätzliche Fachgespräche.

All dies fiele plötzlich weg, wenn so gearbeitet werden würde, wie es die Praxis im Bereich rechtlicher Betreuung ist. Der entscheidende Unterschied läge jedoch nicht nur im Wegfall wichtiger Strukturen, sondern in dem Umstand, dass man es bei einer Umstellung von einer behördlichen auf eine freiberufliche Struktur plötzlich nicht mehr wie gewohnt mit einer Einrichtung zu tun hat, sondern mit – einer Firma! Und somit konkurriert die Prämisse der fachlichen Qualität jetzt mit der Prämisse der Wirtschaftlichkeit. Nicht mehr geringe Fallzahlen stellen das Ziel dar, sondern hohe. Die zuvor für die Arbeit als qualitätssteigernd geschätzte Teamarbeit und Vernetzung weicht dem Prinzip der Konkurrenz.

Ein weiterer oftmals unterschätzter Aspekt ist der Wegfall jeglichen wissenschaftlichen Hintergrunds. In Bereichen, in denen soziale Hilfestellungen, gleich welcher Art, geleistet werden, findet die Arbeit auf der Grundlage einer sozialwissenschaftlichen Ausbildung statt. Zum Studium der Sozialen Arbeit gehören beispielsweise unter anderem Soziologie, Psychologie, Recht, Methodik sozialer Dienste, Erziehungswissenschaften, sowie diverse Spezialgebiete, wie Jugendarbeit, Arbeit mit alten Menschen, Arbeit im Strafvollzug etc. Da sich die Gesellschaft ständig verändert, müssen sich auch Arbeitsansätze, Methodik und Erklärungsmodelle ständig wandeln und neuen Erkenntnissen muss Rechnung getragen werden. Lagert man allerdings ein Aufgabenfeld aus diesem Kontext aus und überlässt es durch die Struktur der Freiberuflichkeit ganz allein dem Einzelnen, welchen Stellenwert er fachtheoretischem Wissen beimisst, dann besteht die Gefahr, dass dieses durch betriebswirtschaftliche Interessen verdrängt wird.

In den sechzehn Jahren, in denen ich als rechtliche Betreuerin arbeitete, habe ich kaum Betreuer kennengelernt, die an Hintergrundwissen Interesse zeigten. Themen wie zunehmende Verschuldung, Pflegenotstand in Heimen, Aspekte des Alterns in unserer Gesellschaft, Suizidprävention etc. – diese Themen werden von rechtlichen Betreuern für die Ausübung ihrer Arbeit nicht als wichtig erachtet. Während in anderen gesellschaftlichen Bereichen sozialer Arbeit neue Ansätze entstehen und auf gesellschaftliche Veränderungen mit neuen Konzepten und entsprechenden Maßnahmen reagiert wird, herrscht im Bereich rechtlicher Betreuung eine ausgeprägte und besorgniserregende Stagnierung.

Gehen wir wieder zurück zu dem Gedankenspiel, bei dem es um das Problem der Vernachlässigung eines Kindes geht und das Jugendamt die angeordnete Intervention einem freiberuflichen Mitarbeiter überträgt, der weder einem Team angehört, noch einer Fachaufsicht unmittelbar vor Ort unterliegt. Was ist, wenn sich die Betreuung der Familie – aus welchen Gründen auch immer – sehr zeitaufwendig gestaltet? Wer kontrolliert, ob der Betreuer dann tatsächlich den erhöhten Zeitaufwand in Kauf nimmt, oder aber ob er grundsätzlich nicht über ein bestimmtes Zeitmaß hinausgeht, weil es sich dann „nicht mehr rechnet“? Wer prüft, ob der Betreuer tatsächlich die geeignete Maßnahme veranlasst und mit der richtigen Methodik vorgeht? Wer kontrolliert, ob der Betreuer sich nicht im Ton vergreift, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt? Wer hindert den Betreuer daran, mit einem autoritären Führungsstil zu arbeiten?

Die verheerendsten Auswirkungen auf die Arbeitsqualität würden in diesem Gedankenspiel allerdings dabei auftreten, wenn im Falle der Einführung des Prinzips der Freiberuflichkeit innerhalb der Jugendarbeit die zwingende Verbindlichkeit einer spezifischen berufliche Qualifikation wegfallen würde. Damit gelten dann die gleichen Bedingungen wie in der Praxis der rechtlichen Betreuung und es wäre somit keine Ausbildung als Sozialpädagoge, Erzieher oder Psychologe mehr gefordert, sondern es könnte auch ein Bankkaufmann, eine Industriekauffrau oder ein Immobilienmakler mit der Verantwortung für eine Familie oder für Jugendliche betraut werden. Wenn man sich vor Augen hält, dass es sich dabei auch um Probleme wie beispielsweise Misshandlung, Suizidalität oder Drogensucht handeln könnte, muss man schon sehr optimistisch sein, um keine Bedenken zu haben. Kann man wirklich davon ausgehen, dass kaufmännische Kenntnisse ausreichen um auf gravierende Probleme angemessen zu reagieren? Und kann man davon ausgehen, dass Menschen, deren Berufswahl eindeutig aufgrund kaufmännischer Interessen erfolgte, sich tatsächlich dafür eignen, hilfsbedürftigen Menschen emphatisch zur Seite zu stehen?

Die meisten Menschen interessieren sich für nur dann für Probleme, wenn sie unmittelbar davon betroffen sind. Aber schneller als man denkt kann man selbst oder die eigenen Angehörigen betroffen sein. Alter ist unausweichlich und Krankheit oftmals leider auch. Beides kann mit Hilfsbedürftigkeit einhergehen, die von anderen abhängig macht.

Ich möchte mit meinem hier geschilderten Beispiel deutlich machen, wie absurd es ist, einer wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe wie der der rechtlichen Betreuung den ihr angemessenen Rahmen einer Einbindung in eine Behörde oder einen sozialen Träger zu versagen und dadurch dem Risiko der durch die Freiberuflichkeit möglichen Willkür preiszugeben. Die Wahrnehmung einer hohen sozialen Verantwortung bedarf nicht nur einiger gesetzlicher Vorgaben, sondern vor allem auch fachlich fundierter Richtlinien. Und die Einhaltung dieser Richtlinien wiederum darf nicht auf Freiwilligkeit beruhen, sondern muss verbindlich durch kompetente Fachaufsicht gewährt werden.

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Samstag, 27. Juni 2015, 01:43h

Wenn ein Betreuer plötzlich erkrankt - und eine kleine Anmerkung zum Begriff des Korpsgeistes

behrens

Wenn ein Betreuer sich entschließt, seine Tätigkeit zu beenden, ist dies nie von einem Tag auf den anderen möglich. Eine Betreuung wird erst dann beendet, wenn ein neuer Betreuer gefunden wurde, der zeitgleich ernannt wird. Erfahrungsgemäß dauert dies mindestens drei Wochen, kann sich aber auch über zwei Monate hinziehen, da ja nicht immer sofort jemand für die Weiterführung gefunden wird und in manchen Fällen außerdem auch eine richterliche Anhörung erforderlich ist. In den Fällen, in denen ein Betreuer plötzlich ernsthaft erkrankt , kann diese langwierige Verfahren zu einer großen Belastung werden, da der Betreuer immer noch in der Verantwortung steht und im Grunde die Arbeit gar nicht unterbrechen kann.

Als ich vor zwei Jahren meine Betreuertätigkeit beendete, war ich zwar gesundheitlich sehr angeschlagen, aber dennoch in der Lage, meine Betreuungen ordnungsgemäß abzugeben, nicht zuletzt auch deswegen, weil meine damalige Mitarbeiterin sich spontan entschloss, mein Betreuerbüro zu übernehmen und dies auch vom Gericht akzeptiert wurde. Dadurch blieb mir auch die mit viel Arbeit verbundene Büroauflösung erspart und alles in allem hatte ich also nochmal Glück gehabt.

Weniger Glück hatte hingegen eine Kollegin, die schwer erkrankte und binnen kurzer Zeit nicht mehr in der Lage war, ihre Arbeit auszuführen. Mir war die betreffende Kollegin gut bekannt, denn ich hatte mit ihr früher sowohl in einem Betreuungsverein als auch anschließend in einer Bürogemeinschaft zusammengearbeitet. Obwohl wir jahrelang gut zusammengearbeitet hatten, gingen wir vor einigen Jahren im Streit auseinander. Trotz des Streits war ich jedoch geschockt, dass es der Kollegin so schlecht ging, dass sie nicht mehr in der Lage war, ihre Arbeit ordnungsgemäß zu beenden.

Wie fiel die Reaktion der Kollegen aus, als die Kollegin plötzlich krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte? Die Kollegen der Bürogemeinschaft, der die Kollegin noch nicht allzu lange angehörte, mussten notgedrungen sämtliche durch die plötzliche Beendigung anfallenden Arbeiten, wie Aktenübergabe etc. mit übernehmen. Aber es gab nicht nur die Bürogemeinschaft, sondern auch noch einen weiteren Betreuerkreis, dem jene Kollegin angehörte. Da sogar auch bei mir mittlerweile angefragt wurde, wie denn die Kollegin zu erreichen sei, erkundigte ich mich bei der Betreuergruppe, woraufhin mir geantwortet wurde, dass man ebenfalls nichts Genaues wüsste, da niemand aus der Gruppe versucht hatte, Kontakt zu der Kollegin aufzunehmen.

Außenstehende können kaum ermessen, wie verheerend es für einen rechtlichen Betreuer sein kann, wenn er durch eine akute Erkrankung plötzlich nicht mehr in der Lage ist, seine Arbeit ordnungsgemäß zu beenden und abzugeben. Einige Aufgaben können von Mitarbeitern oder Kollegen übernommen werden, aber es gibt auch solche Aufgaben, die personengebunden sind und ausschließlich vom betreffenden Betreuer selbst ausgeführt werden dürfen. Bei einem plötzlichen Ausfall kann es folglich äußerst schnell zu Unmengen von schweren Versäumnissen kommen, für die der Betreuer persönlich haftbar ist. Ein nicht rechtzeitig gestellter Rentenantrag, eine nicht fristgerecht übergebene Wohnung, eine unterlassene Einschaltung einer dringenden ärztlichen Behandlung – all dies kann verheerende Folgen haben, die die Gefahr hoher Regressansprüche mit sich bringen.

Eben aufgrund jener nicht auszuschließenden Regressansprüche frage ich in der Betreuergruppe auch danach, ob denn der Kollegin zumindest mitgeteilt worden war, dass aufgrund einer Gesetzesänderung vor kurzem eine hohe Steuererstattung für alle rechtlichen Betreuer beschlossen worden war, was zweifellos gerade in der schwierigen Situation einer Erkrankung eine äußerst wichtige und hilfereiche Information darstellte. Aber auch hier erhielt ich die Antwort, dass dies bisher wohl niemand aus der Gruppe getan hat und wohl auch nicht für notwendig erachten würde.

Ich war eine Weile hin- und hergerissen zwischen der Entscheidung, mich aus dem Ganzen rauszuhalten oder aber der Kollegin die Info über den Möglichkeit der Beantragung der Steuererstattung zukommen lassen. Schließlich waren wir beide im Streit auseinandergegangen und daher war ich mir auch überhaupt nicht sicher, ob die Kollegin eine Mail von mir überhaupt öffnen würde. Mit einem etwas mulmigen Gefühl entschloss ich mich dennoch, die Kollegin über die Erstattung und vor allem über den erforderlichen Verfahrensweg zu informieren.

Aber was ist eigentlich davon zu halten, dass sich in einer Gruppe von Betreuerkollegen niemand im Mindesten dafür zu interessieren scheint, wie es einer offenbar schwer erkrankten Kollegin geht? Und wie ist es einzustufen, dass sich dies ausgerechnet in einem Arbeitsfeld abspielt, dessen Hauptaufgabe in der Unterstützung und Begleitung von hilfsbedürftigen Menschen besteht und in dem unaufhörlich das große soziale Engagement betont wird? Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die plötzliche Erkrankung eines Kollegen nicht nur ihn selbst, sondern auch dessen Betreute betrifft, deren angemessene Versorgung durch den plötzlichen Ausfall ihres Betreuers nicht mehr garantiert ist.

An dieser Stelle möchte ich den Zusammenhang zu der Überschrift dieses Beitrags erklären, denn der Begriff des „Korpsgeist“ gehört normalerweise nicht zu meinem Vokabular. Verwendet wurde dieser Begriff von eben jener Betreuergruppe, als es vor einigen Jahren um eine von mir geäußerte Kritik ging und mir daraufhin ein ”Mangel an Korpsgeist” vorgeworfen wurde, der zu einem umgehenden Ausschluss führte. Führt man sich vor Augen, dass ausgerechnet jene Menschen für sich den Begriff des Korpsgeistes beanspruchen, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der eine Kollegin aus ihrer Gruppe ausgeschlossen wird, eine erkrankte Kollegin einfach links liegenlassen, dann bleibt vom besagten Korpsgeist nicht allzu viel übrig. Vielleicht ist dies gar nicht so verwunderlich, denn wo Klienten zum Kunden gemacht werden, werden aus Kollegen zwangsläufig Konkurrenten – und warum sollte man für Konkurrenten Mitgefühl zeigen?

Man mag jetzt einwerfen, dass es sich bei dem hier Geschilderten um eine alte Geschichte handelt, die längst abgehakt ist. Aber Geschehnisse sind nur dann tatsächlich abgehakt, wenn die Beteiligten ihr Verhalten kritisch hinterfragen und dadurch eine Wiederholung ausgeschlossen wird. Davon kann in diesem Fall jedoch keine Rede sein, denn niemand der betreffenden Betreuer hat das eigene Verhalten jemals hinterfragt. Und so bleibt die Frage aktuell, in wieweit eine gleichgültige und empathiearme Haltung unbedenklich und geeignet ist für einen Arbeitsbereich, in dem es um die Unterstützung von Menschen mit existentiellen Problemen und hohem Hilfebedarf geht. Manche Betreuer beantworten diese Frage mit dem Hinweis darauf, dass es sich um ein ganz normales Verhalten und eine ganz normale Arbeit handelt und beispielsweise in einer Versicherung, einer Bank oder einem Maklerbüro auch nicht anders mit Kollegen umgegangen wird. Abgesehen von der Strittigkeit einer Ansicht, derzufolge ein fragwürdiges Verhalten allein dadurch legitimierbar wird, dass es auch bei anderen anzutreffen ist, wird durch diese Haltung verständlich, dass so mancher sich damit schwertut, den Bereich der rechtlichen Betreuung als vertrauenswürdig zu empfinden.

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Dienstag, 16. Juni 2015, 03:58h

Eine Familie lebt mit einer Leiche in der Küche – wann überlässt man Hilfsbedürftige sich selbst?

behrens

Vor einigen Jahren kam eine in meinem Bezirk wohnende Familie in die Schlagzeilen, weil sie den Tod des Familienvaters vertuscht hatte und seinen Leichnam fast zwei Jahre lang in der Wohnung versteckte. Bei der Familie handelte es sich um eine Mutter mit zwei erwachsenen Töchtern, die alle drei an einer geistigen Behinderung litten. Als der Vater an einem Herzinfarkt verstarb, wurde er auf Anweisung der Mutter in einen Teppich eingerollt und in der Küche deponiert. Irgendwann flog dann die Sache auf – nicht zuletzt auch wegen des Verwesungsgeruchs – und für die Mutter und die Töchter wurde sofort eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, weil umgehend für alle drei eine neue Bleibe gesucht werden sollte.

Ich habe damals die Hintergründe dieses Vorfalls aus nächster Nähe mitbekommen, da meine ehemalige Kollegin, mit der ich zu der Zeit gemeinsam in einer Bürogemeinschaft arbeitete, die Betreuung einer der Töchter übernahm. Die Medien haben sich natürlich sofort auf diese schauerliche Geschichte gestürzt und ziemlich schnell wurde auch erwähnt, dass die Familie früher einmal rechtlich betreut worden war, die Betreuung jedoch inzwischen nicht mehr existierte. Die damalige Betreuerin hatte die Aufhebung unter anderem beantragt, weil sich die Mutter gegen die Betreuung sperrte, niemanden in die Wohnung ließ und außerdem die grundlegenden Angelegenheiten der finanziellen Versorgung geregelt worden waren.

Als meine damalige Kollegin die Betreuung übernahm, wurde sehr schnell deutlich, dass es einen riesigen Handlungsbedarf gab, denn die sehr dominante Mutter hatte ihre Töchter völlig bevormundet und als meine Kollegin eine geeignete Einrichtung fand, in der die Betreute viel freier und selbstbestimmter leben konnte, lebte sie erfreulicherweise sichtbar auf. Dennoch gab es leider kein Happy End, denn die Betreute lebte nicht mehr sehr lange, da sie an Krebs erkrankt war. Die Mutter, die jeden Außenkontakt verbot, hatte ihren Töchtern auch Arztbesuche untersagt, so dass die Krebserkrankung sich schon in einem extrem fortgeschrittenen Stadium mit bereits sichtbaren Tumoren befand, die nicht mehr behandelbar waren.

Bei dieser tragischen Geschichte stellt sich unweigerlich die Frage, ob eine derart desolate Familie einfach sich selbst überlassen werden darf. Die Tatsache, dass bei Bekanntwerden der Tragödie sofort mit Hochdruck und im Eilverfahren für jede der drei Beteiligten eine rechtliche Betreuung eingerichtet wurde, zeigt eindeutig, dass es nicht den geringsten Zweifel an deren Notwendigkeit gab. Allerdings muss man fairerweise auch sagen, dass ein Betreuer nicht hellsehen kann und es auch bei sehr desolaten Familien normalerweise nicht zu derartigen Tragödien kommt. Und da die Mutter den Zutritt zur Wohnung konsequent verweigerte, hätte es durchaus auch trotz einer rechtlichen Betreuung zu der grotesken Situation des Zusammenlebens mit einer Leiche kommen können. Dies wäre dann bei Bekanntwerden ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen, die dann etwas hätten vorführen können, auf das in diesem Fall verzichtet werden musste – einen Verantwortlichen. Vor diesem Hintergrund stellt die Beendigung der Betreuung einen durchaus verständlichen Selbstschutz dar, denn die mit einer rechtlichen Betreuung verbundene Verantwortung kann nur schwer übernommen werden, wenn nicht ein Mindestmaß an Kooperation vorhanden ist.

Aber auch bei Berücksichtigung dieser Argumente ist die Frage danach, ob man eine offensichtlich an erheblichen Defiziten leidende Familie einfach sich selbst überlassen darf, nicht beantwortet. Und eine eindeutige Antwort wird es wahrscheinlich auch nicht geben, denn die hängt von dem Arbeitsansatz und dem Selbstverständnis eines rechtlichen Betreuers ab. Man kommt also nicht umhin, die verschiedenen Arbeitsansätze gegenüber zu stellen.

Der Arbeitsansatz, demzufolge es sich bei dem Betreuten um einen „Kunden“ handelt, wird dazu tendieren, die Frage nach Begründbarkeit der Beendigung der Betreuung sofort mit einem klaren Ja zu beantworten, denn wenn der Kunde die ihm angebotene Dienstleistung – in diesem Fall die rechtliche Betreuung – ablehnt, kommt ein dauerndes Geschäftsverhältnis nicht zustande. Bei dem Arbeitssatz, demzufolge es sich bei dem Betreuten um einen Klienten und somit um einen Hilfebedürftigen handelt, ist die Entscheidung nicht so einfach. Denn der Hilfebedarf eines Menschen kann durchaus auch beinhalten, dass der Betreffende eben auch nicht mehr in der Lage ist, erforderliche Hilfe anzunehmen, so wie es zum Beispiel sehr eindeutig bei Demenz oder bei akuter mit Wahnvorstellungen verbundener psychotischer Symptomatik der Fall ist. Und anders als bei der Arbeit mit „Kunden“ besteht das Ziel der Arbeit mit Klienten darin, Entwicklungsprozesse zu fördern, die dem Betreffenden einen größeren Handlungsspielraum und somit Veränderung ermöglichen.

Der eigentliche Unterschied zwischen kaufmännischem und sozialarbeiterischem Ansatz liegt jedoch darin, dass Soziale Arbeit genau darin besteht, sich konfliktreichen und schwierigen Beziehungen zu stellen anstatt ihnen auszuweichen. Um dies mit einem Beispiel zu verdeutlichen: in einer Kita oder in einer Jugend-WG würde man Kinder oder Jugendliche, die schwierig im Umgang sind oder die den Kontakt verweigern, nicht einfach ausschließen, sondern natürlich würde man sich gerade um diese Kinder und Jugendlichen besonders bemühen. Davon ausgehend, dass gerade gegenüber denjenigen, die unter besonderen Problemen leiden, eine besondere Verantwortlichkeit besteht, würde man alles tun, um in ihrer Entwicklung positive Impulse zu setzen.

Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass es durchaus auch in der Sozialen Arbeit Bereiche gibt, in denen berechtigterweise der Ansatz vertreten wird, letztendlich dem Klienten die Wahl zu überlassen, ob er die Hilfe annimmt oder nicht, da davon ausgegangen wird, dass ohne die bewusste Zustimmung auch keine konstruktive Zusammenarbeit möglich sein wird. Hier wäre als Beispiel die suchttherapeutischen Einrichtungen zu nennen, deren Mitarbeiter es als hoffnungslos einstufen, wenn jemand zur Therapie gezwungen wird, weil therapeutische Prozesse nur auf der Grundlage von Freiwilligkeit möglich sind.

Vielleicht ist die Ausgangsfrage eine Frage, die nicht nur die Unterschiede in der unterschiedlichen Arbeitsauffassung rechtlicher Betreuer betrifft, sondern generell die Beziehungen zwischen Menschen. Vielleicht geht es auch darum, ob man nur harmonische Beziehungen als erhaltenswürdig einstuft oder aber auch die mit Konflikten verbundenen. Und vielleicht spielt es dabei eine entscheidende Rolle, ob man bereit ist, sich Konflikten zu stellen und es dabei auch aushält, nicht nur positive, sondern auch negative Rückmeldungen zu erhalten.

Last-not-least: was würde man erwarten, wenn man sich selbst in der Situation befände, einen mit seinen Kindern zusammenlebenden geistig behinderten Angehörigen zu haben, der mit seiner Alltagsbewältigung überfordert ist, aber gleichzeitig Hilfsangeboten ablehnend gegenüber steht? Würde man darauf hoffen, dass der Betreuer am Ball bleibt und alle bestehenden Möglichkeiten der Hinzuziehung weiterer Hilfsangebote nutzt? Würde man sich wünschen, dass wenigstens ein Mindestmaß an Betreuung bestehen bliebe, weil dies die einzige Möglichkeit ist, eine Verschlimmerung der Situation zu verhindern?

Hier zwei Zeitungsartikel zu dem Vorfall:

http://www.mopo.de/news/eissendorf--mutter-und-toechter-hausten-neben-dem-familienvater---er-lag-unterm-kuechenfenster-3-frauen-lebten-neben-einem-toten,5066732,6439892.html

http://www.welt.de/print-welt/article508854/Leichenfund-in-Harburg-CDU-fordert-Aufklaerung.html

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