Dienstag, 18. Oktober 2011, 02:59h
Zuständigkeit versus Verantwortlichkeit – rechtliche und pädagogische Betreuung
Vor einigen Monaten habe ich die Betreuung für eine 50jährige Frau übernommen. Zur Einrichtung einer rechtlichen Betreuung kam es, weil die Betreute eines Tages von ihrer Schwester blutend auf dem Boden liegend gefunden wurde und man im Krankenhaus eine Magenoperation durchführen wollte und dabei Zweifel daran hatte, ob die Betreute einwilligungsfähig sei. In so einem Fall geht das gerichtliche Prozedere sehr schnell, der Betreuer wird nach Aktenlage bestellt und gibt dann die notwendigen Erklärungen ab. Die Betreute hat eine starke Lernbehinderung und die Ärzte hatten zu Recht Zweifel daran, ob sie Art und Ausmaß des Eingriffs verstehen würde. Es wurde eine Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium festgestellt aufgrund der fast der ganze Magen entfernt werden musste.
Bei einem Hausbesuch lernte ich dann die Betreute und auch deren Schwester kennen, mit der sie schon seit ihrer Geburt zusammenwohnt. Sehr schnell wurde ersichtlich, dass auch die Schwester an einer Lernbehinderung litt. Die häusliche Situation war völlig chaotisch, denn als vor einem Dreivierteljahr die Mutter verstarb, die ebenfalls mit den beiden zusammenlebte, waren beide Schwestern völlig überfordert mit der Regelung ihrer Angelegenheiten. Sie waren weder in der Lage, die ARGE-Bescheide zu verstehen, wodurch es zu einer Leistungsreduzierung kam, noch waren sie in der Lage, die geforderte Umschreibung des Mietvertrags vornehmen zu lassen. Auch zur erforderlichen Einrichtung eines eigenen Kontos waren beide nicht in der Lage. Es war reine Glücksache, dass es zu keiner Überziehung des Kontos der Mutter kam. Ich veranlasste sofort die notwendigen Formalien und musste, da die ARGE allen Ernstes von der schwerkranken Betreuten einen Umzug verlangte, erstmal Widerspruch einlegen, was ich übrigens auch für die nicht von mir betreute Schwester tun musste, da beide ja als Bedarfsgemeinschaft gelten.
Mittlerweile sind die Formalitäten weitgehend erledigt, der Widerspruch hatte glücklicherweise Erfolg und zumindest eine der Schwestern hat jetzt ein Konto. Allerdings sind die Heilungsaussichten der Betreuten alles andere als gut und der Zustand hat sich leider verschlechtert. Beide Schwestern waren seit ihrer Kindheit nicht mehr bei einem Arzt in Behandlung gewesen und so konnte die Krebserkrankung meiner Betreuten auch erst bei Durchbruch des Geschwürs erkannt werden.
Was mir ein wenig bitter aufstößt bei dieser Betreuung, ist die Tatsache, dass die im vergangenen Jahr verstorbene Mutter eine rechtliche Betreuerin hatte. Formal endet die Betreuung mit dem Tod des Betreuten und die betreffende Betreuerin hat dies auch ohne Wenn und Aber befolgt. Da gibt es zwei lernbehinderte Frauen, die noch nie auf eigenen Füßen standen und nach dem Tod der Mutter plötzlich allein darstehen und mit fast allen Alltagsangelegenheiten völlig überfordert sind. Und da gibt es eine Betreuerin, die nicht die mindeste Veranlassung sieht, jemanden über den Hilfebedarf zu informieren, sondern die die beiden einfach allein ihrem Chaos überlässt. Ohne viel Aufwand hätte man einfach kurz bei einem der vielen PPM-Träger anrufen und um einen Hausbesuch bitten können. Aber das kostet Zeit, vielleicht zehn, vielleicht fünfzehn oder vielleicht sogar zwanzig Minuten. Und da kommt dann der jedes Handeln bestimmende Satz: "Das krieg ich ja nicht bezahlt!"
Szenewechsel. Vor einiger Zeit hatte ich hier über den tragischen Tod eines meiner Betreuten geschrieben. Der Betreute wurde schon seit Jahren im Rahmen einer sogenannten PPM-Maßnahme – personenbezogene Hilfe für psychisch kranke Menschen – betreut. Dem pädagogischen Betreuer war bekannt, wie eng die Bindung zwischen meinem Betreuten und dessen Bruder war, der selbst große psychische Probleme hatte. Und bei einem Telefonat erfuhr ich, dass der pädagogische Betreuer sich deswegen große Sorgen machte und daher mit dem Bruder gesprochen und ihm Hilfe bzw. Gespräche angeboten hatte.
Früher hätte ich so ein Verhalten als etwas völlig Normales empfunden. Inzwischen bin ich da realistischer und weiß es sehr zu schätzen, dass sich jemand seinen Mitmenschen gegenüber verantwortlich zeigt. Dass jemand die Sorge um einen anderen Menschen einen höheren Stellenwert einräumt als der formalen Zuständigkeit. Auch ein PPM-Betreuer – der übrigens sehr viel weniger als ein rechtlicher Betreuer verdient – bekommt nach dem Tod seines Betreuten keinen Cent mehr bezahlt. Aber offenbar scheint es doch möglich zu sein, dass es auch noch um etwas anderes als um Geld zu geht. Das gibt Anlass zum Hoffen und mir fällt Hans Jonas ein, für den Verantwortung und Hoffnung untrennbar zusammenhängen.
Vielleicht ist es das, was man sich immer wieder vor Augen halten muss, wenn man seine Hoffnung nicht verlieren will – es gibt nicht nur diejenigen, für die es ohne Zuständigkeit auch keine Verantwortung gib, sondern eben auch all jene, die sich der Verantwortung anderen gegenüber bewusst sind.
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Montag, 29. August 2011, 14:15h
Meine Betreuten - Was ist das Menschenmögliche?
Am Grab der meisten Menschen trauert tief verschleiert ihr ungelebtes Leben.
Hermann Hesse (1877-1962)
Heute habe ich die Nachricht erhalten, dass einer meiner Betreuten verstorben ist. Herr F. ist 47 Jahre alt und befand sich schon seit über zwei Monaten auf der Intensivstation. Allerdings war er auf dem Wege der Besserung und es war schon eine anschließende Reha-Maßnahme geplant, so dass die Nachricht für mich trotz der schweren Erkrankung völlig überraschend eintraf.
Ich betreue Herrn F. schon seit etwa 8 Jahren. Herr F. litt seit seinem vierzehnten Lebensjahr an einer schweren Zwangserkrankung. Er selbst beschrieb die Symptome als Blockaden. Diese Blockaden äußerten sich darin, dass er fast alle Tätigkeiten des alltäglichen Lebens nur sehr langsam und verzögernd ausführen konnte. Fiel beispielsweise etwas auf den Boden, dann brauchte Herr F. mehrere Anläufe, ehe er den Gegenstand wieder aufheben konnte.
Die Symptome waren so stark, dass Herr F. einen Pflegedienst benötigte. Duschen, Anziehen, in der Wohnung etwas ordnen – all diese Tätigkeiten dauerten bei Herrn F. sehr viel länger als bei anderen Menschen. Soziale Kontakte hatte Herr F. kaum, obwohl er sich die sehr wünschte. Dies lag zum einen daran, dass er mit seinem Verhalten bei anderen Menschen oftmals Ablehnung oder zumindest Irritierung hervorrief. Zum anderen lag es aber auch daran, dass Herr F. nicht in der Lage war, wirkliches Interesse für andere zu entwickeln. Manchmal wirkte er regelrecht gefühllos anderen gegenüber. Seine Außenseiterposition wurde noch dadurch erschwert, dass er seinen Kummer durch Essen kompensierte und sich infolge seines Übergewichts nur noch schwer bewegen konnte.
Herr F. hatte sich große Hoffnungen gemacht, als er von einem sogenannten Tiefensimulator hörte. Hierbei handelte es sich um eine Art Schrittmacher, der operativ in das Gehirn eingesetzt wird und der bei einigen psychischen Erkrankungen, wie z.B. bei Zwangserkrankungen oder der Touretteerkrankung Heilerfolge zeigte. Allerdings wird diese Operation nur dann durchgeführt, wenn sich alle psychotherapeutischen Verfahren als erfolglos erwiesen haben. Herr F. musste sich daher mehrere Male in stationäre psychiatrische Behandlung begeben, damit ausgeschlossen werden konnte, dass ihm durch andere Therapien geholfen werden kann. Dies wurde allerdings immer wieder verzögert und jeder ärztlichen Konsultation folgten neue Vorschläge.
Als ich heute Morgen vom Tod meines Betreuten erfuhr, löste dies ein Gefühl aus, das ich vage als Hoffnungslosigkeit oder Trostlosigkeit beschreiben kann. Ich sah vor meinem geistigen Auge das Leben von Herrn F., in dem es kaum so etwas wie Glück gab. Er selbst hat einmal gesagt, dass er nicht mehr viel Sinn in seinem Leben sieht, da er keine Hoffnung mehr hat, einmal so etwas wie Normalität zu erleben. Die Zwänge hatten ihm die Möglichkeit genommen, ein normales Leben zu führen. Dazu kam dann die große Einsamkeit, die einherging mit dem Gefühl, dass sich im Grunde niemand für ihn interessiert und es egal ist, ob er lebt oder stirbt. Bei den meisten Menschen erfuhr er nur Ablehnung, die er sich dadurch erklärte, dass er eben jemand ist, der nichts Liebenswertes an sich hat.
Man könnte jetzt sagen, dass der Tod eine Erlösung für ihn war. Das ist schön einfach, man kann die Sache leicht abhaken und muss sich keine Vorwürfe machen. Aber das mit der Erlösung ist so eine Sache. Bevor man stirbt, sollte man gelebt haben. Und es ist allemal besser, von seinen Leiden durch Heilung erlöst zu werden als durch den Tod. Und so bleibt bei mir dieses vage Gefühl, dass nicht alles versucht wurde. Vielleicht wurde nicht alles Menschenmögliche getan.
Das MENSCHENMÖGLICHE. Hat Herr F. das Menschenmögliche wirklich erhalten? Von uns? Von mir?
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Samstag, 27. August 2011, 13:37h
Keine Geschenke für Hartz-IV-Kinder
Nur aufgrund von Formfehlern hat jetzt das Bundessozialgericht zugunsten einer Familie entschieden, die Klage gegen die Kürzung des Arbeitslosengeldes eingelegt hatte. Grundsätzlich muss ein Geldgeschenk an Kinder als Einkommen angerechnet werden. Konkret ging es um eine Familie, in der die drei Kinder von der Oma einen Betrag von insgesamt 510,00 € als Geschenk erhalten hatten. Kinder von Hartz-IV-Empfängern dürfen allenfalls Sachgeschenke aber keine Geldgeschenke erhalten. Wenn es also Verwandte oder Freunde gibt, die versuchen, die soziale Benachteiligung von Kindern aus sozial schwachen Familien ein wenig abzuschwächen, dann wird dies durch die Anrechnung als Einkommen verhindert.
In der Konsequenz bedeutet diese Rechtssprechung, dass Kinder von Menschen mit einem Einkommen finanzielle Unterstützung erhalten dürfen, Kinder von Hartz-IV-Empfängern jedoch nicht. Das mutet paradox an, da ja gerade die Kinder von Hartz-IV-Emfängern finanziell benachteiligt sind. Reisen sind beispielsweise mit einem Hartz-IV-Einkommen genauso wenig möglich wie Ausflüge in Zoos, Vergnügungsparks e.t.c. Und auf eins sollte man in diesem Zusammenhang unbedingt hinweisen – es gibt ja schon lange eine immer größer werdende Zahl von Menschen, die trotz einer Arbeit so wenig verdienen, dass sie das Gehalt noch mit Hartz-IV aufstocken lassen müssen. Auch deren Kinder – und es geht hier um die Kinder – dürfen keine Geldgeschenke erhalten.
Mir ist durchaus bewusst, dass Hartz-IV eine Sozialleistung ist, die lediglich das Notwendigste abdecken soll und mir ist ebenfalls bewusst, dass diese Leistungen aus den Steuergeldern der Arbeit anderer finanziert werden. Mir ist ebenfalls bewusst, dass es auch die Gruppe derer gibt, die sich in ihrer Arbeitslosigkeit eingerichtet haben und die gar nicht mehr das Interesse haben, an ihrer Situation etwas zu verändern. Hält man sich nur diese Gruppe vor Augen, mag das Urteil gerechtfertigt erscheinen. Aber es gibt eben nun mal nicht nur diese Gruppe, sondern auch die große Gruppe derer, die trotz aller Anstrengungen nicht aus ihrer Situation herauskommt, weil Arbeit nun mal Mangelware ist.
Die Rechtssprechung mag man vielleicht vor diesem Hintergrund als konsequent und richtig empfinden. Und es wird wieder unermüdliche Zustimmung von all denen geben, die die Position vertreten, dass dieses Anspruchsdenken unsere Gesellschaft kaputt macht. Denkt man aber ganz konkret an die Kinder – um die geht es hier nämlich bei dieser Rechtsauffassung – dann bleibt ein mulmiges Gefühl. Es ist kein Zuckerschlecken, Kinder in einer Gesellschaft aufzuziehen, in der alles auf Konsum gesetzt wird. In der schon die Sendungen des Kinderfernsehprogramms mit Werbung unterbrochen werden. In der Geburtstage nicht mehr einfach mit Topfschlagen und Schokokusswettessen ausgerichtet werden, sondern als Event im Vergnügungspark oder in einer eigens dafür gebuchten Übernachtung im Indianerzelt des Völkerkundemuseums. Eine Gesellschaft, in der ein Kind, das in selbstgenähter Kleidung zur Schule kommt, als Lachnummer dasteht und in der ein Jugendlicher ohne Handy und Mailadresse als Trottel angesehen wird.
Da ist es dann schon ein Glück, dass es Omas oder Tanten gibt, die ein wenig aushelfen. Und genau das wird durch die Rechtsprechung verhindert.
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