Dienstag, 8. November 2011, 02:02h
"Bis auf den Grund des Ozeans" von Julia Tavalaro
Mich hat das Thema des Locked-In-Syndrom nicht losgelassen und so habe ich mir ein weiteres Buch geholt, in dem die Erfahrungen dieses Zustands beschrieben werden. Es handelt sich um ein Buch der Amerikanerin Julia Tavalaro, die im Alter von 31 Jahren einen schweren Schlaganfall erlitt. Nachdem sie sieben Monat im Koma lag, erwacht Julia Tavalaro in einem Zustand völliger Lähmung, in dem sie weder sprechen noch sich sonst irgendwie mitteilen kann. In diesem albtraumhaften Zustand verbringt sie sechs lange Jahre, bis endlich jemand den Versuch macht, sich mit ihr zu verständigen. Nachdem sie durch Augenbewegungen und mit Hilfe einer Alphabettafel endlich die Möglichkeit erhält, sich mitzuteilen, lernt sie, ihren Kopf minimal zu bewegen, und auf diese Weise ein Schreibgerät und später einen Elektrorollstuhl zu steuern. Julia Tavalaro begann Gedichte zu schreiben und durch eine Schreibwerkstatt wurde sie ermutigt, ihre Erfahrungen in Form eines Buches niederzuschreiben.
Ich habe das Buch in drei Tagen gelesen. Während der ersten Hälfte des Buches, in der Julia Tavalaro die ersten sechs Jahre nach dem Schlaganfall beschreibt, in denen sie als hirntot galt, hatte ich nachts Albträume. Beim Lesen des zweiten Teils, in dem sie die Wende in ihrem Leben beschreibt, die dadurch eintritt, dass eine Logopädin endlich auf die Idee kommt, mit ihr durch Augenbewegungen zu kommunizieren, stellte sich eine Erleichterung ein. Es ist kaum zu ertragen, mit der Gefühlswelt eines Menschen konfrontiert zu sein, der völlig ausgeliefert und jeglicher Möglichkeit der Kommunikation beraubt ist.
Man kann die Gefühle schwer in Worte fassen, die das Buch auslöst. In dem Buch wird etwas von dem Mysterium deutlich, das das menschliche Sein ausmacht. Denn in dem Moment, in dem endlich wieder die Möglichkeit der Kommunikation besteht, erfasst Julia Tavalaro trotz ihrer schweren Erkrankung ein tiefer Lebenswille. Obwohl sie in einer Zeit, in der die heute als selbstverständlich geltenden technischen Hilfsmittel, noch längst keine Selbstverständlichkeit sind, auf Schreibgerät und Rollstuhl Monate oder sogar Jahre warten muss, verliert sie nie den Mut.
In dem Buch geht es auch immer wieder um Wut. Wut auf die Eltern und die Schwester, die nur äußerst selten vorbeikommen und Wut auf den Ehemann, der in der ganzen Zeit nur zweimal (!) zu Besuch kommt. Wut auf das Pflegepersonal, von dem Julia Tavalaro als „Gemüse“ bezeichnet wird. Pflegepersonal, das, wenn sie sich verkrampft oder stöhnt, mit Schlägen und Machtspielen reagiert. Als Leser kann man diese Wut sofort nachempfinden und es hat mich beruhigt, dass es nicht nur mir so geht, sondern andere Leser, die rezensiert haben, genau die gleichen Empfindungen hatten.
Ich habe dieses Buch aus zweierlei Gründen gelesen. Zum einen, weil ich als Betreuerin vielleicht auch einmal jemanden betreuen werde, der am Locked-In-Syndrom leidet. Zum anderen, weil ich mehr darüber wissen möchte, wie Menschen in Extremsituationen fühlen und ob es für Außenstehende überhaupt möglich ist, zu wissen, wann für Menschen ein Leben noch lebenswert ist und wann nicht. An eine Antwort darauf wird man sich nur dann annähern, wenn man den Versuch macht, sich ohne Projektionen in den anderen hineinzufühlen.
Die meisten Menschen (mich eingeschlossen) neigen dazu, eine Situation wie die des Locked-In-Syndroms sofort dahingehend zu beantworten, dass man nicht mehr leben möchte und es hoffentlich jemanden geben wird, der sich für die Abschaltung der Geräte einsetzt. Die Realität scheint jedoch nicht immer mit dieser Einschätzung überein zu stimmen. Julia Tavalaro hat während der Zeit, in der sie für hirntot gehalten wurde, auch einige Male an Selbstmord gedacht und auch einmal versucht, sich ein Kissen über den Mund zu ziehen um zu ersticken. Als ihr die Logopädin dann die Möglichkeit der Kommunikation eröffnete, war sie allerdings weit entfernt von Selbstmordgedanken, sondern entwickelte sich zur Kämpferin.
Neben den ganz existentiellen Erfahrungen einer schweren Erkrankung, die in diesem Buch für andere nachfühlbar werden, gibt es noch einen anderen, ebenso wichtigen Bereich, in den das Buch Einblick gibt. Dies ist der Bereich des Verhaltens gegenüber schwerkranken Menschen. Da gibt es zum einen diejenigen Menschen, die einen vermeindlich Hirntoten als „Gemüse“ bezeichnen und die immer wieder – und zwar in Gegenwart der Betroffenen – betonen, wieviel besser es doch wäre, wenn diejenige endlich sterben würde. Und da gibt es zum anderen all diejenigen, die sich kämpferisch und eisern auf die Seite des Lebens stellen. Menschen, die alles nur Erdenkliche versuchen, um das Leben des Patienten wieder lebenswert zu machen. Eine Logopädin, die intuitiv gespürt hat, dass Kommunikation möglich ist. Eine Beschäftigungstherapeutin, die alles versucht, um das technisch Machbare auch umzusetzen. Ein Schriftsteller, der Julia Tavalaro dazu ermutigt, ihre Erlebnisse in ein Buch zu fassen. Ein ehrenamtlicher Besuchsdienst, der die vielen Schwierigkeiten und Mühseligkeiten auf sich nimmt, und mit einem gemeinsamen Ausflug überrascht. Und nach vielen Jahren auch endlich eine Pflegerin, von der Julia Tavalaro respektvoll und freundschaftlich behandelt wird.
Das Spektrum des menschlichen Verhaltens hat eine immense Spannbreite, was Anteilnahme und Empathie anbetrifft. Dieses Spektrum kann einem sowohl den puren Angstschweiß auf die Stirn treiben als auch das Gefühl der tiefen Ehrfurcht verursachen.
Obwohl die Auflage des Buches von Julia Tavalaro aus dem Jahr 2011 stammt, wurde nicht erwähnt, dass sie im Jahr 2005 achtundsechzigjährig starb. Dies habe ich eben erst aus dem Internet erfahren. Ich hatte vorgehabt, ihr einen Brief in das Goldwater Memorial Hospital zu schreiben. In dem Brief wollte ich sie danach fragen, was sie über Sterbehilfe für Locked-In-Patienten denkt.
Schade, dass dies nicht mehr möglich ist, denn mich interessiert es brennend, was Betroffene darüber denken, wenn Locked-In-Patienten im Gegensatz zu anderen Erkrankten sofort der Wunsch nach Sterbehilfe erfüllt wird. Und noch brennender hätte es mich interessiert, ob Julia Tavalaro dies als Respekt vor dem Willen des Kranken empfunden hätte oder aber vielleicht auch als eine Haltung im Sinne von „So ein Leben kann nicht lebenswert sein.“
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Sonntag, 6. November 2011, 16:45h
Mal etwas Positives - Doku über Betreuer
Mal etwas Positives über Betreuer:
"Der Engel der Hilflosen" aus der ARD-Serie "Gott und die Welt":
Der Betreuer besucht seine Betreuten etwa ein- bis zweimal im Monat!
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Sonntag, 23. Oktober 2011, 14:56h
Die Zahlen explodieren – Kettenreaktionen in der sozialen Arbeit
In der psychosozialen Arbeitsgruppe, in der sich einmal monatlich Vertreter der diversen Einrichtungen unseres Bezirks treffen, wurde beim letzten Treffen über die Zunahme der Anträge auf Einrichtung einer Betreuung gesprochen, die mittlerweile so zahlreich sind, dass es nur noch möglich ist, mit Hilfe einer Deckelung die Bearbeitung zu bewältigen. Gleichzeitig hat sich in der Zeit, in der ich an der psychosozialen Arbeitsgruppe teilnehme, die Zahl der Teilnehmer, die einem Anbieter von PPM (Personenbezogene Hilfen für psychisch kranke Menschen) angehören, erhöht. Von zwei Seiten – der rechtlichen und der pädagogischen – wird folglich eine Zunahme des Bedarfs an Betreuung deutlich, der wiederum zeigt, dass immer weniger Menschen in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
Ich glaube allerdings, dass es auch noch einen anderen Faktor gibt, der bei der augenfälligen Zunahme des Bedarfs an Betreuung eine Rolle spielt. Hierzu muss man sich die verschiedenen Hintergründe der Antragstellung auf Betreuung ansehen. Es kommt nämlich sowohl vor, dass ein PPM-Träger eine rechtliche Betreuung beantragt als auch dass ein rechtlicher Betreuer eine pädagogische Betreuung beantragt. Was sind die Gründe hierfür?
Zum einen gibt es den Grund, dass man seinen Betreuten so gut wie möglich versorgt wissen will. Er oder sie soll die Hilfen erhalten, die zur Bewältigung des Lebensalltags erforderlich sind. Rechtliche Betreuung spielt sich in der Regel nicht vor Ort ab und erfüllt somit nicht den Bedarf der Alltagsbegleitung. Pädagogische Betreuung ist vorrangig Beziehungsarbeit und kann einen hohen Anfall von administrativen Aufgaben somit meist nicht befriedigend erfüllen. Aufgrund der völlig verschiedenen Arbeitsaufträge kann unter Umständen die Beantragung der jeweiligen anderen Betreuungsform folglich eine unumgängliche Erfordernis sein.
Ich habe aber die Vermutung, dass es noch ein weiteres Motiv für die Beantragung der jeweiligen anderen Betreuungsform gibt. Eine Betreuung stellt oftmals auch ein sehr hohes Maß an Verantwortung dar. Und vielleicht spielt es eine Rolle, dass man Verantwortung lieber teilen möchte, als sie allein zu tragen. Was nicht unbedingt als Furcht vor der Verantwortung einzustufen ist, sondern vielmehr als Furcht davor, in seiner Arbeit mangelhaft zu sein. Wenn man beispielsweise einen psychisch kranken Menschen rechtlich betreut, kann man – wenn man Glück hat – den Bereich des Wohnens, der Finanzen und der Antragstellungen ausreichend regeln. Aber zusätzlich auch noch den Bereich der sozialen Einbindung zufriedenstellend zu regeln, übersteigt dann allerdings meist die Möglichkeiten. Ein pädagogischer Betreuer wiederum kann – auch nur wenn er Glück hat – erreichen, dass der Betreute seinen Lebensalltag so verändert, dass er wieder in der Lage ist, eigenständig am sozialen Leben teilzunehmen. Wenn der Betreute sich allerdings auch weiterhin so verhält, dass er immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten gerät, stößt der pädagogische Betreuer an seine Grenzen.
Diese Grenzen, an die man in der sozialen Arbeit zwangsläufig immer wieder stößt, sind etwas, das nicht nur auf Dauer schwer auszuhalten ist, sondern das auch immer wieder in Rechtfertigungsnöte bringt. Ob pädagogischer oder ob rechtlicher Betreuer – wenn der Betreute nicht in der Lage ist, sich zu verändern und beispielsweise immer wieder in stationäre Behandlung kommt oder immer wieder in Konflikt mit dem sozialen Umfeld gerät, dann wird die Ursache unweigerlich nicht in der Person des Betreuten gesehen, sondern im Betreuer. Dem wird plötzlich Allmacht (in der Sozialpädagogik wird dies gern Omnipotenz genannt) zugesprochen und somit hat man auch endlich das, was soziale Missstände und Konflikte so schön einfach und übersichtlich macht: einen Sündenbock! Je nach Naturell wird sich dann dieser Schuh mehr oder weniger auch angezogen. Ich selbst tue mich oftmals auch schwer damit, ungerechtfertigte Vorwürfe an mir abprallen zu lassen.
Aber selbst wenn ein pädagogischer oder rechtlicher Betreuer in der Lage ist, die Schuldzuweisungen Dritter von sich zu weisen, so bleibt doch immer noch die ganz persönliche Ebene, auf der man mit den Grenzen seines Handelns leben muss. Und da erfordert es ein hohes Maß an Abgrenzung, wenn der Versuch, eine Verbesserung der Situation des Betreuten zu erreichen, scheitert. Wenn man trotz sehr viel Aufwands an Grenzen stößt und kaum Veränderungen bewirkt und man sich irgendwann unweigerlich fragt: „Was tue ich hier eigentlich?“.
Ich glaube, dass dieses latent oftmals vorhandene Ohnmachtsgefühl dazu beiträgt, dass man versucht, das Netzwerk der Hilfsmöglichkeiten zu erweitern und sich andere Helfer „mit ins Boot“ zu holen. Dies ist wohlgemerkt nur ein Aspekt des Phänomens der steigenden Betreuungszahlen im Bereich rechtlicher und pädagogischer Betreuung. Natürlich sind die Ursachen des steigenden Bedarfs sehr viel komplexer und beruhen in erster Linie auf gesellschaftlichen Veränderungen in den sozialen Beziehungen. Aber dennoch ist es wichtig, sich auch mit diesen Aspekt der „Kettenreaktion“ sozialer Arbeit auseinander zu setzen.
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