Sonntag, 17. Juli 2011, 21:51h

Wer weiß Rat, was man mit einer Leiche im Keller tut?

behrens

Manchmal kann eine einzige Frage mit einem Schlag sofort wieder alte Traumen in Erinnerung ruft. Gestern stellte mir ein guter Freund so eine Frage. „Warum hast Du nichts unternommen, als Du von den Betrügereien Deines Anstellungsträgers erfuhrst?“ fragte er mich. Ja, warum nicht – frage ich mich seit dem gestrigen Abend selbst wieder. Die ganze alte Geschichte, in der ich nicht das Rückgrat hatte, adäquat einzugreifen. In der ich mich nicht getraut hatte, das zu tun, was man tun sollte, wenn jemandem, der sich selbst nicht wehren kann, massives Unrecht zugefügt wird. Wenn Menschen sich wie Herrenmenschen aufführen, für die andere nur Untermenschen sind, die man nach Belieben für seine Zwecke missbrauchen kann.

Das ist meine ganz persönliche Leiche im Keller. Ich weiß nicht, wie man mit so einer Leiche umgeht. Und wünsche mir sehnlichst einen Rat.

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Meine Betreuten III – Herr W., meine traumatischste Betreuung

behrens

Ergebung und Duldsamkeit ist nicht der moralische Weg, wenn er auch der bequemere ist.
Martin-Luther King (1929-1968)

Heute möchte ich über einen meiner früheren Betreuten schreiben. Obwohl ich die Betreuung schon seit über 10 Jahren an einen früheren Kollegen abgegeben habe, bereitet es mir immer noch Bauchschmerzen, wenn ich an Herrn W. denke, denn Herrn W. ist durch die Betreuung sehr viel Unrecht zugefügt worden. Herr W., damals um die 38 Jahre, leidet unter einer Minderbegabung, aufgrund der er kaum lesen und schreiben kann und aufgrund der er nicht in der Lage ist, zu unterscheiden, ob ihm jemand helfen oder ihn nur ausnutzen will. Dies hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass Herr W. sowohl für seinen Vater einen Bürgschaftsvertrag für einen Kredit unterschrieb, als auch als Namensgeber für durch seinen Bruder getätigte Bestellungen herhielt. Beides hatte im Jahr 1997, als ich Herrn W. kennenlernte, zu einer Verschuldung von ca. 80.000,00 DM geführt.

Die Betreuung wurde nicht durch allein durch Herrn W. selbst, sondern in Absprache mit seinen zwei Chefinnen beantragt. Immer wieder hatten die beiden Betreiberinnen eines kleinen Chemiebetriebs versucht, Herrn W. davor zu schützen, irgendetwas zu unterschreiben. Außerdem hatten sie immer wieder versucht, die entstandenen Schulden durch Vergleichszahlungen zu tilgen. Als die beiden Chefinnen von dem Betreuungsverein hörten, in dem ich zum damaligen Zeitpunkt arbeitete, hatten beide und auch Herr W. die große Hoffnung, dass eine Betreuung dem Ausgenutzwerden endlich ein Ende setzen könnte. Durch die Erteilung eines Einwilligungsvorbehaltes könnte ich zum einen die durch den Bruder immer wieder abgeschlossenen Verträge sofort rückgängig machen.

Zum Zeitpunkt des Aufsuchens des Betreuungsvereins gab es einen Pfändungsbeschluss, durch den die beiden – ob sie nun wollten oder nicht – einen Teil des Gehalts an Gläubiger abführen mussten. Damals waren die Pfändungsfreigrenzen noch erheblich niedriger als heute und so blieb Herrn W. kaum genug von seinem Lohn, um davon zu leben. Die beiden Chefinnen sprachen den damaligen Geschäftsführer, seines Zeichens Anwalt, darauf an, ob man es keine Möglichkeit geben würde, dagegen etwas zu tun. Dies wurde vom Geschäftsführer sofort bejaht und so wurde nicht nur der Antrag auf Einrichtung einer Betreuung unterzeichnet, sondern gleich noch eine Mandatserteilung. Und sofort vereinbarte der damalige Geschäftsführer einen Vorschuss in Höhe von 400,00 DM.

Nach einiger Zeit erhielt ich dann den für meine Arbeit erforderlichen Betreuerausweis und sichtete die diversen Bestellungen, die der – inzwischen inhaftierte – Bruder meines Betreuten abgeschlossen hatte und die sich auf rund 30.000,00 DM beliefen. Ich sprach den Geschäftsführer darauf an, was dagegen getan werden könnte. Zu meinem Erstaunen, sagte dieser kurz und bündig und ohne von seiner Akte, in die er gerade vertieft war, aufzusehen: „Gar nichts“. Ich war sehr verblüfft, denn wenn man gar nichts tun konnte, machte das ihm erteilte Mandat ja auch überhaupt keinen Sinn. Obwohl der Geschäftsführer versprochen hatte, sich um die Heraufsetzung der Pfändungsgrenze zu bemühen, tat er auch in dieser Hinsicht nichts, und so wurde kurz darauf ein viel zu hoher Teil des Lohns gepfändet.

Ich war damals Berufsanfängerin und wusste überhaupt nicht, wie und wo man die Pfändungsgrenze heraufsetzen könnte. Schließlich erbarmte sich eine Bewährungshelferin und erklärte mir das Prozedere. Außer den von den vom Bruder verursachten Schulden gab es auch noch einen Kreditvertrag in Höhe von etwa 50.000,00 DM. Auch hier war der Geschäftführer (der übrigens für meine Anleitung zuständig war!) nicht im Geringsten bereit, mir bei der Überprüfung zu helfen. Ich hatte aber von dem zuständigen Richter den Tipp erhalten, dass die Art Bürgschaft, die von Herrn W. abgeschlossen wurde, eventuell sittenwidrig wäre.

Inzwischen reagierten die Chefinnen meines Betreuten sehr verärgert, weil sie trotz der Dringlichkeit überhaupt nichts geschah und sie trotz mehrmaligen Nachhakens keine Antwort vom Geschäftsführer erhielten. Dann kam allerdings ein denkwürdiger Brief: der Geschäftsführer teilte mit, dass keine Möglichkeit bestände, etwas gegen den rechtskräftigen Titel zu unternehmen. Er wäre allerdings bereit, gegen den Betrag von 2.500,00 DM (!) eine Ratenzahlung zu vereinbaren und zu überwachen. Zu Recht löste dieser Brief bei den beiden Chefinnen einen Wutanfall aus, denn die „Überwachung von Ratenzahlungen“ hatten beide schon seit Jahren selbst ausgeführt. Worum es ihnen ging, war die Anfechtung der Vollstreckungstitel, auf die Ihnen vom Geschäftsführer Hoffnung gemacht worden war. Eine Hoffnung, die er mir gegenüber allerdings sofort als völlig unrealistisch schilderte. Der eigentliche Eklat entstand dann aber, als die Chefinnen mit Herrn W. die Rücknahme des Mandats vereinbarten und sich der Geschäftsführer weigerte, die angezahlten 400,00 DM wieder zurückzuzahlen. Als ich als rechtliche Vertreterin von Herrn W. darauf bestehen wollte, drohte er mir damit, dass er „auch anders könne“, denn die Gebühren für eine Beratung könne man auch ohne weiters bis auf einen Betrag von 650,00 DM anheben. Dann fügte er noch lautstark hinzu, dass die Motivation der beiden Chefinnen, Herrn W. zu helfen, allein darin bestehen würde, ihn ausbeuten zu wollen. Außerdem sei Herr W. sowieso nur ein Krimineller.

Ich war sehr verzweifelt und fragte meinen damaligen Kollegen, der nicht nur Betreuer, sondern auch Anwalt ist. Seine Antwort lautete, dass eine Anhebung der Beratungsgebühren durchaus legitim wäre (eine Einschätzung, die, wie ich später erfuhr, allerdings nicht von allen geteilt wird). Ich versuchte daraufhin, Hilfe beim ersten Geschäftsführer dabei zu erhalten, die völlig zu Unrecht erhobene horrend hohe Gebührenrechnung zurückzunehmen. Der brach ein Gespräch über die Situation ab mit dem denkwürdigem Satz: „Anwälte kosten nun mal Geld“.

Da ich nichts tun konnte, um meinem Betreuten in dieser Angelegenheit zu helfen, konzentrierte ich mich auf den Bürgschaftsvertrag, gegen den ich Klage erheben wollte. Da ich mich als Nichtanwältin damit überfordert fühlte, fragte ich meinen Anwaltskollegen, der dann eine Klage für mich vorbereitete, wofür ich ihm 250,00 DM zahlte. Die Klage war ein Erfolg, denn die Bank lenkte ein und war bereit, die Forderung der 50.000,00 DM gegen eine geringe Vergleichszahlung zurückzunehmen. Zumindest in dieser Angelegenheit konnte ich etwas für Herrn W. tun.

Wie reagierte Herr W. eigentlich auf die ganze Situation? Ich brauche wohl nicht näher auszuführen, dass ein Mensch, der über seine hohen Schulden verzweifelt ist und sich hilfesuchend an einen gemeinnützigen Verein wendet, die Welt nicht mehr versteht, wenn er von eben diesem Verein eine hohe Rechnung für eine nie erfolgte Beratung erhält. Ich habe Herrn W. immer wieder gesagt, wie schlimm ich die Geschehnisse im Verein fand. Mich hat es immer beeindruckt, dass Herr W. trotz seiner hohen Pfändungen stets wacker zur Arbeit gegangen ist. Als dann endlich die Summe getilgt war, war er auch mehr als glücklich. Ich möchte betonen, dass auch Herr W. kein Engel ist und er ein- oder zwei kleine Strafdelikte begangen hat. Als bei ihm vor einiger Zeit Symptome einer psychischen Erkrankung auftraten, ließ auch seine Arbeitsmotivation nach, so dass seine Firma, in der inzwischen nur noch eine der zwei Chefinnen tätig ist, ihn entließ. Ich hatte immer mal wieder Kontakt zu Herrn W. weil dessen Betreuung nachdem ich den Verein verließ, von meinem damaligen Kollegen übernommen wurde.

Keine meiner Betreuungen verlief auch nur ansatzweise so negativ wie die von Herrn W. und beeinflusste so grundlegend meine Vorbehalte gegen Betreuer. Traumatisch war nicht nur die Tatsache, nichts gegen den Betrug meines Betreuten getan zu haben, sondern auch der Umgang der Kollegen mit dieser Situation. Meine damalige Kollegin äußerte sich gar nicht zu dem Geschehen, außer dass sie ihren Unmut darüber ausdrückte, dass die Chefinnen von Herr W. so oft anrufen würden. Mein damaliger Kollege empfand es als Anmaßung, dass ich die Mandatsrücknahme befürwortete und empfindet meine Kritik an der Arbeitspraxis des Vereins als völlig unberechtigt und unangebracht. Diese Meinung teilt ein großer Teil des Kollegenkreises, der außerdem der Meinung ist, man müsse über die Vorfälle Stillschweigen bewahren, da ansonsten unser ohnehin schlechter Ruf noch mehr gefährdet ist.

Wenn ich mir das Unrecht vor Augen führe, das Herrn W. – und allein um ihn geht in diesem Beitrag hier – im Rahmen der Betreuung angetan wurde, dann tue ich mich schwer, Stillschweigen als das geeignete Mittel anzusehen.

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Mittwoch, 6. Juli 2011, 03:12h

Meine Betreuten II - Jemand, der Deutschland über alles liebt

behrens

Seit etwa 3 Jahren betreue ich einen dreißigjährigen Mann, der seine afrikanische Heimat verließ, um in Deutschland zu studieren. Nach seinem Germanistikstudium in Afrika arbeitete Herr J. einige Zeit als Lehrer in seiner Heimat und bewarb sich dann um einen deutschen Studienplatz für das Fach Kommunikationswissenschaften. Die ersten Semester seines Studiums absolvierte Herr J. sehr erfolgreich. Aber dann entwickelte Herr J. plötzlich Symptome einer psychischen Erkrankung, die schließlich in eine schwere Psychose mündeten. Zu den Symptomen gehörte ein sogenannter Stupor, das ist ein Zustand der Bewegungslosigkeit, in der oftmals auch keine Nahrung oder Flüssigkeit mehr aufgenommen wird und überhaupt keine Kommunikation mehr mit anderen stattfindet. Dieser Zustand ist meist auch mit großer Angst und Depression verbunden.

Beim ersten Krankheitsschub, der noch nicht zur Einrichtung einer Betreuung, aber zu einem langen stationären psychiatrischen Aufenthalt führte, gab es massive finanzielle Unterstützung durch die evangelische Studentengemeinde, so dass der Verbleib in Deutschland gesichert war. Aber der Fond, über den die Studentengemeinde verfügt, ist nur für vorübergehende Notlagen eingerichtet und so war es unsicher, wovon Herr J. in Zukunft leben würde. Beim zweiten Krankheitsschub wurde dann die Betreuung eingerichtet, denn inzwischen hatte sich die Situation so zugespitzt, dass die Ausweisung schon beschlossen war und Herr J. sich schon mit einem Bein im Flugzeug befand. Dank des sehr engagierten Rechtsanwalts von Herrn J. kam es aber nicht dazu, denn Herr J. war so schwer krank, dass eine Ausweisung für ihn mit Sicherheit verheerende gesundheitliche Folgen gehabt hätte, was dann zu einer Aussetzung der Abschiebung führte.

Eine Zeitlang hangelte ich dann von einer Fiktionsbescheinigung (das ist eine Art vorübergehende Aufenthaltsduldung) zur nächsten und kämpfte zunächst gegen Windmühlen, als ich versuchte, den Lebensunterhalt und die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse für Herrn K. zu sichern. Herr J. hatte eigentlich gar kein Recht auf einen Aufenthalt in Deutschland, denn die Aufenthaltserlaubnis war definitiv nur zum Zwecke der Aufnahme eines Studiums erteilt worden, und dieses war ja durch die schwere Erkrankung gar nicht mehr realisierbar. Aber irgendwann nach sehr viel Schriftverkehr mit Behörden und nach einigen Widersprüchen waren dann doch die befristete Aufenthaltserlaubnis und der Sozialhilfebezug gesichert.

Die Betreuung von Herrn K. hat viele Aspekte, die es wert sind, einmal genauer betrachtet zu werden. Das sehr dramatische Krankheitsbild einer schweren mit einem Stupor verbundenen Psychose, der Kampf um ein Bleiberecht und der Albtraum, der entsteht, wenn jemand einen Status hat, der ihn schonungslos durch alle sozialen Netze fallen lässt. Was ich aber so beeindruckend an der Lebensgeschichte von Herrn J. empfinde, ist seine große Liebe zu Deutschland. Diese äußerte sich seiner Aussage nach bei ihm schon, als er noch ein kleiner Junge war und er ein begeisterter und treuer Fan des deutschen Fußballs wurde. Später dann vertiefte er seine Liebe zu Deutschland durch ein Studium der Germanistik. Und seine Verehrung von Deutschland sollte darin ihren Höhepunkt finden, dass er es schaffte, in seinem Traumland einen Studienplatz zu erhalten.

Und dann platzte dieser Traum auf sehr grausame Art. Die psychische Erkrankung von Herrn J. tritt so massiv und extrem auf, dass er sich mittlerweile die meiste Zeit in stationärer psychiatrischer Behandlung befindet. Seine Angstzustände sind oft so quälend, dass er es in seiner Wohnung nicht aushält.

Ich zerbreche mir den Kopf darüber, was die auslösende Ursache für diese schwere Erkrankung sein könnte. Hat die Verwirklichung des großen Traums vielleicht auch Seiten, die schwer zu ertragende Widersprüche offenbart haben? Ist es vielleicht für einen sensiblen Menschen ein zu großer Schritt, fernab der Heimat zu wohnen? Sind die Unterschiede zwischen den Kulturen so groß, dass sie vielleicht auch manchmal den Boden unter den Füßen wegreißen können?

Ich hatte einmal ein langes Gespräch mit meinem Herrn J., in dem ich ihn gefragt habe, was es denn genau ist, das ihn an Deutschland so fasziniert. Herr J. sagte mir, dass es ihn ungeheuer beeindrucke, wie man es in diesem Land geschafft hatte, aus einem Trümmerfeld wieder etwas Neues aufzubauen. Und dann beschrieb er, dass etwas Ähnliches in seiner Heimat unvorstellbar wäre, da dort zum einen keine demokratischen Strukturen herrschten und zum anderen Posten grundsätzlich nicht nach Fähigkeit besetzt werden würden, sondern nur aufgrund von guten Beziehungen. Es bestände gar keine Möglichkeit einer Reform, da es jedem einzelnen immer nur um die eigene Position, bzw. die der eigenen Familie gehen würde. Herr J. sah wenige Anlass zu Optimismus, da aufgrund dieser Struktur Veränderungen gar nicht zustande kämen.

Ich fragte Herr J. nach dem Thema seiner Magisterarbeit (das interessiert mich irgendwie immer sehr). Herr J. schrieb ausgerechnet über eines meiner Lieblingsbücher, nämlich „Demian“ von Hermann Hesse. Spezifisch setzte sich Herr J. mit dem Thema „Eigensinn“ in diesem Buch auseinander.

Für mich hat Herr J. etwas, was ich nur schwer in Worte fassen kann. Ich habe insgeheim den Gedanken, dass es für Herrn J. trotz seiner großen und ehrlichen Liebe zu Deutschland ein Fehler war, seinen Traum zu verwirklichen. Es prallen zwei völlig unterschiedliche Kulturen aufeinander. Und das, was Herr J. von Deutschland aus der Ferne wusste, waren die schönen und bewundernswerten Seiten. Politik, Fußball, Literatur – all das sind Teile eines Landes, die sehr beeindruckend sein können. Aber das reale Leben hier hat unendlich viele andere Facetten. Herr J. kommt aus einer Familie, in der Tradition und Hierarchie einen großen Wert darstellt. Er hat 10 Geschwister und sein Vater hat drei Ehefrauen. Das Leben in einer anonymen Großstadt wie Hamburg stellt da einen ziemlich drastischen Gegenpol dar.

Vielleicht hat die schwere Erkrankung auch völlig andere Ursachen, und ich sehe einen Zusammenhang, der in Wahrheit viel weniger Bedeutung hat, als ich vermute. Was aber mit Sicherheit niemals unterschätzt werden darf, ist die Bedeutung der kulturellen Wurzeln, die man niemals ablegen kann. Wenn es gelingt, die eigenen Wurzeln heil in einen fremden Boden zu verpflanzen, dann kann dies einen großen Gewinn darstellen. Aber ich befürchte, dass dabei eben manchmal auch Verletzungen entstehen können.

*Aus Gründen des Datenschutzes wurden von mir einige Angaben geändert.

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Montag, 27. Juni 2011, 14:21h

Master and Servants – die Philosophie des Delegierens

behrens

„Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' getrost den anderen zu.“

Inzwischen ist einige Zeit seit meiner Fortbildung vergangen und ich habe genug Abstand, ein wenig darüber zu schreiben, was mir bei der Fortbildung im Magen lag – nämlich das Prinzip des Delegierens. Zum einen betone ich vorab, dass die Fortbildung zum Thema Büroorganisation für Betreuer mir viele Anstöße gegeben hat, wie ich meine Arbeit besser und rationeller organisieren kann. Zum anderen möchte ich ebenfalls betonen, dass Delegation in einem gewissen Rahmen sowohl völlig normal als auch unverzichtbar ist. Beispielsweise organisiere ich als Betreuerin die Haushaltshilfe für Kranke und Behinderte und führe diese nicht selbst aus, genauso wenig wie ich selbst die Begleitung für Spaziergänge übernehme, sondern hierfür Besuchsdienste suche. Und ich habe seit einigen Jahren eine Mitarbeiterin, die für mich einen großen Teil der administrativen Arbeiten erledigt.

Wenn das Delegieren also etwas völlig Normales ist, warum ist es dann nicht voll und ganz zu bejahen und warum schreibe jetzt einen Beitrag darüber? Die Antwort lautet: weil es eine Form des Delegierens gibt, die weit über den eigentlichen Zweck und Sinn hinausgeht und die einen mehr als fragwürdigen Umgang mit anderen Menschen mit sich bringt.

Bei vielen Themen im Fortbildungsseminar ging es darum, wie man zeitsparender arbeiten kann und der Seminarleiter schilderte ausführlich, dass er mit vielen Aufgaben seine Mitarbeiter und vor allem Praktikanten beauftragt. Auch ein Teil der Heimbesuche werden von Praktikanten durchgeführt und sogar das Schreiben von Berichten. Sämtliche Aufgaben wie Schriftverkehr, Kontenführung, Aktenführung e.t.c. werden ohnehin grundsätzlich von Mitarbeiterinnen und nicht vom Betreuer selbst ausgeführt. Der ewige Streitpunkt, wer bei einer Krankenhauseinweisung notwendigen Dinge wie Kleidung und Hygieneartikel bringt, wurde von dem Seminarleiter ganz klar dahingehend entschieden, dass der Pflegedienst hierfür zuständig ist. Mein Einwand, dass der Pflegedienst genauso wenig wie wir Betreuer dafür bezahlt wird, wurde sofort entgegengebracht, dass dies im zeitlichen „Gesamtbudget“ enthalten sein müsse – ein etwas gewagter und darüber hinaus sehr nebulöser Standpunkt, wie ich finde.

Jeder einzelne Punkt für sich genommen ist wahrscheinlich durchaus im gewissen Rahmen akzeptabel und begründbar. In der Summe allerdings ergibt sich ein Bild von der Betreuungsarbeit, in dem der Begriff „Betreuer“ seltsam unpassend wirkt und man eigentlich viel mehr das Bild eines Managers oder Verwalters vor Augen hat. Aber selbst dies wäre vielleicht noch kein Grund, das Prinzip des Delegierens völlig in Frage zu stellen. Was am Prinzip des Delegierens so befremdlich ist, ist die Tatsache, dass es sich zu einem Selbstzweck entwickelt, in dem es primär darum geht, allen anderen Beteiligten so viel wie möglich aufzuladen. Dabei werden dann auch noch mit Vorliebe Menschen eingesetzt, die nicht bezahlt werden sondern zum Nulltarif arbeiten, wie Praktikanten und Ehrenamtliche.

Die Regel des Delegierens lautet:

Das Recht des „So-wenig-wie-möglich“ gilt ausnahmslos für die eigene Person. Für alle anderen gilt strikt die Pflicht des „So-viel-wie-möglich“.

Aus kaufmännischer Sicht eine Praxis, die professionell und clever ist. Aus sozialer Sicht einfach nur eine professionelle Form des Ausnutzens und des uneingeschränkten Egoismus.

Was kommt eigentlich bei dem Prinzip des Delegierens unterm Strich für die Arbeit im Betreuungswesen heraus? Ganz einfach – anstatt vieler Betreuer mit geringer Fallzahl gibt es nur wenige Betreuer mit hoher Fallzahl. Auf der anderen Seite muss ehrlicherweise auch erwähnt werden, dass in ersterem Fall auch weniger Praktikantenplätze und weniger Aufgaben für Ehrenamtliche zur Verfügung stehen. Allerdings ist eine geringere Fallzahl auch zwangsläufig mit mehr Arbeitsplätzen für Betreuer verbunden.

Wie sieht es denn ganz konkret für den einzelnen Betreuten aus? Ist es besser von jemandem betreut zu werden, der viele Betreute und somit viele Praktikanten und Mitarbeiter hat oder ist es besser, von jemandem betreut zu werden, der nur wenige Betreute hat? Es wäre falsch, von vorneherein davon auszugehen, dass eine geringe Fallzahl gleichbedeutend mit besserer Betreuung ist, denn es ist durchaus möglich, viele Menschen optimal zu betreuen und auf der anderen Seit ist eine geringe Betreuungszahl noch kein Garant für eine gute Betreuung. Die entscheidende Frage ist aber, ob es wahrscheinlich ist, dass jemand, der eine rigorose und strikte Form des Delegierens praktiziert und vertritt, seinen Schwerpunkt tatsächlich noch auf dem gerade von diesem Betreuertypus gern so oft zitierten „Wohl des Betreuten“ hat? Hat jemand, der sich ständig mit der betriebswirtschaftlichen Frage des Einsparens von Arbeitszeit beschäftigt, überhaupt noch Zeit und wirkliches Interesse für die vielen anderen Fragen, die sich aus der Arbeit mit Betreuten ergeben?

Eins steht fest - für die vielen Menschen, die auch in die Betreuungsarbeit involviert sind, ist der Umgang mit einem Menschen, der das Delegieren schon fast zwanghaft betreibt, alles andere als angenehm. Handwerker, die „mal eben“ etwas umsonst machen sollen, Pflegedienste, die Tätigkeiten übernehmen müssen, die überhaupt nicht zu ihren Aufgaben gehören, Heimpersonal, von denen Extraarbeiten erwartet werden, die kaum leistbar sind – die Liste derer, die man einspannen kann für Dinge, die sie überhaupt nicht machen müssen, könnte noch beliebig verlängert werden.

Das erste Mal wurde ich übrigens mit der Thematik des Delegierens konfrontiert, als ich als Berufsanfängerin gemeinsam mit meiner ebenfalls neuen Kollegen eine Stelle in der Arbeitslosenberatung antrat. Ich führte mit der Kollegin eine Diskussion darüber, dass sie mit dem Hinweis auf ihre hohe Qualifikation jegliche Kontrolle der Arbeitszeit verweigerte. Die Kollegin sagte mir, dass sie schon immer eine Arbeitstelle angestrebt hätte, in der sie selbständig arbeiten und die Arbeit delegieren könne. Schon damals war ich äußerst verwundert darüber, dass es jemanden so ausdrücklich wichtig ist, Arbeit zu delegieren. Wie bereits erwähnt, gehört Delegation zu den meisten Tätigkeiten in irgendeiner Form dazu. Für manche Menschen allerdings scheint das Delegieren fast schon mit einem Lustgewinn verbunden zu sein. Endlich mal ohne Begründung anderen Ordern geben dürfen. Endlich mal die Tätigkeiten abwälzen, auf die man selbst keine Lust hat. Endlich mal jemand sein, der den Ton angibt und vorschreibt, wo’s längs geht. Endlich mal – der Master sein und nicht mehr einer der vielen Servants.

Ach ja, wie lang ist’s her das ich das andere Extrem erlebt habe – die rigorose Gleichheit. Mein Zwischenpraktikum absolvierte ich im Frauenhaus. Und dort war in der Satzung ausdrücklich festgelegt worden, dass es auf keinen Fall eine Leiterin geben darf. Alle waren gleich und hatten überall und jederzeit Mitspracherecht. Mich würde brennend interessieren, ob dies auch heute noch so praktiziert wird. Denn schon damals lief vieles dadurch sehr chaotisch. Auf Besprechungen tauchte das ganze 9köpfige Team – einschließlich Praktikantinnen und Hausmeisterinnen – auf und meist waren gar nicht genug Stühle vorhanden, um gemeinsam zu tagen. Wenn ich den damaligen Personalschlüssel mit meiner heutigen Fallzahl vergleiche, werde ich grün vor Neid. Denn während ich 36 Betreuungen allein führe, war damals das 9köpflige Team für weniger als 20 Frauen (die genaue Zahl erinnere ich nicht mehr, wahrscheinlich sogar weniger) zuständig. Aber dennoch habe ich Respekt vor Menschen, denen gleichberechtigtes Arbeiten wichtig ist und die Entscheidungen gemeinsam fällen und tragen möchten.


Last not least gehören Menschen, die eine rigorose Form des Delegierens vertreten auch fast immer zu den Menschen, die Entscheidungen über den Kopf anderer fällen. Das ist kein Zufall, denn wer sich auf der einen Seite dazu berechtigt fühlt, die Maßstäbe dafür festzulegen, wann und wo etwas delegiert wird, der fühlt sich ebenso dazu berechtigt, die Maßstäbe dafür festzulegen, wann und wo etwas einzig und allein von ihm selbst ausgeführt werden darf. Das Prinzip ist nämlich haargenau das Gleiche: Master and Servants.

Und jetzt möchte ich – damit mir nicht wieder der (nicht ganz unberechtigte) Hinweis auf meine pessimistische Grundhaltung gemacht wird, auf eine Dokumentation aufmerksam machen, in der über einen Betreuer berichtet wird, der lediglich 19 Betreuungen führt und sich für jeden einzelnen sehr engagiert:

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1308508/Ein-knallharter-Job?bc=sts%3Bsuc#/beitrag/video/1308508/Ein-knallharter-Job

Sollte es irgendwann bei mir selbst der Fall sein, eine Betreuung zu benötigen – diesem Kollegen würde ich bedingungslos vertrauen.

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