Montag, 4. April 2022, 19:40h

Die großen Lücken unseres Sozialen Netzes

behrens

Dass jemand in Deutschland trotz einer Beschäftigung unter die Armutsgrenze fallen kann, ist mittlerweile so manchem bekannt. Wie existenzbedrohend und zugleich grotesk sich dies manchmal gestaltet, möchte ich hier mal anhand eines Beispiels aus meiner Arbeitspraxis erzählen:

Ich betreue eine 55jährige Frau, die aufgrund psychischer Erkrankung schon seit längerem nicht mehr arbeitsfähig ist und die mit ihrem Lebensgefährten in sogenannter "Bedarfsgemeinschaft" lebt. Da das Gehalt des Partners nicht ausreichend für zwei Personen ist, müssen Hartz-IV-Leistungen gewährt werden. Durch den Erhalt eines Weihnachtsgeldes lag das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft jedoch plötzlich über dem Bedarfssatz und die Leistung wurde eingestellt, wobei dies nicht nur für den Monat des Erhalts gilt, sondern für die nächsten 6 (!) Monate, auf die die Summe für den einzelnen Monat angerechnet wird. Hierdurch taucht zusätzlich das Problem auf, dass meine Klientin plötzlich nicht mehr krankenversichert ist und sich selbst versichern muss, was wiederum rund 200 Euro kosten wird.

In Deutschland können zwar die Hartz-IV-Leistungen aufgrund eines über der Bedarfsgrenze liegenden Einkommens wegfallen, aber gleichzeitig wird trotzdem eine gewisse Bedürftigkeit anerkannt, die wiederum unter Umständen die Gewährung von Wohngeld rechtfertigt. Der Lebenspartner meiner Klientin muss also bei einer anderen Behörde einen Wohngeldantrag stellen, wozu alle Unterlagen, die dem Jobcenter bereits vorliegen erneut beschafft und vorgelegt werden müssen.

Geld wird also auf einer Seite gestrichen und von anderer Stelle unter bestimmten Voraussetzungen wiederum weiter gewährt. Jemand mit ausreichendem Einkommen mag sich fragen, warum dies ein Problem darstellt. Nur als Betroffener oder Sozialarbeiter/Betreuer weiß man, dass dieses ganze Prozedere einer zähen Zeitversetzung unterliegt, die zwangsläufig Lücken schafft, in denen kein Geld fließt. Jeder Bescheid wird immer erst im nachherein bewilligt, da die entsprechenden Einkommensbelege auch erst im nachherein vorgelegt werden können. Hierdurch wiederum kommen die laufenden Zahlungsverpflichtungen wie Miete, Strom, Gas, Versicherungen etc. ins Stocken, was wiederum Mahnungen oder Versicherungslücken zur Folge hat.

Zurück zu meiner Klientin. Ich hatte schon nach kurzer Zeit den Eindruck einer beginnenden Demenz. Mit der behandelnden Ärztin wurden dann weitere Untersuchungen besprochen, die meine Vermutung leider bestätigten. Sogar von Seiten des Jobcenters wurde bereits vor zwei Jahren die Arbeitsfähigkeit durch einen Gutachter in Frage gestellt, was allerdings von der Rentenversicherung per Aktenlage (!) abgewiesen wurde. Aber selbst wenn jetzt durch die Untersuchungsergebnisse die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente bewilligt werden muss - es besteht aufgrund von Beitragslücken kein Anspruch!

Während in den ersten Jahren nach der Hartz-IV-Reform zum Arbeitslosengeld II auch Zahlungen an die Rentenkasse gehörten, wurde dies plötzlich eingestellt. Davon hat die Öffentlichkeit kaum Notiz genommen, auch ich habe dies erst durch die Bescheide meiner damaligen Betreuten erfahren. Wer immer gearbeitet hat, aber dann infolge von Arbeitslosigkeit in einem bestimmten Zeitraum keine Beiträge mehr zahlen konnte, verliert den Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente. Aber so ganz ins Nichts fällt niemand, denn es gibt ja noch die Grundsicherungsleistung (vormals Sozialhilfe), die nicht erwerbsfähigen Menschen gewährt werden muss, wenn das Einkommen nicht ausreicht.

Meine Betreute, beziehungsweise ihr Lebensgefährte, müssen also einen - ebenfalls sehr umfangreichen - weiteren Antrag an eine weitere Behörde, nämlich das Grundsicherungsamt, stellen. Wiederum müssen alle Unterlagen, die bereits beim Jobcenter und inzwischen auch beim Wohnungsamt vorliegen, erneut vorgelegt werden. Wer eine kaufmännische Ausbildung hat, wird vielleicht mit den Unmengen von Antragsformularen so einigermaßen klarkommen, die meisten Menschen sind jedoch damit heillos überfordert.

Aber auch für Profis ist das ganze Prozedere schwierig, denn eine Behörde bewilligt oftmals erst dann, wenn eine andere Behörde abgelehnt hat. Wenn das Wohnungsamt in diesem Fall Wohngeld bewilligt, wird eventuell der Anspruch auf Grundsicherungsleistung nicht mehr bestehen. Wenn der Antrag beim Jobcenter auf Bezuschussung des Krankenkassenbeitrags bewilligt wird, wird sich dies wiederum auf die Berechnung des Wohngelds auswirken. Das Grundsicherungsamt wird eventuell (hoffentlich nicht) auf die Beantragung der Rente bestehen, weil ein aktueller Ablehnungsbescheid erforderlich ist. Last not least - im Juni geht alles wieder von vorne los, da dann ja die sechs Monate der Verrechnung des Weihnachtsgeldes enden.

Wie soll dies eigentlich jemand psychisch durchstehen, der einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht und der sich nach der Arbeit um seine kranke und inzwischen zunehmend pflegebedürftige Lebensgefährtin kümmern muss?

... link (0 Kommentare)   ... comment