Freitag, 15. März 2013, 11:50h

Meine Betreuten V: – Ein Suizid

behrens

Die Betreuung von Herrn R. fällt in die Anfangszeit meiner Tätigkeit als Betreuerin, als ich noch in einem Verein angestellt war. Herr R. litt an schweren Depressionen, die mit einer starken Antriebslosigkeit verbunden waren, die oft so ausgeprägt war, dass selbst kleinste Anforderungen für ihn sehr quälend waren und ihn immer wieder die eigene Hilflosigkeit spüren ließen. Aus diesem Grund veranlasste ich die Unterstützung durch eine Haushaltshilfe eines Pflegedienstes. Dies stellte zwar einerseits eine Entlastung für Herrn R. da, andererseits wiederum auch eine Belastung, da Herr R. sich durch die Aktivität der Haushaltshilfe unter Druck gesetzt fühlte.


Herr R. sprach eigentlich fast nie direkt über seine Depressionen, aber diese wurden bei ihm zwischen den Zeilen deutlich. Ich erinnere noch klar seinen gequälten Gesichtsausdruck, wenn er etwas beschrieb, das für ihn ein großes Problem darstellte, ihm dabei aber gleichzeitig bewusst war, dass es für „normale“ Menschen lediglich nur eine ganz normale Alltagsanforderung war.

Herr R. erhielt Medikamente gegen seine Depressionen und Ängste und er suchte auch regelmäßig eine Beratungsstelle in unserem Bezirk auf. Aber eine wirklich Besserung trat bei ihm nicht ein.

Eines Tages rief mich die Mitarbeiterin des Pflegedienstes aufgeregt an, weil Herr R. ihr nicht die Tür öffnete, was bisher noch nie geschehen war. Auch telefonisch war Herr R. nicht erreichbar und so musste ich entscheiden, ob ich gewaltsam die Tür öffnen ließ. Mir war völlig klar, dass dies bei Herrn R. katastrophale Folgen haben würde, wenn er einfach nur außer Haus gewesen wäre, denn er hätte sich durch so ein Vorgehen kontrolliert und nicht mehr sicher gefühlt. So ließ ich also ein paar Stunden verstreichen und versuchte regelmäßig, ihn telefonisch zu erreichen. Außerdem informierte ich auch den Mitarbeiter der Beratungsstelle. Dieser entschloss sich dann, bei Herrn R. vorbeizugehen, da sein Büro im Gegensatz zu meinem nicht sehr weit entfernt lag. Als dem Mitarbeiter nicht geöffnet wurde, holte er extra eine Leiter, um durch das im Hochparterre liegende Fenster zu sehen. Dort sah er dann, dass die Tür zum Badezimmer offenstand und das Licht brannte.

Hieraufhin entschloss ich mich dann, die Feuerwehr zur gewaltsamen Öffnung der Wohnung einzuschalten, die ich dann nach einiger Zeit anrief. Mir wurde die Auskunft gegeben, dass keine ungewöhnlichen Vorkommnisse vorlagen.

Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir jedoch, dass dies nicht stimmte und etwas sehr Schlimmes passiert sei und ich rief trotzdem die Polizei an, die ich um Auskunft bat. Die sagte mir dann, dass sich Herr R. im Badezimmer erhängt hatte.

Diese Nachricht löste bei mir einen kleinen Schock aus, den ich auch heute noch ein wenig spüre, wenn ich daran denke. Natürlich kam mir damals sofort der Gedanke, ob ich den Suizid hätte verhindern können. Ob es vielleicht nicht doch irgendeine Form der Hilfe für Herrn R. hätte geben können. Eine Hilfe, die Herrn R. wieder befähigt hätte, sein Leben als lebenswert zu empfinden. Aber es war schon vieles versucht worden: stationäre Behandlung, Tagesklinik, Medikamente und Psychosoziale Beratungsstelle – aber die Depressionen und Ängste waren stärker.

Ich war sehr froh, mich mit dem Mitarbeiter der Beratungsstelle austauschen zu können. Auch ihm ging es ähnlich und auch er fragte sich, ob er die Tat vielleicht verhindern hätte können. Allerdings hatte er ein Kollegenteam, in dem Raum dafür bestand, den Suizid aufzuarbeiten. Das hatte mir damals sehr gefehlt, denn ein lapidares „Wer sterben will, soll doch sterben“ ist nicht gerade hilfreich, wenn es um einen leidenden Menschen geht, der keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sein Leben zu beenden.

Vermutlich hätte es tatsächlich keine Unterstützung gegeben, die Herrn R. dabei geholfen hätte, sein Leben wieder als lebenswert zu empfinden.
Vermutlich.

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