Sonntag, 18. November 2007, 21:09h
Der Ruf nach Heimeinweisung
Als Betreuerin ist man immer wieder mit der Situation konfrontiert, überprüfen zu müssen, ob jemand noch in der Häuslichkeit verbleiben kann oder aber in ein Heim wechseln muß. Bei jemanden, der selbst den Wunsch nach einem Heim äußert, stellt dies kein besonderes Problem dar, denn dann muß nur nach einem geeigneten Heim gesucht werden und der Umzug und die Wohnungsauflösung müssen organisiert werden.
Ein nicht geringer Teil der Betreuten will aber nicht ins Heim ziehen sondern um jeden Preis in der eigenen Wohnung bleiben. Was bedeutet das für mich als Betreuerin?
Zuerst einmal den einfacheren Fall: ein Betreuter ist zwar schwerkrank, aber nicht mehr in der Lage, seine Wohnung zu verlassen sondern bettlägerig. Hier ist der Wunsch nach dem Verbleiben in der eignen Wohnung noch relativ einfach realisierbar, denn es gilt nur, einen guten Pflegedienst zu finden und die häusliche Pflege so umfangreich wie möglich zu organisieren, Beantragung einer angemessenen Pflegestufe, Beantragung möglicher Hilfsmittel in der Wohnung und falls möglich zusätzliche Besuchsdienste. Letzteres ist schwierig, wenn es sich um einen Betreuten ohne Geld handelt. Dennoch ist es hier fast immer möglich, dem Betreuten in seinem Wunsch nach dem Verbleiben in der Wohnung zu entsprechen.
Jetzt der schwierigere Fall: der Betreute ist gebrechlich und hilfsbedürftig und noch in der Lage, sich innerhalb der Wohnung und vielleicht sogar außerhalb fortzubewegen. Es kommt zu Stürzen und der Betreute liegt unter Umständen stundenlang, im schlimmsten Fall sogar einige Tage, hilflos in seiner Wohnung. Oder der Betreute verläßt die Wohnung ohne Schlüssel und schließt sich selbst aus, Nachbarn informieren die Polizei und nur über einen Schlüsseldienst kann der Betreute wieder in seine Wohnung. Nach kurzer Zeit werden jetzt Nachbarn, der Hausarzt, die Familie, die Polizei, der inzwischen informierte Sozialpsychiatrische Dienst und wer sonst noch davon mitbekommen hat, den unvermeidlichen Satz äußern: „Wieso kommt der nicht in ein Heim?“ Eventuell werden die Vorwürfe auch viel schärfer formuliert und es wird dem Betreuer Verantwortungslosigkeit, Gleichgültigkeit und Nichtstun vorgeworfen. Man braucht ein dickes Fell um jetzt einen klaren Kopf zu behalten. Einige Betreuer – meist männlichen Geschlechts – zucken in dieser Situation manchmal nur mit den Schultern und äußern lapidar „Ob jemand ins Heim kommt, ist allein meine Entscheidung“. Ich persönlich bin da (leider?) nicht so zweifelsfrei.
Was ist, wenn der Betreute einen Wasser- oder Feuerschaden anrichtet? Was passiert, wenn der Betreute jeden zweiten Tag wegläuft und von der Polizei aufgegriffen wird? Was geschieht, wenn der Betreute regelmäßig nachts seine Nachbarn aus dem Bett klingelt? Was bedeutet es, wenn der Betreute infolge von Stürzen immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden muß?
Es gibt hier leider keine allgemeingültige Antwort. Ich bin der Meinung, solange es keine unmittelbare Gefahr für Dritte gibt, sollte trotzdem versucht werden, jemanden solange wie möglich in seiner Wohnung bleiben zu lassen. Stürze geschehen auch im Heim und sogar im Krankenhaus, weil auch dort nicht immer jemand in unmittelbarer Nähe ist.
Was ist allerdings, wenn der Betreute zu einer wirklichen Belastung für die Nachbarn wird und dies deren Wohnqualität erheblich einschränkt? Auch ich möchte nicht jede Nacht mehrmals wachgeklingelt werden. Auch ich möchte nicht ständig das beängstigende Gefühl haben, daß der Nachbar eventuell mal irgendeine Katastrophe in seiner Wohnung anrichtet. Meiner Erfahrung nach kann es in einigen Fällen gelingen, Nachbarn von dem Ruf nach einem Heim abzubringen, wenn man sich die Zeit dafür nimmt, die Situation ausführlich mit all ihren Schwierigkeiten zu erklären. Manchmal nützt aber auch dies nichts und man ist auch weiterhin den Vorwürfen der Unverantwortlichkeit und des Nichtstuns ausgeliefert.
Bei der Diskussion um das Thema Heim sollte man sich unbedingt einmal vergegenwärtigen, daß es jede Menge Menschen gibt, die vielleicht schon längst im Heim gelandet wären – wenn sie zur Gruppe der alten Menschen gehören würden. Ich denke hier an diejenigen Menschen, die immer wieder gewalttätig werden und die zwar manchmal (auch nicht immer!) für einige Zeit in Haft kommen, aber denen man noch längst nicht die Wohnung wegnehmen würde. Ich denke an die vielen Jugendlichen, die ganz offensichtlich auch selbstschädigend handeln und die trotzdem nicht ins Heim müssen und die nicht ihr Recht auf eine Jugendwohnung oder Jugendwohngruppe verlieren. Vor diesem Hintergrund wird es dann plötzlich fragwürdig, warum auf der einen Seite ein alter Mensch das Recht auf seine Wohnung verlieren soll, nur weil er die Nachbarn nervt, aber auf der anderen Seite ein gewalttätiger Mensch, der eine reale Gefahr für die Umwelt darstellt, sich unbehelligt ohne jede Einschränkung weiter frei bewegen darf. Ein Jugendlicher, der durch seinen Drogenkonsum unweigerlich dem Abgrund entgegen steuert, ist nicht weniger gefährdet, als ein alter Mensch, der infolge seiner Gebrechlichkeit stürzen könnte.
In der Betreuungsarbeit macht man die traurige Erfahrung, daß einige Menschen nach dem Wechsel in ein Heim ihren Lebenswillen verlieren und manchmal schon kurze Zeit später sterben. Es ist paradox, daß daraus selten ein Vorwurf an den Betreuer gemacht wird, denn der alte Mensch war ja bestens versorgt. Ich habe die Situation zweimal erlebt und obwohl ich von keiner Seite auch nur im geringsten kritisiert wurde, habe ich im nachherein an meiner Entscheidung Zweifel.
Da Menschen sehr unterschiedlich sind, kann auch eine Wohnung einen sehr unterschiedlichen Stellenwert haben. Manche Menschen sind oft umgezogen und verbinden mit ihrer Wohnung nur einen von vielen Orten, der in ihrem Leben eine Rolle gespielt hat. Bei manchen Menschen ist die Wohnung jedoch ein Rückzugsort höchster Wichtigkeit. Die eigene Wohnung ist ein Ort der Autonomie und der Möglichkeit der Selbstgestaltung. Eingerichtet nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen und voll mit Erinnerungen. Hier hat man gelebt, als man noch im Vollbesitz der geistigen und körperlichen Kräfte war. Ein früherer Betreuter von mir drückte sich einmal so aus: „meine Wohnung - das bin ich“. Das entsprach auch den Tatsachen, denn die Wohnung des sehr belesenen und an Kunst und Kultur interessierten Herrn war gestaltet mit vielen, liebevoll ausgesuchten Gegenständen, die Bücherregale quollen über von literarischen Kostbarkeiten. Ich hatte solange gewartet, bis der demenzkranke Betreute von selbst in ein Heim ziehen wollte und ihn auch selbständig die mitzunehmenden Dinge aussuchen lassen. Trotzdem war mit dem Wechsel in ein Heim eine deutliche Veränderung zu beobachten und auch dieser – körperlich nicht kranke – Betreute verstarb bald.
Wenn man einen kranken, gebrechlichen oder verwirrten Menschen das Recht auf den Verbleib in seiner Wohnung gibt, ist von der Umwelt eine Menge Toleranz und Geduld erforderlich. Von Seiten der Betreuer wäre es wiederum erforderlich, dieses Problem mehr an die Öffentlichkeit zu rücken und zu thematisieren. Eine informierte und sensibilisierte Öffentlichkeit wird mehr Verständnis für ihre alten Menschen zeigen – auch wenn diese mal nachts an der Tür klingen.
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