Sonntag, 7. Februar 2016, 18:40h
Meine Betreuten X: Sammeln, Horten, Aufbewahren
Dass die Menschen, die an dem sogenannten Messie-Syndrom leiden, völlig unterschiedliche Persönlichkeiten haben können, habe ich schon in meinem vorherigen Beitrag erwähnt. Während es in dem betreffenden Beitrag um eine Betreute ging, die anderen Menschen gegenüber äußerst feindselig gesinnt war, möchte ich jetzt über eine Betreute schreiben, die bei den meisten Menschen ausgesprochen beliebt war.
Während ich vor Beginn meiner Betreuertätigkeit noch davon ausging, ein Mensch mit Sammelsucht würde sein Sammeln nur auf die eigene Wohnung ausdehnen, so wurde ich durch Frau B. eines Besseren belehrt. Frau B. hatte nicht nur ihre eigene Zweizimmerwohnung bis an die Wohnungsdecke vollgestellt, sondern auch noch drei Garagen, eine weitere Wohnung, eine Gartenlaube und einen Keller. Im Laufe der Betreuung kam dann zutage, dass sie früher auch schon einen Kuhstall als Lager angemietet hatte und außerdem auch schon eine frühere Wohnung wegen Vermüllung geräumt worden war.
Auch bei Frau B. war eine Meldung des Vermieters der Grund für die Einrichtung der rechtlichen Betreuung, da ihre Wohnung renoviert werden sollte und dies aufgrund des sich bis an die Decke türmenden Sammelsuriums nicht möglich war. Frau B. sah es zwar grundsätzlich ein, dass dies dringend geändert werden müsste, aber sie war dennoch unfähig, sich auch nur von einem ihrer Gegenstände zu trennen. In ihren als Lagerstätten genutzten Räumen fanden sich Kuriositäten wie beispielsweise Buttermarken aus dem zweiten Weltkrieg, Päckchen mit Backpulver von Dr. Oetker zum Preis von 5 Pfennig, Kleider aus den Fünfzigern, die jede Besitzerin eines Second-Hand-Ladens in Verzückung gebracht hätten (mich übrigens auch) und unzählige andere Gegenstände, für die heutzutage gar keine Verwendung mehr bestand.
Frau B. hatte inzwischen vom Vermieter eine andere Wohnung erhalten, in die sie noch am Tag der Räumung einziehen sollte und für die sich ein Pflegedienst um die Herrichtung ihrer Räume kümmerte. Frau B. wollte sich aber nicht abhalten lassen, auch selbst bei der Räumung anwesend zu sein und als sie dann in ihrer alten Wohnung inmitten der laufenden Räumung erschien, brach sie schreiend in einen Weinkrampf aus. Abgesehen davon, dass eine Wohnungsräumung immer traumatisch für den Betreffenden ist, bestätigte sich für mich eine Erfahrung, die ich während meiner Betreuungstätigkeit immer wieder machte: die günstigsten Räumungsunternehmen sind oftmals nicht immer die besten. Obwohl ich die ganze Zeit anwesend war und einige Dinge sorgsam aussortiert hatte, landete letztendlich fast alles auf dem Müll. Die Mitarbeiter zeichneten sich durch eine beispiellose Gedankenlosigkeit aus und es war ihnen völlig gleichgültig, dass auf keinen Fall alles weggeworfen werden durfte.
Mir wird immer eine Begebenheit in Erinnerung bleiben, die sehr deutlich macht, dass es für einen unter Sammelsucht leidenden Menschen nichts gibt, für das es nicht doch irgendeine Verwendung geben könnte: Als ich ein gebrauchtes Papiertaschentuch in den Müllsack schmiss, nahm Frau B. es gleich wieder heraus und kommentierte dies mit den Worten: „aber das kann man doch noch verfeuern!“ Mir fiel dabei meine Kindheit ein, in der es auch selbstverständlich war, alles Brennbare in den Ofen zu schmeißen. Ich erinnere mich auch an die Schilderungen meiner Eltern und Großeltern über deren Kindheit, in denen es oftmals eisig kalte Winter gab, in denen es die Aufgabe der Kinder war, überall nach irgendetwas Brennbaren zu suchen. Frau B. gehörte dem Jahrgang 1912 an und gehörte somit zu der Kriegsgeneration, der die Erfahrungen dieses Entbehrens immer noch tief in den Knochen steckt. Zeiten des Hungerns und Frierens, in denen es an allem fehlte. Damals war es unerlässlich, jeden Gegenstand genauestens auf seine Verwertbarkeit zu prüfen. Kann man ein Kleidungsstück noch irgendwie reparieren oder daraus ein anderes für die Kinder machen? Hat ein Gegenstand noch irgendeinen Tauschwert auf dem Schwarzmarkt? Gibt es an einem verschimmelten Brot vielleicht doch noch eine Ecke, die man essen kann?
Wie endete die Geschichte von Frau B.? Frau B. wurde in ihrer neuen Wohnung niemals wirklich heimisch. Obwohl sie körperlich gebrechlicher wurde und auf Hilfe angewiesen war, kam sie nicht mit der Situation zurecht, in ihrer Wohnung von einem Pflegedienst aufgesucht und betreut zu werden. Sie äußerte schließlich von sich aus, lieber in ein Heim ziehen zu wollen, was ich dann auch veranlasste. Frau B. gewöhnte sich im Heim bemerkenswert schnell ein. Ich beauftragte einen Besuchsdienst, mit dem Frau B. auch sehr gut zurechtkam.
Als ihr 90. Geburtstag anstand, informierte unsere darüber Lokalzeitung, die dann ein kleines Interview mit ihr machte, in dem sie ein wenig über ihr Leben erzählte. Aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft in der SPD war sie auch vielen Menschen des Bezirks bekannt, von denen manche sie liebevoll „Tante Klärchen“ nannten. Zu der Feier, die ich beim Heim veranlasst hatte, kamen dann auch einige ihrer Bekannten, was bei vielen Heimbewohnern leider längst nicht selbstverständlich ist.
Ich habe mich immer wieder darüber gewundert, dass Frau B. im Heim nicht wieder mit dem Sammeln anfing. Vielleicht lag es daran, dass im Heim andere für sie sorgten und nicht mehr sie selbst für alles verantwortlich war. Typisch für Frau B. war auch, dass sie mir irgendwann die Räumung ihrer Wohnung verzieh. Ich erinnere mich noch an ihre Worte „Sie können ja auch nicht dafür, dass Sie diese Aufgabe hatten.“
Im Alter von 91 Jahren schlief Frau B. dann friedlich in Gegenwart ihres Besuchsdienstes ein. In meiner Betreuertätigkeit ging ich nur in Ausnahmefällen zu der Beerdigung verstorbener Betreuter. Frau B. war so eine Ausnahme.
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