Donnerstag, 10. März 2016, 18:51h

Wenn auf einmal alles völlig anders gesehen wird – weil man plötzlich selbst betroffen ist. Und ein Zitat von Hannah Arendt

behrens

Es erstaunt mich immer wieder, zu welch enormen Meinungswechsel Menschen fähig sind, wenn sie von Dingen, die sie zuvor nur vom Hörensagen kannten, irgendwann selbst betroffen sind.

Ich hatte hier ja schon einige Male erwähnt, dass ich vor meiner Selbständigkeit als rechtliche Betreuerin zwei Jahre in einem Betreuungsverein beschäftigt war, der nach sieben Jahren von behördlicher Seite aufgrund äußerst fragwürdiger Arbeitsweisen geschlossen wurde. In der lokalen Presse und der Öffentlichkeit löste es damals relativ viel Empörung aus, dass die Geschäftsführer eines gemeinnützigen Vereins ihre Arbeit für den privaten Profit missbrauchten. Zu denjenigen, die diese Reaktion überhaupt nicht verstanden, gehörte ausgerechnet auch einer meiner Bekannten, der die von mir geteilte Empörung als völlig übertrieben und unangemessen abwertete und sich außerdem jegliche Diskussion darüber verbat. Eben jener Bekannte nahm vor einigen Jahren bei einem der früheren Geschäftsführer eine Arbeit auf, denn besagter Geschäftsführer hatte sich nach der Schließung des Betreuungsvereins sofort wieder selbständig gemacht – diesmal mit einem sogenannten „Betreuungsservice“, bei dem mein Bekannter nun angestellt war. Vor kurzem hörte ich nun, dass mein Bekannter sich mit Geschäftsführer überworfen und eine neue Stelle gesucht hatte. Was war passiert? Nun, der Geschäftsführer stand mit Gehaltszahlungen im Rückstand und außerdem stellte sich heraus, dass er seit längerem im Rahmen von Lohnzahlungen weiterzuleitende Gelder einfach für sich selbst einbehalten hatte. Letzteres ist juristisch übrigens eindeutig als Betrug zu werten. Während mein Bekannter mir zuvor Kleinlichkeit und Unangemessenheit in der Reaktion auf die Vorkommnisse vorwarf, sah er dies jetzt in eigener Sache ganz anders und ging direkt zur Polizei um eine Strafanzeige zu stellen.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass meine Empörung während meiner damaligen Arbeit im Betreuungsverein in erster Linie nicht auf dem Umstand beruhte, selbst um einen Teils meines Lohns betrogen worden zu sein (denn auch mir ist dies genauso wie meinem Bekannten wiederfahren), sondern auf den Betrug an den Betreuten, die sich in einer wesentlich abhängigeren Position als ich befanden und die sich aufgrund ihrer Hilfsbedürftigkeit gar nicht wehren konnten.

In meinem damaligen Kollegenkreis fiel die Reaktion übrigens ähnlich aus wie die meines Bekannten und ich erntete Unverständnis und Vorwürfe für meine Kritik, wobei immer wieder darauf hingewiesen wurde, wie „rufschädigend“ diese doch sei. Keine Spur von Mitgefühl für die betrogenen Betreuten, keine Spur von Empörung über das schamlose Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen.

Wieso gelten bei eigener Betroffenheit plötzlich völlig andere Maßstäbe? Wieso wird alles zuvor vehement Vertretene plötzlich verworfen? Ganz einfach: weil eine Schweinerei anscheinend erst dann zur Schweinerei wird, wenn die eigene Person davon betroffen ist.

Gestern gab es eine sehr ausführliche Dokumentation über die Philosophin Hannah Arendt. Eine ihrer Erkenntnisse lautet, dass manche Menschen in der Lage sind, die Situation und das Leid anderer voll und ganz auszublenden. Sie spricht in dabei von einem „denkbar zuverlässigstem Schutzwall gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst“. Das traurige Resümee dieser äußerst zutreffenden Aussage ist: der Schutzwall verliert seine Zuverlässigkeit erst dann, wenn die Situation der anderen plötzlich zu eignen wird.

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