Dienstag, 15. April 2014, 14:33h
Eine schwere Entscheidung und der Versuch des Optimismus
Seitdem mein Stiefvater im Jahr 2005 einen schweren Schlaganfall erlitt, kümmere ich mich um die Regelung seiner Angelegenheiten. Ganz bewusst habe ich dies nicht im Rahmen einer rechtlichen Betreuung getan, sondern über die Erteilung einer Vollmacht. Ich hatte mir vorgenommen, dies auch beizubehalten. Allerdings ist es nicht so einfach, Angelegenheiten für einen Familienangehörigen zu regeln, wenn derjenige relativ weit weg wohnt. Und die Sorge für einen Angehörigen wird ebenfalls erschwert durch den Umstand, dass jemand infolge von Pflegebedürftigkeit nur über ein Existenzminimum verfügt. Ob Angehöriger oder rechtlich Betreuter – das Leben an der Armutsgrenze erfordert es, jeden Cent dreimal umzudrehen. Jede unerwartete Ausgabe erfordert eine Neuberechnung des zu Verfügung stehenden Etats.
Schweren Herzens habe ich mich jetzt dazu durchgerungen, für meinen Stiefvater eine Betreuung zu beantragen. Neben der örtlichen Ferne spielen dabei auch gesundheitliche Gründe eine Rolle, außerdem gehört mein Stiefvater auch nicht zu den Menschen, die im Umgang immer einfach sind. Vor seinem Schlaganfall hatte ich eigentlich überhaupt keinen Kontakt zu ihm, aber da sein Sohn sowie alle anderen Familienmitglieder es ablehnen, sich um ihn zu kümmern, übernahm notgedrungen ich diese Aufgabe.
Auch wenn es gute Gründe für meine Entscheidung zur Beantragung einer Betreuung gibt, so kommt es mir dennoch wie ein Verrat vor. Mir klingt immer noch der Satz eines Kollegen im Ohr, der auf meine Aussage, dass mein Stiefvater nicht ins Pflegeheim möchte, weil er nach einem arbeitsreichem Leben nicht mit dem Taschengeldsatz von ca. 100,00 € leben will, antwortete: „Das ist dieses Anspruchsdenken, das unsere Gesellschaft kaputt macht“. Wie kann man beruhigt eine Betreuung für einen Angehörigen beantragen, solange es Betreuer gibt, die eine derartig verächtliche und ignorante Einstellung gegenüber schwerkranken Menschen haben, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben?
Letztendlich war es mein eigener Arzt, der mich davon überzeugt hat, dass man sich immer wieder vergegenwärtigen muss, dass nicht jeder Betreuer eine derartige Ansicht vertritt. Nur eine Minderheit unter den Betreuern tätigt Insichgeschäfte und längst nicht alle Betreuer wollen mehr als vierzig Betreuungen führen. Mein Arzt arbeitet auch als Gutachter in Betreuungsverfahren und steht der Praxis des Betreuungsgesetzes nicht unkritisch gegenüber. Seiner Meinung nach hält sich die Zahl derjenigen Betreuer, die ihre Betreuungen vorschriftsmäßig führen die Waage mit denjenigen, bei denen dies nicht der Fall ist. Dies ist übrigens auch die Ansicht des für meinen Stiefvater zuständigen Mitarbeiter des Sozialamts, den ich nach seiner Erfahrung mit den ortsansässigen Betreuern fragte. Mit anderen Worten – es muss nicht der Fall eintreten, dass mein Stiefvater einen Betreuer erhält, dem unseriöse Praktiken nachgesagt werden.
Ich versuche also optimistisch zu sein, was mir allerdings nicht immer leicht fällt. Ich wäre wesentlich beruhigter, wenn ich wüsste, dass es einen Konsens unter Betreuern geben würde, demzufolge bestimmte Praktiken und Haltungen scharf verurteilt würden. Ich erinnere mich noch gut an die Kollegin, die mir bitterste Vorwürfe wegen meines Interviews machte, weil ihrer Meinung nach Kritikpunkte auf keinen Fall öffentlich angesprochen werden dürfen und die damit argumentierte, dass sich die Betreuten ja beschweren könnten. Dies trifft auf meinen Stiefvater – wie auf sehr viele andere auch – definitiv nicht zu. Er wäre weder in der Lage, einen Beschwerdebrief zu schreiben, noch könnte er das Gericht persönlich aufsuchen und sich adäquat ausdrücken. Außerdem stellt es ein Paradox dar, dass jemand, der einerseits anerkannterweise nicht in der Lage ist, sich ausreichend selbst für seine Rechte einzusetzen, die Fähigkeit zugesprochen wird, sich gegen denjenigen, der ihn vertreten soll, zur Wehr zu setzen.
Aber vielleicht ändert sich ja auch irgendwann einmal die Einstellung der Betreuer gegenüber dem Umgang mit Kritik. Vielleicht wird es sogar irgendwann so etwas wie Beschwerdemanagement oder einen runden Tisch mit Vertretern aller Seiten geben. Und vielleicht passiert dies sogar noch zu Lebzeiten meines Stiefvaters. Ich würde dann auf jeden Fall ruhiger schlafen können.
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