Sonntag, 22. Dezember 2013, 23:06h
Eine Fehlentscheidung, die ein Menschenleben kostete.
So frage ich dich Gott, was war mein Leben,
als dass ich schrie und nach dem Tode frug.
Und niemand hat mir seine Hand gegeben,
bis man mich auf der anderen Hände trug.
Johannes, Patient aus einer psychiatrischen Abteilung
Es liegt schon einige Jahre zurück, als ich mit einem besonders erschütternden Suizid konfrontiert wurde. Es handelte sich nicht um einen meiner Betreuten, sondern um die Freundin eines Betreuten meines Kollegen, die sich auf sehr grausame Weise das Leben genommen hatte. Die Freundin war genau wie der Betreute psychisch krank und litt seit einiger Zeit verstärkt an Ängsten und Depressionen. Als dieser Zustand für sie nicht mehr erträglich war, suchte sie ihren Psychiater auf und bat ihn, sie in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Obwohl es ihr sehr schlecht ging und sie nicht zu den Menschen gehörte, die oft andere um Hilfe bitten, verweigerte ihr Arzt ihr ihren Wunsch nach einer Einweisung. Einige Zeit später ging sie in den Keller, übergoss sich mit Benzin und zündete sich an.
Der Betreute erzählte, dass seine Freundin eher zu den schüchternen und zurückhaltenden Menschen gehörte und es sie daher eine große Überwindung gekostet hatte, den Arzt um Hilfe zu bitten. Und er verstand überhaupt nicht – und genauso geht es mir auch – wieso so jemanden in so einer verzweifelten Situation diese Bitte verweigert wurde.
Als ich den Namen es Psychiaters Dr. V. erfuhr, war ich merkwürdig berührt, denn auch ich hatte schon einmal sehr unschöne Erfahrungen mit ihm gemacht. Das war in der Zeit, als ich in der Betreuungsstelle für Langzeitarbeitslose arbeitete und mir ein Klient erzählte, wie schlecht es ihm ging und wie er sich nach dem Tod sehnen würde. Ich sagte ihm, dass ich ihm im Rahmen meiner Stelle nicht weiterhelfen könne und ob es für ihn vorstellbar wäre, eine Therapie zu machen. Dies erzählte er dann seinem Arzt – eben jenem Dr. V. Als ich Dr. V. anrief, um mit ihm über meine Sorge in Bezug auf den Klienten zu sprechen, erhielt ich ein Donnerwetter: „Wie kommen Sie auf die Idee, dass so jemand eine Therapie machen sollte, dazu ist der überhaupt nicht in der Lage“. Und mir fuhr der Schreck in die Glieder, als mir Dr. V. eröffnete, dass er gedenke, sich bei der Krankenkasse über mich zu beschweren.
Ich war Anfang der 90er Jahre noch Berufsanfängerin und hatte sofort das Gefühl, einen riesigen Fehler gemacht zu haben. Allerdings fiel mir kurze Zeit später ein Seminar aus meinem Studium ein, in dem das Thema Suizid ausführlich behandelt worden war und ich erinnerte mich an die Regel der Suizidprophylaxe, dass es keine Kontraindikationen für eine Therapie im Falle von Suizidgefährdung gäbe. Ob Psychose, Demenz oder akute Krise – wer bei suizidalen Gedanken HIlfe benötigt, muss sie auch erhalten. Das beruhigte mich ein wenig.
Während der Fall der Freundin des Betreuten ein so tragisches Ende nahm, war dies bei meinem Klienten glücklicherweise nicht der Fall, denn zu den damaligen Zeiten gab es noch eine weitgefächerte ABM-Szene und dabei sogar die Möglichkeit, in schwierigen Fällen einen Arbeitsplatz maßzuschneidern. So kam es, dass der Klient, der ein ausgesprochener Literaturfan war, in einem Kulturprojekt die Möglichkeit erhielt, eine Arbeit über die Literatur des Stadtteils anzufertigen, was für ihn genau das Richtige war.
Aber zurück zu der Freundin des Betreuten, die um Hilfe bat und der tragischerweise diese Hilfe ärztlicherseits verweigert wurde. Einmal mehr wird dabei deutlich, wie sehr jemand trotz Suizidgedanken noch am Leben hängen kann. Dem Mythos von der angeblich so freien Entscheidung zum Tod steht die Realität entgegen, in der deutlich wird, wie verzweifelt jemand mit dieser Entscheidung ringt und wie groß die Sehnsucht nach Hilfe ist.
Hatte der Suizid eigentlich Konsequenzen für Dr. V.? Natürlich nicht, denn es erfuhr ja niemand von dem vorherigem Arztbesuch. Der Freund litt ebenfalls an einer psychischen Erkrankung, so dass seine Aussage nur bedingt ernst genommen worden wäre. Und abgesehen davon ist es immer ein mühsamer Weg, einen Zusammenhang zwischen Hilfeverweigerung und Suizid nachzuweisen. Meist wird in ähnlichen Fällen lakonisch darauf hingewiesen, dass sich der Betreffende ja vielleicht auch trotz des gewünschten Klinikaufenthalts umgebracht hätte. Bleiben noch mein Kollege und ich. Und wir haben – und dafür schäme zumindest ich mich immer noch – keine Schritte zur Untersuchung des Falles eingeleitet.
Ich bin froh, dass Dr. V. schon seit einiger Zeit in Rente ist und kein Unheil mehr anrichten kann.
Und ich bin froh über den oben aufgeführten kleinen Vierzeiler, der mir von einem Psychiatriepatienten aufgeschrieben wurde. Dabei geht mir insbesondere der Satz unter die Haut „Und niemand hat mir seine Hand gegeben“. Jemand, der es wissen muss, bringt damit klar und unmissverständlich zum Ausdruck, worum es in der Arbeit mit Menschen geht: Menschlichkeit!
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z.B. Dr. phil Josef Mengele und andere medizinische
und juristische Vollakademiker unter den Augen des
"gesunden Menschenverstandes" bewiesen.
Warum
werden Typen wie Dr. V. nicht vor der Rente entfernt?
Wieso
ist deren Rente höher als die Grundsicherung?
Welche
"gesellschaftlichen" Umstände tragen zur Erzeugung
von Psychosen und Suiziden bei?
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Obwohl die im Beitrag geschilderte Tragödie nun schon mehrere Jahre zurückliegt, bekomme ich immer noch Bauchschmerzen, wenn ich daran denke. Wie dreckig muss es jemandem gehen, der sich auf so brutale Weise das Leben nimmt?
Ich wünsche mir in Bezug auf eine neue Arbeit nichts Sehnlicheres als Kollegen, für die es selbstverständlich ist, nicht schweigend zuzusehen, wenn Menschen ihre Macht missbrauchen.
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