Mittwoch, 21. November 2012, 00:55h

Marie de Hennezel „Den Tod erleben“

behrens

Vor kurzem habe ich zum zweiten Mal das Buch der Französin Marie de Hennezel „Den Tod erleben“ gelesen, das von der Arbeit auf einer französischen Palliativstation handelt.

Ich habe ein sehr persönliches Verhältnis zu diesem Buch, denn mir wurde es vor 16 Jahren in Frankreich von der Mutter eines todkranken Bekannten geschenkt. Bei dem Bekannten handelte es sich um den Freund meines Freundes, der im Alter von 35 Jahren an Aids verstarb. Als der Freund schwer erkrankte und gepflegt werden musste, lebte ich gerade in Frankreich und da ich nicht arbeitete, besuchte ich Eric mehrmals die Woche und freundete mich dabei mit seiner Mutter an. Fast noch schwerer als das Miterleben des Sterbens eines Menschen ist es, die Verzweiflung eines Angehörigen mitzuerleben.

Erics Mutter schenkte mir das Buch Marie de Hennezels, weil sie es in ihrer schweren Situation als sehr hilfreich und tröstend empfand. Ich hatte zwar so meine Schwierigkeiten mit dem Buch, da mein Französisch nicht perfekt ist, aber das Meiste konnte ich verstehen. Eine junge Hospizmitarbeitern, die Eric regelmäßig besuchte, sagte, dass sie bei Lesen des Buches oft weinen musste. Und jetzt habe ich mir also die deutsche Fassung des Buches besorgt und es nochmals gelesen. Es sind tief bewegende Schilderungen der einzelnen individuellen Schicksale der Todkranken. Man kann die ungefähr zwanzig verschiedenen Schicksale hier nicht zusammenfassen. Was alle vereint, ist jedoch die enorme Empathie, die von Seiten der Hospizmitarbeiter entgegengebracht wird. Dieses immer ganz individuelle Eingehen auf die vielen völlig unterschiedlichen Lebensgeschichten.

Gestern sah ich eine Diskussion zum Thema Sterbehilfe, bei der sich die Positionen der Befürworter und der Gegner sehr unversöhnlich gegenüberstanden. Ein Kapuzinermönch wurde fast schon ausfallend gegenüber einem Ehemann, der dem Todeswunsch seiner Frau zugestimmt hatte. Außerdem Argumente wie „Man müsse den Todkranken helfen, wieder zu seiner Kraftquelle zu finden oder ““Sterbehilfe ist die Bankrotterklärung der menschlichen Beziehungen“. Auf der anderen Seite ein Arzt, der durch die Lande reist und Menschen mit Todeswunsch beim Suizid hilft und dafür kämpft, dass dies nicht mehr strafrechtlich verfolgt wird. Was mir bei beiden Positionen fehlt, ist der Respekt vor der Individualität des Menschen. Man wird schwerlich einem todkranken Menschen zu seiner Kraftquelle verhelfen können, wenn dieser an die Existenz einer solchen Kraftquelle schlichtweg nicht glaubt. Und man wird einem Sterbewilligen nicht gerecht, wenn man nicht alles versucht, um demjenigen ein Höchstmaß an seelischem Beistand zu geben. Es spricht für sich, dass die Suizidrate in Palliativstationen die kleinste überhaupt ist. Offensichtlich vermag es die große individuelle menschliche Zuwendung, dem Menschen seine Qual und seine Angst vor dem Tod zu nehmen.

Ich möchte hier eine Stelle aus dem Buch Marie de Hennezels zitieren, in der es um die Situation geht, in der ein schwerkranker naher Freund von ihr Beistand erbat, für den Fall, dass er sich zu einem Suizid entschließen sollte: „Ich verlange nicht, dass man mir hilft, Selbstmord zu begehen. Ich brauche keinen Mittäter und will auch nicht, dass man meine Tat gutheißt. Ich frage mich nur, warum es nicht möglich sein soll, dass jemand als stiller Zeuge an meiner Seite ist, damit ich nicht alleine bin. Jemand, der einfach nur in meiner Nähe wäre, ohne etwas für mich tun zu müssen; der nicht versuchen würde, mich von meiner Entscheidung abzuhalten; der mir keine alternativen Perspektiven für die Zukunft vorschlagen würde. Jemand, der einfach nur da ist, damit ich nicht allein sterben muss.

Bei der Antwort, die ihm Marie de Hennezel daraufhin gab, muss man sich vor Augen halten, dass sie sich voll und ganz für Sterbebegleitung engagiert und nicht für Sterbehilfe. „In dem Chaos der Gefühle und Gedanken, das diese ungewöhnliche Bitte in mir auslöste, erahnte ich, welche menschliche Größe jenem tatenlosen Zeugen abverlangt werden würde. Man müsste sich von allem lösen, um ihn – bei diesem für mich absurden Akt – zu begleiten. Es war aber seine Vorstellung von einem würdevollen Tod. Ich war bestürzt und sagte ja. Ja, da du mich darum bittest. Obwohl ich das, was du vorhast, absolut missbillige, werde ich da sein, damit du nicht allein bist und bis zum Ende weißt, dass du geliebt wirst.

Ich glaube, dass sich jemand sehr glücklich schätzen kann, mit so jemanden befreundet zu sein. Ein Mensch, der mit ganzem Herzblut die sehr schwierige Aufgabe der Sterbehilfe erfüllt und der trotzdem bereit wäre, gegen seine Überzeugung diesen Liebesdienst – und anders kann ich diese Hilfeleistung nicht nennen – zu übernehmen. Und es berührt, dass der schwerkranke Freund schon einige Zeit später nicht mehr von einem Suizid sprach, sondern sagte, dass allein die Vorstellung, eine Freundin zu haben, die ihn in seinem Todeswunsch nicht allein lassen würde, die Angst vorm Sterben genommen hätte.

Und das ist es, was jenseits von ideologisch verhärteten Standpunkten den Respekt vor der menschlichen Individualität ausmacht. Der kompromisslose Einsatz für das Leben des Anderen, der trotzdem oder gerade deswegen die Sterbehilfe nicht ausschließt. Allerdings nur als Ultima Ratio und nicht als von vorneherein beliebig stehende Option. Man darf einen Menschen, der nicht den Mut hat, ein qualvolles Sterben auf sich zu nehmen, nicht allein lassen. Aber das Nichtalleinlassen darf nicht erst bei dem Sterbewunsch eintreten, sondern jeder Mensch muss diese Zuwendung schon zuvor erfahren. Dann – und nur dann – kann man wirklich von einer freien Wahl sprechen.

Und wie schon einmal schließe ich mit Rilke: „O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod“.

... comment

 
Das ist ein sehr heikles Thema. Was mich an der Haltung vieler Sterbehilfe-Gegner sehr stört ist die Art, jemanden, der sterben möchte zu behandeln wie einen Unzurechnungsfähigen, der einfach nicht weiß, wie schön das Leben wirklich ist, undankbar ist oder gar geistesgestört.

Ich glaube, ich habe anderswo bei Dir schon mal geschrieben, wie es war, als unser Freund, ein Engländer, der in den Niederlanden lebte, starb. Er hatte Krebs im Endstadium, als ihm dort auf legale Weise Sterbehilfe gewährt wurde. Oft wird argumentiert, bei angemessener Schmerztherapie sei das Leben für die Betreffenden wieder lebenswerter, sie könnten dann die Zeit, die ihnen bleibt, noch mehr schätzen. Da möchte ich aus unseren Erfahrungen mit diesem Freund gern etwas entgegensetzen: Nicht allein der Schmerz ist es, der Sterbenden zu schaffen macht. Es ist auch die zunehmende Abhängigkeit von der Hilfe anderer und die subjektiv empfundene Würde- und Hilflosigkeit (die bei aller Zuwendung durch andere immer noch bestehen kann). Es hängt sehr vom Selbstbild des Sterbenden ab, wie er damit umgehen kann. Unser Freund war immer sehr stolz auf seinen brilliant funktionierenden Geist und Witz. So eine Morphinpumpe kann ein Segen sein, und dennoch hat ihm die Droge so sehr den Kopf vernebelt, dass er darüber sehr unglücklich war und zeitweise darüber sprach, zugunsten eines klaren Verstandes darauf lieber verzichten zu wollen. Es machte ihm auch sehr zu schaffen, dass er sich ständig übergeben musste, dass er während unserer Gespräche ständig einschlief, dass seine Hände zitterten.

Ob das Leben lebenswert ist, beurteilt am Ende nur der Sterbende selbst. Ich finde, er hat das Recht darauf, zu definieren, was ihm wichtig ist. Für unseren Engländer hatte die Wahrung der Contenance und Würde einen höheren Stellenwert als ein paar Tage mehr im Dämmerzustand, und ich verstehe das sehr gut. Entsprechend hat er sich entschieden, und ich habe noch niemals so viel Haltung angesichts des nahenden Todes gesehen wie bei diesem Mann.

Es ist eine Anmaßung, alle Sterbenden über einen Kamm zu scheren. Es gibt solche und solche. Manchmal beschleicht mich die Vermutung, dass radikale Sterbehilfegegner (neben allen ethischen Bedenken, die durchaus zu Recht im Raum stehen) mit ihrer eigenen Angst vor dem Tod nicht zurechtkommen. Solchen Menschen haben Sterbende, die sich Hilfe wünschen, eine Menge voraus.

... link  

 
Was bleibt, ist Angst
Das Heikle an dem Thema Tod ist der Umstand, dass jeder immer von sich selbst ausgeht. Deswegen hat mich die Haltung Marie de Hennezels so berührt. Sie lehnt die Sterbehilfe ab, aber würde ihrem Freund dennoch seinen Wunsch nach Sterbehilfe erfüllen. Wir hatten ja schon einmal hier über dieses Thema diskutiert und damals war mir nicht klar, warum jemand eigentlich Hilfe für einen Suizid erwartet. Jemand, der einfach nur in meiner Nähe wäre, ohne etwas für mich tun zu müssen. - dieser Ausspruch gibt eine Ahnung davon, warum jemand beim Sterben Hilfe erbittet.

Mich hat in der Sendung (ich glaube es war „Hart aber fair“) die rigorose Haltung des Kapuzinermönchs sehr gestört. „Dass ihre Frau den Freitod wählte, zeigt, dass Sie es ihr nicht wert waren, weiter zu leben“. Die Theorie, dass es grundsätzlich immer eine Bankrotterklärung der menschlichen Beziehungen ist, wenn sich jemand das Leben nimmt, ist falsch. Auch die beste und tiefste menschliche Beziehung ist manchmal machtlos gegen die Unerträglichkeit von Leiden.

Mein Kollege befand sich vor kurzem in der Situation, dass ein Betreuter ins mit Hirntod verbundene Koma fiel und es wurde die Frage gestellt, ob die Geräte abgestellt werden dürfen. Mein Kollege fuhr daraufhin in die Klinik und gab sein Einverständnis dafür. Zuvor verabschiedete er sich von seinem Betreuten. Ich kann Dir aber wirklich mit großer Sicherheit sagen, dass die meisten Betreuer sich diese Mühe nicht machen und diese höchst existentielle Entscheidung vom Schreibtisch aus fällen.

Mir machen rigorose Sterbehilfegegner Angst. Aber Menschen, die existentielle Entscheidungen in wenigen Minuten fällen, machen mir ebenso Angst. Ich habe in den letzten Jahren ein so beängstigendes Ausmaß eines auf das rein Geschäftsmäßige reduzierten Umgangs mit dem menschlichen Leid erlebt, dass mir Angst und Bange davor wird, wie es mir selbst einmal ergehen wird. Ich habe zwar eine Patientenverfügung verfasst und auch entsprechende Absprachen mit meinem Freund getroffen, aber eine Garantie ist das nicht.

Was bleibt, ist Angst vor dem Ausgeliefertsein an Leute, deren Umgang mit Menschen eine reine Katastrophe ist und die völlig fehl am Platz sind, wenn es um existentielle Entscheidungen geht. Genauso viel Angst machen mir all diejenigen, die zwar so ein Verhalten auch nicht gutheißen, aber in erbärmlicher Feigheit einfach wegsehen. Da nützt das Argument „ Es sind ja nicht alle so“ wenig, denn ich möchte nicht Lotterie spielen, sondern mich sicher wägen, wenn es um eine menschenwürdige Behandlung geht.

... link  


... comment