Sonntag, 29. Juli 2012, 15:31h

Was machen Menschen, die krank sind und wenig Geld haben, wenn sie dringend zum Arzt müssen?

behrens

Was passiert, wenn jemand dringend zum Arzt muss? Nun, wenn man noch gehen kann, setzt man sich in die Bahn, ins Auto oder aufs Fahrrad oder geht vielleicht auch zu Fuß zur Arztpraxis. Was ist, wenn man so krank oder so gehbehindert ist, dass man den Weg nicht mehr allein schafft? Dann bittet man Verwandte oder Bekannte um die Fahrt zum Arzt oder man nimmt sich ein Taxi. Hierfür muss man allerdings Verwandte und Bekannte oder aber Geld haben. Was passiert aber, wenn man weder über das Eine noch über das Andere verfügt? Dann wird es sehr, sehr schwierig.

Zeitgleich mit der Hartz-IV-Reform wurde auch bei den Krankenkassen so einiges geändert. Früher war es in der Regel möglich, sich die sogenannte Krankentransportverordnung vom behandelnden Arzt auch noch nach der Inanspruchnahme eines Taxis austellen zu lassen und sich dann den bereits gezahlten Betrag von der Kasse erstatten zu lassen. Das ist jetzt anders, man muss vorab eine Krankentransportbescheinigung vom Arzt einholen, die dann gemeinsam mit einem Antrag auf Kostenübernahme zur Krankenkasse geschickt wird. Erst wenn der Antrag bewilligt ist, darf man den Arzt aufsuchen.

Man merkt, dass hier eine logische Lücke besteht. Denn um den Arzt um eine Verordnung zu bitten, muss man ja erstmal in seine Praxis kommen. Eventuell könnte man sich die Verordnung ja auch zuschicken lassen, wobei man anmerken muss, dass Arztpraxen generell äußerst ungern in Briefmarken investieren und dazu auffordern, sich die Verordnung zu holen. Nun gut, man könnte auch Geld hinterlegen für die Zusendung, was ich selbst übrigens auch für das Zusenden eines Rezepts so handhabe, weil ich für ein Rezept nicht extra in die Praxis gehen will. Allerdings braucht man auch hier 1 – 2 Tage für den Postweg, der sich wiederum um weitere 2 – 4 Tage für die Zusendung an die Krankenkasse plus Rücksendung verlängert. Bei akuter Erkrankung, die mit einem schnellen Behandlungsbedarf verbunden ist, fällt dies also weg.

Bleibt also nur das Selbstzahlen. Nicht ganz einfach für einen Hartz-IV-Empfänger oder für jemanden mit einer Minirente. Erst recht, wenn nicht ein Taxi sondern ein Krankenwagen benötigt wird, was dann der Fall ist, wenn jemand Rollstuhlfahrer ist und die Arztpraxis über keinen Fahrstuhl verfügt, so dass der Patient hochgetragen werden muss. Dies kostet dann mindestens 75,00 €, also rund 20 Prozent des Hartz-IV-Regelsatzes.

Als Betreuerin habe ich den Vorteil, dass ich über ein Faxgerät verfüge und mir sowohl die erforderliche ärztliche Verordnung zufaxen lasse, als auch den Antrag an die Krankenkasse per Fax weiterleite, die mir dann die Bewilligung ebenfalls zufaxt. Dann bleibt allerdings immer noch die Weiterleitung an das Krankentransport- oder Taxiunternehmen. Und es bleiben noch die Wartezeiten. Arztpraxen haben keine Anrufbeantworter, so dass ich die Sprechzeiten abwarten muss.

Wie gestaltet sich dieser enorme Arbeitsaufwand für Menschen, die keinen Betreuer haben? Oder für Familienmitglieder, die sich um ihre kranken Angehörigen kümmern? Ich selbst kümmere mich um meinen Stiefvater, der nicht in unmittelbarer Nähe wohnt. Und letzte Woche musste er (Rollstuhlfahrer, Pflegefall) dringend zum Hautarzt. Nachdem ich damit scheiterte, eine Hautarztpraxis mit Fahrstuhl (flächendeckende medizinische Versorgung ist ein anderes ebenso interessantes Thema!) zu finden, musste ich also die schon eingeholte Verordnung für einen Taxischein nochmals umschreiben lassen. Die habe ich dann sehr spät noch an die Krankenkasse geschickt in dem Glauben, dass mein Antrag mit dem Vermerk „Eilt“ auch umgehend beantwortet wird. Das war aber nicht der Fall, ich musste nochmals telefonisch nachhaken.

Ich habe übrigens meinen Eltern aufgrund der hier geschilderten Widrigkeiten ein Faxgerät geschenkt. Allerdings ist mein Stiefvater nicht in der Lage, das Gerät auch zu bedienen, was auch tatsächlich nicht so einfach ist, weil eigentlich die Anschlussbuchse von der Telekom geändert werden müsste. Hiervon haben wir bisher abgesehen, da die Zusammenarbeit mit der Telekom (auch das ist ein weiteres ebenso interessantes Thema!) ihre Tücken hat.

Ich habe eine Mitarbeiterin des für meinen Stiefvater zuständigen Pflegedienstes gefragt, wie denn die anderen Patienten das Problem der Fahrt zum Arzt lösen. Die Antwort war, dass die meisten resignieren und letztendlich die 75,00 € für den Krankentransport zahlen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine akute Erkrankung eine schnelle Behandlung erfordert. Und es ist kaum nachvollziehbar, dass hierfür ein Vorlauf gefordert wird, der kaum zu bewältigen ist. Und man kann sich ausmalen, dass wahrscheinlich so manche Versorgungslücken entstehen, weil die Menschen mit diesem immensen Antragsaufwand überfordert sind.

Im Falle meines Stiefvaters hat mich das ganze Prozedere gut zwei Stunden Zeit gekostet. Anschließend war ich so entnervt, dass dies auch noch einen Streit mit meinem Freund auslöste, der mir sagte: „Warum beantragst du nicht endlich eine Betreuung für deinen Stiefvater?“ Ja, warum eigentlich nicht? Ein Betreuer vor Ort hätte es wahrscheinlich mit manchem leichter. Aber da taucht dann wieder jener besagte Satz vor meinem geistigen Ohr auf, der mir von einem Kollegen entgegnet wurde, als ich erwähnte, dass mein Stiefvater nicht ins Heim möchte, weil er nach 47 Jahren harter Arbeit nicht von 95,00 € Taschengeld leben will:Das ist dieses Anspruchsdenken, das unsere Gesellschaft kaputt macht!“.

Nein, ich bringe es nicht über’s Herz, jemanden in die Hände von Menschen mit so einer Einstellung zu geben. Sicher, es sind natürlich längst nicht alle Betreuer so. Aber ich will mit der Lebensqualität meines Stiefvaters nicht Lotterie spielen…

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Schleichende Euthanasie
"...Wie gestaltet sich dieser enorme Arbeitsaufwand für Menschen, die keinen Betreuer haben? Oder für Familienmitglieder, die sich um ihre kranken Angehörigen kümmern?..."

Der Aufwand gestaltet sich katastrophal.
Der Störfaktor im Gesundheitswesen war,
ist und bleibt der Patient.

Geldmangel wird im vorhandenen
Gesundheits- und Pflegesystem eindeutig
als tödliche Krankheit interpretiert.

Hier gibt es eine erbarmungslose Ersatzkasse,
die zwar bei der Dialysebehandlung die "freie"
Wahl einer von drei zum Wohnsitz nächstgelege-
nen Dialsysestationen läßt, jedoch die Fahrt-
kosten lediglich zur absolut nächstgelegenen
finanziert.

Der Patient, der zu seiner von diesen drei
bevorzugten Dialysestationen möchte, muss
im Zweifel entweder dorthin kriechen, oder
einen Fahren lassen.

Bei einem derartigen Potential von Hirntoten
in diesen Krankheitskostenversicherungen,
verstehe ich die Diskussion um Mangel an
Spenderorganen nicht.

Bei entsprechender Vorgehenswseise bleibt
doch noch genug Personal übrig, um diese
Krankheitskostenversicherungen als das weiter
zu führen, zu dem sie sich unter dem Phlegma
der Allgemeinheit entwickelt haben, weg von
der "Krankenkasse" zur STERBEKASSE.

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