Mittwoch, 3. November 2010, 21:46h
„Meine“ Betreuten I
Ich glaube, dass es an der Zeit ist, mal ein bisschen mehr über die Menschen zu erzählen, um die eigentlich geht, wenn von Betreuung die Rede ist. Um all diejenigen, die bei der Bewältigung ihres Alltags Hilfe benötigen. Aus Gründen des Datenschutzes habe ich kleine Änderungen vorgenommen, die aber nichts an der Authentizität geändert haben.
Und hier sind sie – „meine“ Betreuten:
Da ist die 83jährige Frau V., die in ihrem Leben schon viel mitgemacht hat: der Ehemann nahm sich das Leben und der Lebensgefährte wurde ermordet. Und es deutet viel darauf hin, dass während des Dritten Reichs jemand aus Frau Vs Familie aufgrund einer Behinderung Opfer des Euthanasiegesetzes wurde. Von diesen Dingen erzählt Frau V. so oft, dass sie damit die meisten Menschen verschreckt. Frau V. ist so ein herzensguter Mensch, dass sie alles verschenkt. So habe ich – ganz autoritär – angeordnet, dass ihr Kühlschrank in einer nur dem Pflegedienst zugänglichen Kammer steht, denn ansonsten bedient sich die gesamte Nachbarschaft und Frau W. hat überhaupt nichts mehr zu essen. Ich habe auch – wieder ganz autoritär – das Telefon für Auslandsgespräche sperren lassen, denn auch hier hat die Nachbarschaft die Gelegenheit wieder beim Schopfe gepackt und durch lange Auslandsgespräche Unmengen von Frau Vs Geld vertelefoniert. Frau V. war sehr traurig über die Sperrung, da sie französische Bekannte hat, aber wir haben eine Lösung gefunden – Frau V. kann jederzeit von meinem Büro aus ihre Bekannten anrufen, die ich dadurch mittlerweile auch schon kennengelernt habe.
Und da ist der der 67jährige Herr R. der sich selbst mit den Worten vorstellt „Ich bin Vollalkoholiker“. Für paar Flaschen Bier hat Herr R. Scheinfirmen gegründet, hat PKW-Scheinhalterschaften abgeschlossen und hat zwei Scheinehen geführt. Dadurch wurde die Arbeitslosenhilfe gesperrt, wodurch weder Geld für Lebensmittel noch für die Miete vorhanden war, so dass er fast die Wohnung verloren hätte. Dies war dann der Punkt, wo eine rechtliche Betreuung eingerichtet wurde. Auch jetzt, wo alles geregelt ist, bin ich nicht arbeitslos, denn wenn Herr R. zuviel getrunken hat, verursacht er schon mal Überschwemmungen oder Feueralarm. Es fanden daher schon unzählige Gespräche mit dem Vermieter statt, der langsam die Nase voll hat, was ich auch gut verstehen kann. Mit einem äußerst engagierten Pflegedienst haben wir aber die Situation so halbwegs in den Griff bekommen. Herr R. erhält seinen Lebensunterhalt täglich und in allerkleinsten Beträgen, so dass keine Unmengen von Alkohol gekauft werden können. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: jetzt hat Herr R. gerade die von mir für ihn abonnierte HVV-Dauerkarte gegen Bares verliehen, damit er sich doch mal ein paar mehr Schnäpse kaufen kann. Es gäbe eine stationäre Einrichtung, in die Herr R. sehr gut passen würde – aber er will nicht.
Das Risiko, die Wohnung zu verlieren, besteht auch bei meiner Betreuten Frau L., die an einer mit Verfolgungswahn verbundenen Psychose leidet. Frau L. beschuldigt regelmäßig ihre Nachbarin, ihr Geister oder Schatten in die Wohnung und Stimmen durch das Telefon zu schicken. Manchmal regt sie dies so auf, dass sie mitten in der Nacht anfängt, ihre Möbel hin- und herzuschieben oder bei der Nachbarin zu klingeln. In regelmäßigen Abständen ruft mich die Polizei an, weil Frau L. wieder eine Anzeige gegen ihre Nachbarnin aufgeben wollte. Die Nachbarin ist übrigens längst ausgezogen, aber Frau L. fühlt sich von ihr auch durch die Ferne belästigt. Die einzige Möglichkeit, an der Situation etwas zu ändern, wäre die Einnahme entsprechender Psychopharmaka, was aber von Frau L. abgelehnt wird. Und da keine Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, kann sie auch niemand dazu zwingen. Frau L. hat einen inzwischen erwachsenen Sohn, der durch die Erkrankung seiner Mutter und der damit für ihn verbundenen psychischen Belastung fast sein Abitur nicht geschafft hätte. Da die Symptomatik zum damaligen Zeitpunkt grenzwertig war, habe ich mich für eine geschlossene Unterbringung entschieden. Durch die medikamentöse Behandlung ging es Frau L. dann auch tatsächlich eine Weile viel besser und das Zusammenleben mit dem Sohn war wesentlich konfliktfreier. Dann setzte Frau L. die Medikamente wieder ab und jetzt ist alles beim alten. Aber die symptomarme Zeit dauerte zumindest so lange, dass der Sohn sein Abitur machen konnte. Und darüber ist nicht nur Frau L. – die trotz ihrer Erkrankung ihren Sohn sehr liebt – sehr froh, sondern auch ich!
Die 51jährige Frau J. hat in ihrer Kindheit viel Leid erfahren. Sie wurde vom Vater schwer (mit einer Eisenstange) misshandelt und jahrelang missbraucht. Aufgewachsen ist Frau J. in der ehemaligen DDR, in der sie dann, als sie irgendwann psychisch auffällig wurde, in ein geschlossenes Heim gesteckt wurde. Beim Lesen der Akte, die mir von der früheren Betreuerin übergeben wurde, las ich, dass Frau J. zwangssterilisiert wurde. Frau J. redet immer und immer wieder davon, dass sie nicht wieder in die DDR zurück will und es nützt überhaupt nichts, dass ich ihr sage, dass es die DDR schon lange nicht mehr gibt. Das Wichtigste für Frau J. ist es, eine Beziehung zu haben. Und glücklicherweise hat sie in der Einrichtung, in der sie schon seit vielen Jahren lebt, auch jemanden gefunden, mit dem sie sich gut versteht. Aber auch das Thema Beziehung gestaltet sich für sie nicht ohne Leid – schon zwei ihrer früheren Partner sind an einer Krebserkrankung gestorben.
Ich habe natürlich nicht nur diese vier Betreuten. Und deswegen wird es auch eine Fortsetzung geben. Falls sich jemand wundert, dass ich soviel schreibe - ich muss das Bett hüten und kann nicht viel anderes tun.
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