Donnerstag, 10. März 2016, 18:51h

Wenn auf einmal alles völlig anders gesehen wird – weil man plötzlich selbst betroffen ist. Und ein Zitat von Hannah Arendt

behrens

Es erstaunt mich immer wieder, zu welch enormen Meinungswechsel Menschen fähig sind, wenn sie von Dingen, die sie zuvor nur vom Hörensagen kannten, irgendwann selbst betroffen sind.

Ich hatte hier ja schon einige Male erwähnt, dass ich vor meiner Selbständigkeit als rechtliche Betreuerin zwei Jahre in einem Betreuungsverein beschäftigt war, der nach sieben Jahren von behördlicher Seite aufgrund äußerst fragwürdiger Arbeitsweisen geschlossen wurde. In der lokalen Presse und der Öffentlichkeit löste es damals relativ viel Empörung aus, dass die Geschäftsführer eines gemeinnützigen Vereins ihre Arbeit für den privaten Profit missbrauchten. Zu denjenigen, die diese Reaktion überhaupt nicht verstanden, gehörte ausgerechnet auch einer meiner Bekannten, der die von mir geteilte Empörung als völlig übertrieben und unangemessen abwertete und sich außerdem jegliche Diskussion darüber verbat. Eben jener Bekannte nahm vor einigen Jahren bei einem der früheren Geschäftsführer eine Arbeit auf, denn besagter Geschäftsführer hatte sich nach der Schließung des Betreuungsvereins sofort wieder selbständig gemacht – diesmal mit einem sogenannten „Betreuungsservice“, bei dem mein Bekannter nun angestellt war. Vor kurzem hörte ich nun, dass mein Bekannter sich mit Geschäftsführer überworfen und eine neue Stelle gesucht hatte. Was war passiert? Nun, der Geschäftsführer stand mit Gehaltszahlungen im Rückstand und außerdem stellte sich heraus, dass er seit längerem im Rahmen von Lohnzahlungen weiterzuleitende Gelder einfach für sich selbst einbehalten hatte. Letzteres ist juristisch übrigens eindeutig als Betrug zu werten. Während mein Bekannter mir zuvor Kleinlichkeit und Unangemessenheit in der Reaktion auf die Vorkommnisse vorwarf, sah er dies jetzt in eigener Sache ganz anders und ging direkt zur Polizei um eine Strafanzeige zu stellen.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass meine Empörung während meiner damaligen Arbeit im Betreuungsverein in erster Linie nicht auf dem Umstand beruhte, selbst um einen Teils meines Lohns betrogen worden zu sein (denn auch mir ist dies genauso wie meinem Bekannten wiederfahren), sondern auf den Betrug an den Betreuten, die sich in einer wesentlich abhängigeren Position als ich befanden und die sich aufgrund ihrer Hilfsbedürftigkeit gar nicht wehren konnten.

In meinem damaligen Kollegenkreis fiel die Reaktion übrigens ähnlich aus wie die meines Bekannten und ich erntete Unverständnis und Vorwürfe für meine Kritik, wobei immer wieder darauf hingewiesen wurde, wie „rufschädigend“ diese doch sei. Keine Spur von Mitgefühl für die betrogenen Betreuten, keine Spur von Empörung über das schamlose Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen.

Wieso gelten bei eigener Betroffenheit plötzlich völlig andere Maßstäbe? Wieso wird alles zuvor vehement Vertretene plötzlich verworfen? Ganz einfach: weil eine Schweinerei anscheinend erst dann zur Schweinerei wird, wenn die eigene Person davon betroffen ist.

Gestern gab es eine sehr ausführliche Dokumentation über die Philosophin Hannah Arendt. Eine ihrer Erkenntnisse lautet, dass manche Menschen in der Lage sind, die Situation und das Leid anderer voll und ganz auszublenden. Sie spricht in dabei von einem „denkbar zuverlässigstem Schutzwall gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst“. Das traurige Resümee dieser äußerst zutreffenden Aussage ist: der Schutzwall verliert seine Zuverlässigkeit erst dann, wenn die Situation der anderen plötzlich zu eignen wird.

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Sonntag, 7. Februar 2016, 18:40h

Meine Betreuten X: Sammeln, Horten, Aufbewahren

behrens

Dass die Menschen, die an dem sogenannten Messie-Syndrom leiden, völlig unterschiedliche Persönlichkeiten haben können, habe ich schon in meinem vorherigen Beitrag erwähnt. Während es in dem betreffenden Beitrag um eine Betreute ging, die anderen Menschen gegenüber äußerst feindselig gesinnt war, möchte ich jetzt über eine Betreute schreiben, die bei den meisten Menschen ausgesprochen beliebt war.

Während ich vor Beginn meiner Betreuertätigkeit noch davon ausging, ein Mensch mit Sammelsucht würde sein Sammeln nur auf die eigene Wohnung ausdehnen, so wurde ich durch Frau B. eines Besseren belehrt. Frau B. hatte nicht nur ihre eigene Zweizimmerwohnung bis an die Wohnungsdecke vollgestellt, sondern auch noch drei Garagen, eine weitere Wohnung, eine Gartenlaube und einen Keller. Im Laufe der Betreuung kam dann zutage, dass sie früher auch schon einen Kuhstall als Lager angemietet hatte und außerdem auch schon eine frühere Wohnung wegen Vermüllung geräumt worden war.

Auch bei Frau B. war eine Meldung des Vermieters der Grund für die Einrichtung der rechtlichen Betreuung, da ihre Wohnung renoviert werden sollte und dies aufgrund des sich bis an die Decke türmenden Sammelsuriums nicht möglich war. Frau B. sah es zwar grundsätzlich ein, dass dies dringend geändert werden müsste, aber sie war dennoch unfähig, sich auch nur von einem ihrer Gegenstände zu trennen. In ihren als Lagerstätten genutzten Räumen fanden sich Kuriositäten wie beispielsweise Buttermarken aus dem zweiten Weltkrieg, Päckchen mit Backpulver von Dr. Oetker zum Preis von 5 Pfennig, Kleider aus den Fünfzigern, die jede Besitzerin eines Second-Hand-Ladens in Verzückung gebracht hätten (mich übrigens auch) und unzählige andere Gegenstände, für die heutzutage gar keine Verwendung mehr bestand.

Frau B. hatte inzwischen vom Vermieter eine andere Wohnung erhalten, in die sie noch am Tag der Räumung einziehen sollte und für die sich ein Pflegedienst um die Herrichtung ihrer Räume kümmerte. Frau B. wollte sich aber nicht abhalten lassen, auch selbst bei der Räumung anwesend zu sein und als sie dann in ihrer alten Wohnung inmitten der laufenden Räumung erschien, brach sie schreiend in einen Weinkrampf aus. Abgesehen davon, dass eine Wohnungsräumung immer traumatisch für den Betreffenden ist, bestätigte sich für mich eine Erfahrung, die ich während meiner Betreuungstätigkeit immer wieder machte: die günstigsten Räumungsunternehmen sind oftmals nicht immer die besten. Obwohl ich die ganze Zeit anwesend war und einige Dinge sorgsam aussortiert hatte, landete letztendlich fast alles auf dem Müll. Die Mitarbeiter zeichneten sich durch eine beispiellose Gedankenlosigkeit aus und es war ihnen völlig gleichgültig, dass auf keinen Fall alles weggeworfen werden durfte.

Mir wird immer eine Begebenheit in Erinnerung bleiben, die sehr deutlich macht, dass es für einen unter Sammelsucht leidenden Menschen nichts gibt, für das es nicht doch irgendeine Verwendung geben könnte: Als ich ein gebrauchtes Papiertaschentuch in den Müllsack schmiss, nahm Frau B. es gleich wieder heraus und kommentierte dies mit den Worten: „aber das kann man doch noch verfeuern!“ Mir fiel dabei meine Kindheit ein, in der es auch selbstverständlich war, alles Brennbare in den Ofen zu schmeißen. Ich erinnere mich auch an die Schilderungen meiner Eltern und Großeltern über deren Kindheit, in denen es oftmals eisig kalte Winter gab, in denen es die Aufgabe der Kinder war, überall nach irgendetwas Brennbaren zu suchen. Frau B. gehörte dem Jahrgang 1912 an und gehörte somit zu der Kriegsgeneration, der die Erfahrungen dieses Entbehrens immer noch tief in den Knochen steckt. Zeiten des Hungerns und Frierens, in denen es an allem fehlte. Damals war es unerlässlich, jeden Gegenstand genauestens auf seine Verwertbarkeit zu prüfen. Kann man ein Kleidungsstück noch irgendwie reparieren oder daraus ein anderes für die Kinder machen? Hat ein Gegenstand noch irgendeinen Tauschwert auf dem Schwarzmarkt? Gibt es an einem verschimmelten Brot vielleicht doch noch eine Ecke, die man essen kann?

Wie endete die Geschichte von Frau B.? Frau B. wurde in ihrer neuen Wohnung niemals wirklich heimisch. Obwohl sie körperlich gebrechlicher wurde und auf Hilfe angewiesen war, kam sie nicht mit der Situation zurecht, in ihrer Wohnung von einem Pflegedienst aufgesucht und betreut zu werden. Sie äußerte schließlich von sich aus, lieber in ein Heim ziehen zu wollen, was ich dann auch veranlasste. Frau B. gewöhnte sich im Heim bemerkenswert schnell ein. Ich beauftragte einen Besuchsdienst, mit dem Frau B. auch sehr gut zurechtkam.

Als ihr 90. Geburtstag anstand, informierte unsere darüber Lokalzeitung, die dann ein kleines Interview mit ihr machte, in dem sie ein wenig über ihr Leben erzählte. Aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft in der SPD war sie auch vielen Menschen des Bezirks bekannt, von denen manche sie liebevoll „Tante Klärchen“ nannten. Zu der Feier, die ich beim Heim veranlasst hatte, kamen dann auch einige ihrer Bekannten, was bei vielen Heimbewohnern leider längst nicht selbstverständlich ist.

Ich habe mich immer wieder darüber gewundert, dass Frau B. im Heim nicht wieder mit dem Sammeln anfing. Vielleicht lag es daran, dass im Heim andere für sie sorgten und nicht mehr sie selbst für alles verantwortlich war. Typisch für Frau B. war auch, dass sie mir irgendwann die Räumung ihrer Wohnung verzieh. Ich erinnere mich noch an ihre Worte „Sie können ja auch nicht dafür, dass Sie diese Aufgabe hatten.“

Im Alter von 91 Jahren schlief Frau B. dann friedlich in Gegenwart ihres Besuchsdienstes ein. In meiner Betreuertätigkeit ging ich nur in Ausnahmefällen zu der Beerdigung verstorbener Betreuter. Frau B. war so eine Ausnahme.

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Meine Betreuten IX: Leben auf einer Müllhalde

behrens

Den Begriff des Messie-Syndroms gibt es noch nicht allzu lange, erst seit den 80er Jahren widmet man dieser Form einer ausgeprägten Wohnungsverwahrlosung Aufmerksamkeit.

Während meiner Tätigkeit als Betreuerin hatte ich zwei Klientinnen, die beide wegen extremer Wohnungsverwahrlosung unter Betreuung gestellt wurden, die aber unterschiedlicher kaum hätten sein können. Beiden war jedoch gemeinsam, dass die Betreuung aufgrund der Meldung von Seiten der Vermieter eingerichtet wurde, da die Wohnungen kaum noch betretbar waren, es schon eine Geruchsbelästigung gab und außerdem dringend erforderliche handwerkliche Arbeiten verweigert wurden, bzw. überhaupt nicht mehr möglich waren.

Fangen wir mit Frau S. an: Frau S. Wohnung war völlig vermüllt und verdreckt, es stank erbärmlich und man konnte sich kaum noch in der Wohnung bewegen. Das Gesundheitsamt war bereits informiert worden und von Seiten des Sozialamtes war bereits eine sogenannte Grundreinigung und Entmüllung bewilligt worden. Ein Pflegedienst hatte bereits diverse Müllsäcke mit Abfall gefüllt, aber dann kam die Sache ins Stocken, denn das Sozialamt verlangte die Darlegung der Vermögensverhältnisse und hierzu war Frau S. nicht bereit. Nach Einrichtung der Betreuung wurde der Grund hierfür ziemlich schnell ersichtlich, denn Frau S hatte rund 40.000,00 DM (20.000 €) gespart, die sie bei diversen Banken deponiert hatte.

Obwohl nicht ich für das Gesetz der Subsidiarität/Nachrangigkeit verantwortlich war, hatte ich Frau S. gegenüber jetzt die Rolle des Sündenbocks inne. Hierzu sei gesagt, dass Frau S‘ Ersparnisse nicht durch eigene Arbeit entstanden waren, sondern durch den Umstand, dass sie sich so manche Sozialleistung erschlichen hatte und außerdem grundsätzlich diverse Hamburger Tafeln und Kleiderkammern aufsuchte, so dass sie auf diese Weise fast nie Geld ausgaben musste. Frau S. hortete also nicht nur wahllos Gegenstände, Essen, Kleidung und Müll, sondern auch Geld.

Am Tag, an dem eine für den geplanten Einsatz beauftragte Entmüllungsfirma kommen sollte, rief mich Frau S. schon morgens um 6.00 Uhr an und eröffnete mir, dass sie sich nicht gut fühlen würde und die Aktion vertagt werden müsse. Ich bestand allerdings auf die Durchführung der Entmüllung, da ansonsten die Firma aufgrund des Verdienstausfalls trotzdem bezahlt hätte werden müssen. Eigentlich beabsichtige ich, nur am Anfang dabei zu sein, aber kaum hatte ich den Rücken gekehrt, machte Frau S. Anstalten, die vier Mitarbeiter wieder nach Hause zu schicken. Also blieb ich notgedrungen da.

Es passierte mir während meiner Tätigkeit als Betreuerin nur ein paar Mal, dass ich mich fast übergeben hätte und eines der Male ereignete sich in der Wohnung von Frau S., als ich mitanpackte und mir dabei eine Tüte zerriss, in der sich Erbrochenes befand. Einem der Möbelpacker wurde ebenfalls schlecht, als er den Kühlschrank öffnete, der – so etwas hatte selbst ich noch nicht gesehen – voll mit pechschwarzem Schimmel war. Die Toilettenschüssel war so verdreckt, dass ich sie auswechseln lassen musste. Als einige Wochen später ein von mir beauftragter Pflegedienst die Arbeit aufnahm, war die Toilette jedoch schon wieder so dreckig, dass der Pflegedienst die Reinigung verweigert und um eine erneute Auswechslung bat.

Obwohl Frau S. mir nie verzieh, dass ich ihr eigenes Geld für die Wohnungsinstandsetzung einsetzte, rechnete sie es mir hoch an, während der Entmüllung selbst kräftig mitangepackt zu haben. Neben allem Hass gegen mich erwähnte sie dennoch immer wieder, dass ich mehr gearbeitet hätte als die vier Herren. Und über das Resultat der Entmüllung und Neugestaltung ihrer Wohnung war sie erstaunlicherweise regelrecht entzückt, was sie damit formulierte: „Ich könnte stundenlang meine Wohnung angucken, so schön ist die jetzt." Allerdings bestand Frau S. dann doch irgendwann auf einen Betreuerwechsel, da sie mir meine „Betrügereien“ nicht verzieh.

Anzumerken ist noch, dass mich während der Betreuung von Frau S. immer wieder verschiedene Stellen anriefen, weil sie. überall erzählte, ich würde ihr kein Geld auszahlen. Immer wieder musste ich geduldig erklären, dass dies nicht stimmte und Frau S. sehr wohl über mehr als genug Geld verfügte. Die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes wurden trotz ihres sehr engagierten Einsatzes von Frau S. oftmals heftig beleidigt und beschimpft und manchmal öffnete sie auch nicht die Tür, so dass die Mitarbeiterinnen unverrichteter Dinge wieder gehen mussten. Frau S. warf sowohl dem Pflegedienst als auch mir immer wieder auf Heftigste vor, dass wir für unsere Arbeit bezahlt wurden und nicht ehrenamtlich arbeiteten. Insbesondere der Umstand, dass eine erste Vergütungsabrechnung von Frau S. selbst bezahlt werden musste, führte zu einem ausgeprägten Hass gegen mich, der in Bedrohungen gipfelte und in der bemerkenswerten Aussage, ich sollte mir gut vor Augen führen, “ dass man schon für 40,-- DM einen Menschen umbringen lassen könnte.“ Im Laufe der Betreuung erfuhr ich, dass Frau S. gegen andere Menschen schon handgreiflich geworden war. Sie hatte sie eine Sozialarbeiterin mit einem Messer bedroht und einen minderjährigen Apothekenboten sexuell so heftig bedrängt, dass dieser sich weigerte, sie jemals wieder aufzusuchen.

Abfälligkeit gegenüber anderen Menschen schien ein wenig in der Familie zu liegen, denn die Schwester von Frau S. erklärte meiner Nachfolgerin, ich hätte meinen Beruf verfehlt und den Pflegedienst beurteilte sie als ebenso als unfähig. Mich macht gerade die Beurteilung der betreffenden Mitarbeiterinnen fassungslos, denn eine Wohnung zu reinigen, die schon nach ein- bis zwei Tagen wieder völlig vermüllt ist, erfordert nicht nur eine hohe Schmerzgrenze, sondern auch ein sehr großes Engagement. Sowohl die Haushaltshilfen als auch ich in meiner Betreuungsarbeit haben weit mehr als das Plansoll erfüllt – andernfalls hätte Frau S. mit Sicherheit ihre Wohnung verloren. Allerdings ist es nicht ungewöhnlich, dass gerade diejenigen Angehörigen, die sich niemals auch nur im Geringsten um ihre Verwandten kümmern, Dritten gegenüber allerhöchste Ansprüche stellen und das Engagement anderer generell für selbstverständlich halten.

Kurze Zeit nachdem eine neue Betreuerin und auch ein neuer Pflegedienst eingesetzt worden waren, verstarb Frau S. Sie hatte sich nach wie vor geweigert, die Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes in die Wohnung zu lassen, obwohl dies mittlerweile auch aus gesundheitlicher Sicht erforderlich war. Ich hatte noch kurz vor dem Betreuerwechsel den Zutritt zur Wohnung beantragt, damit im Notfall die Wohnung betreten werden konnte dadurch die gesundheitliche Versorgung sichergestellt würde, aber dazu war es dann anscheinend nicht gekommen und so wurde Frau S. tot in ihrer Wohnung aufgefunden.

Bei jedem Mensch enthält die Biographie Gründe, die erklären, warum er sich so und nicht anders entwickelt hat. Auch bei Frau S. wird es Erklärungen dafür geben, wieso das Horten und Sammeln von Dingen für sie irgendwann viel wichtiger wurde als menschliche Beziehungen und wieso sie letztendlich die Fähigkeit zum Leben in einer Gemeinschaft gänzlich verlor. Und bevor man urteilt, sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass eine Verhaltensweise – und sei sie noch so extrem – im Ansatz bei fast jedem vorhanden ist. Der Unterschied zu Frau S. besteht in einer krankhaften Gewichtung, die irgendwann das gesamte Leben bestimmt und keinen Platz mehr lässt für andere Aktivitäten und soziale Kontakte.

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Mittwoch, 6. Januar 2016, 01:45h

Auch mir ist das schon passiert. Ein Tabuthema

behrens

Ein Übergriff wie der, der in der Silvesternacht den jungen Frauen in Köln, Stuttgart, Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt widerfahren ist, ist vor vielen Jahren auch mir passiert. Ich fuhr spät nachts von einer Fête nach Hause, als auf dem Hamburger Hauptbahnhof plötzlich ein dunkelhäutiger Mann hinter mir stand, der mir brutal zwischen die Beine griff. Ehe ich mich wehren konnte, hatte sich der Mann schon entfernt und lief mit einem zweiten Mann davon. Vorher brachen beide noch in brüllendes Gelächter aus.

Die Frage, worin der Bezug zu Thematik meines Blogs „Betreuungen & Soziales“ liegt, kann ich damit beantworten, dass ich mein Sozialpädagogikstudium noch zu einer Zeit absolvierte, in der es undenkbar war, gesellschaftliche Probleme nicht in die Arbeit mit einzubeziehen und diese Ansicht vertrete ich immer noch, auch wenn dies mittlerweile längst nicht mehr selbstverständlich ist. Abgesehen davon befand sich mein Betreuerbüro nicht auf dem Land oder in einem Stadtteil wie Hamburg-Blankenese (genauso wenig wie mein Wohnviertel), sondern in Hamburg-Wilhelmsburg. Die Probleme, die sich aus dem Zusammenleben zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und alteingesessenen Hamburgern ergeben kann man dort beim besten Willen nicht ausblenden.

Ich zögerte ein wenig, diese Thematik hier in diesem Blog zu behandeln, denn ich höre schon den gebetsmühlenartig erhobenen Vorwurf: „Muss das jetzt wirklich sein, dass man vor dem Hintergrund von Pegida und brennenden Flüchtlingsunterkünften ausgerechnet über das Thema Ausländer und Gewalt schreibt?“ Ja, es muss leider sein, denn wenn man jetzt nicht anfängt, dieses Thema endlich einmal jenseits der üblichen Polarisierungen zu behandeln, riskiert man eine Gewaltspirale, die niemand mehr stoppen kann.

Ist das tatsächlich Rassismus?
Als ich Ende der 80er Jahren während meines Studiums für meine Diplomarbeit zum Thema Gewalt gegen Frauen recherchierte, suchte ich auch die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Polizeipräsidiums auf (damals gab es kein Internet) um mich über die konkreten Zahlen über Vergewaltigung zu informieren. Neben diversen Daten wurde in der Statistik auch der Ausländeranteil genannt und ich war erschrocken darüber, dass dieser Anteil fast ein Drittel betrug. Damals war der Ausländeranteil an der Hamburger Bevölkerung erheblich geringer als heute, so dass man die Überproportionalität kaum leugnen konnte. Dabei möchte ich nicht unerwähnt lassen, welch merkwürdige Erklärung eine Berufskollegin zu meiner Recherche abgab, als ich den überproportionalen Anteil von Ausländern erwähnte. Ich erntete einen sehr bösen Blick und die Antwort: „Dieser hohe Anteil kommt sicherlich daher, dass Frauen eher bereit sind, einen Ausländer anzuzeigen als einen Deutschen“. Mit anderen Worten – Frauen lassen sich nicht durch das Maß an erfahrener Gewalt bei der Erwägung zu einer Anzeige leiten, sondern für die Motivation spielen rassistische Motive eine Rolle.

Ich möchte auch noch eine weitere Begebenheit hier erwähnen, die nichts mit sexueller Gewalt zu tun hat, aber trotzdem eine sehr typische Reaktion beschreibt. Ich habe früher kurzzeitig in der niedrigschwelligen Drogenarbeit gearbeitet und bei einem Gespräch mit Kollegen aus den anderen Einrichtungen kam das Thema darauf, dass die Kokaindealer nicht nur Erwachsenen Kokain anboten, sondern in einer bestimmten Straße auch Kindern auf ihrem Schulweg. Bei den Dealern handelte es sich zum damaligen Zeitpunkt fast ausschließlich um aus Afrika stammende Männer im Asylstatus. Ich äußerte, dass ich es nicht nachvollziehen kann, dass jemand von einem Land Asylschutz erwartet, in dem er sofort die Gesetze bricht und selbst davor nicht zurückscheut, Kinder zum Drogenkauf zu verleiten. Eine Kollegin polterte mich daraufhin sofort mit hochrotem Kopf an, „dass es solche Menschen wie ich wären, die für Rassismus und Nationalismus verantwortlich sind.“

Wieviel Eigenverantwortung darf man von Menschen erwarten?
Menschen, die Opfer von Verfolgung, Krieg und Gewalt sind, können durchaus auch selbst Täter sein und dabei anderen Menschen die gleiche Grausamkeit, Brutalität und Menschenverachtung zufügen, die sie selbst erfahren haben. Aber jemand, der andere Menschen brutal und menschenverachtend behandelt, kann nicht wegen der am eigenen Leib erfahrenen Brutalität und Menschenverachtung Schutz und Hilfe beanspruchen. Es entbehrt jeglicher Glaubwürdigkeit, wenn ein Mensch für sich ein Recht auf Schutz vor Gewalt beansprucht, der selbst auch Gewalt gegen andere ausübt. Man hilft weder Menschen mit Migrationshintergrund noch Flüchtlingen damit, wenn man ihnen jegliche Eigenverantwortung abspricht – im Gegenteil, man stellt damit ihre Mündigkeit in Frage.

Generalverdacht und Generalvorwurf
Kulturelle Unterschiede bedingen auch unterschiedliche Wertvorstellungen. Nur weil die westliche Kultur patriarchalische und hierarchische Strukturen oder religiöse Werte als überwunden ablehnt, heißt das nicht, dass dies auch in anderen Kulturkreisen im gleichen Maß der Fall sein muss.

Es gibt Wertesysteme, in denen es für eine selbstbestimmt und ungebunden lebende Frau kaum Probleme gibt. Es gibt Wertesysteme, in denen – zumindest von einem Teil der Bevölkerung – ein derartiger Lebensstil negativ bewertet wird. Im Zusammenleben beider Kulturen entstehen hierdurch Konflikte, die unglücklicherweise nicht zu einer Auseinandersetzung führen, sondern lediglich zu dem steten Vorwurf, sein Augenmerk nicht auf diejenigen zu richten, die in diese Konflikte involviert sind, sondern auf jene, mit denen das Zusammenleben konfliktfrei verläuft.

Es gibt mit Sicherheit viele Menschen, die generalisieren und grundsätzlich jeden Menschen mit ausländischen Wurzeln als Gefahr ansehen. Aber es gibt mit Sicherheit auch viele Menschen, die durchaus in der Lage sind, zu differenzieren. Zu dieser Kategorie rechne ich mich, da ich viele Ausländer im Bekannten- und Freundeskreis habe, seit vielen Jahren mit einem Nichtdeutschen liiert bin und auch schon selbst im Ausland gelebt habe. Abgesehen davon befasse ich mich schon seit langem mit den verschiedenen Religionen und bin weit davon entfernt, Religiosität pauschal als übel oder dumm einzustufen.

Der immer wieder erhobene Vorwurf des „Generalverdachts“ trägt nicht gerade zu einer Lösung der Probleme bei, sondern entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Art „Generalvorwurf“, mit dem man genauso plump jegliche Kritik hartnäckig sofort vereinheitlicht als rassistisch, islamophob oder faschistisch. Vor allem ändert dieser Vorwurf nichts daran, dass die durch unterschiedliche kulturelle Werte bedingten Auseinandersetzungen immer heftiger werden und irgendwann zu einer Katastrophe führen können.

In dieser zermürbenden Spirale der gegenseitigen Verdächtigungen und Vorwürfe drehen wir uns nun schon seit einiger Zeit. Es kracht an allen Ecken. Immer öfter und immer heftiger. Und es passiert nichts anderes als die Erhebung gegenseitiger Unterstellungen. Die haben’s dafür aber auch in sich.

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