Mittwoch, 23. Mai 2012, 15:12h
Ein nachdenklicher Ausflug in die Vergangenheit – Paradigmenwechsel
Am vergangenen Sonntag nahm ich an einer Jubiläumsfeier in meinem Heimatdorf teil. Gefeiert wurde das fünfzigjährige Jubiläum der dortigen Jugendarbeit. Eine Jugendarbeit, die zum großen Teil auf dem großen Engagement des inzwischen berenteten Jugendwarts und seiner Frau beruht. Ein wesentlicher Bestandteil der Jugendarbeit war und sind die unzähligen Ferienfahrten, von denen auch ich als kleines Mädchen einige mitgemacht habe. Die meisten Kinder aus meinem Dorf hätten wohl kaum die Möglichkeit gehabt, in den Ferien zu verreisen, da es damals längst noch nicht selbstverständlich war, dass die Eltern in Urlaub fuhren. Außerdem sind viele der Dorfbewohner Landwirte, für die es selbst in der heutigen Zeit nur sehr schwer möglich ist, sich ein paar Wochen freizunehmen.
Dem Engagement des Ehepaares war es auch zu verdanken, dass es irgendwann sogar zu einem eigenen Ferienhof kam, so dass zu nahezu jeder Schulferienzeit Reisen angeboten werden können. Obwohl Jugendarbeit der Schwerpunkt war und ist, gab es auch schon immer Angebote für ältere Mitbürger.
Was war für mich an diesem Jubiläum so besonders? Abgesehen davon, dass das Aufsuchen von Orten der Kindheit oftmals sehr aufwühlend sein kann, befand ich mich plötzlich wieder in einer Welt, in der nach völlig anderen Werten gelebt wird. Ich bin ja seit langem selbst Sozialarbeiterin und eigentlich sollte Sozialarbeit – und Jugendarbeit ist ja nichts anderes als Sozialarbeit – für mich nichts Ungewöhnliches sein. Aber so ist es nicht. Denn dieses enorme Engagement, das der Jugendwart und seine Frau über Jahrzehnte geleistet haben, sucht man heute meist vergeblich.
Da gab es ein junges Ehepaar, das in den 60ern in ein kleines Dorf zieht und den Traum hat, dort etwas für Kinder und Jugendliche zu tun. Ein Dorf, in dem diese Idee völlig neu ist und erstmal viel dafür getan werden muss, damit es zu dem erforderlichen Rückhalt in der Dorfgemeinschaft kommt. Der entsteht allerdings bald und nach einiger Zeit gibt es eine Schar von jugendlichen freiwilligen Helfern. Irgendwann ist das Ganze ein fester Bestandteil, der sogar in benachbarten Dörfern Resonanz findet.
All das aber fällt nicht einfach vom Himmel. Für eine derartige Arbeit reicht eine normale 40-Stundenwoche bei weitem nicht aus. Etwas aus dem Nichts aufzubauen gelingt nicht bei Dienst nach Vorschrift. Da meine Familie mit dem Jugendwart befreundet war und deren Tochter meine Freundin war, habe ich auch oftmals miterlebt, wie eng verwoben Arbeit und Privatleben bei einer so umfassenden Aufgabe sein kann. Dies ist manchmal für die Familie auch mit Zugeständnissen verbunden. Ich habe miterlebt, was bewegt werden kann, wenn Menschen sich mit Herzblut einer Aufgabe widmen.
Es tat mir sehr leid, dass der Jugendwart in der Nacht vor dem Jubiläum erkrankte und ins Krankenhaus gebracht werden musste, so dass allein die Ehefrau anwesend war. Diese erhielt allerdings einen minutenlangen Applaus – Standing Ovations würde man in Neudeutsch sagen – der sehr berührend war.
Ich frage mich, wie sich die beiden selbst charakterisieren würden, wenn dies von jemandem erfragt werden würde. Und ich bin mir sehr sicher, dass keiner der beiden sich als „engagiert“ oder „hochqualifiziert“ beschreiben würde. Nicht, weil es unzutreffend wäre, denn ohne Zweifel treffen beide Attribute voll und ganz zu, sondern weil es sich um Menschen handelt, denen es fremd ist, die eigene Leistung so in den Vordergrund zu rücken. Beide würden mit Sicherheit betonen, wie wichtig Jugendarbeit ist.
Sind die beiden durch ihr enormes Engagement eigentlich reich geworden? Das glaube ich kaum, weder gibt es ein eigenes Haus, noch einen Mercedes noch Reitpferde. Bevor jetzt jemand den Schluss aus meinem Beitrag zieht, ich würde den allgemeingültigen Anspruch erheben, jeder sollte sich mit seiner ganzen Kraft ohne Entgelt ehrenamtlich einer Aufgabe widmen – genau darum geht es mir eben nicht. Mir geht es um etwas völlig anderes, nämlich um die Definition des Begriffs des Engagements. Ein Begriff, der mittlerweile inflationär benutzt wird und der damit sowohl seine Bedeutung als auch seine Aussagekraft verloren hat. Ein Begriff, der regelrecht missbraucht wird um damit Menschen vorzugaukeln, dass etwas nicht aus monetären Gründen, sondern aus purer Nächstenliebe getan wird und der verschleiern soll, dass jeder Aspekt des Handelns einzig und allein auf dessen finanziellen Nutzen ausgerichtet wird. Letztendlich ist der Missbrauch des Begriffs des Engagements nichts anderes als ein Symptom für die Vereinnahmung sozialer Arbeit durch Menschen, die einzig und allein kaufmännische Interessen haben.
Was mich so nachdenklich an meinem Ausflug in die Vergangenheit gemacht hat, ist das Bewusstwerden darüber, wie viel vertrauter mir die Vergangenheit in Bezug auf meine Gegenwart ist. Ich will auf keinen Fall die Welt der Kindheit idealisieren, denn die war alles andere als heil und auch in konkretem Bezug auf die Jugendarbeit gab es vielleicht Dinge, die man heute anders gemacht hätte. Aber dennoch ging es dabei nie um etwas anderes als um ein soziales Ziel. Ein Ziel, dass durch und durch authentisch war und eben genau deswegen so erfolgreich umgesetzt werden konnte. Ich werde mich nie anfreunden können mit dem gesellschaftlichen Wandel, in dem sich soziale Arbeit nicht mehr an authentischen Zielen orientiert, sondern am Streben nach Gewinnmaximierung, die wiederum zwangsläufig mit erbärmlichen PR-Lügen einhergeht und desinteressiert ist an Einbindung in übergeordnete sozialpolitische Zusammenhänge.
Schade und traurig, dass die authentische Form der Sozialarbeit mittlerweile zum Auslaufmodell geworden ist. Diese Entwicklung ist wohl jene, die man als Paradigmenwechsel bezeichnet.
Aber ich möchte hier nochmals meine Hochachtung für die Jugendarbeit meines Heimatdorfs aussprechen. A. und K.: Euch beiden ein großes Chapeau!!
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Sonntag, 13. Mai 2012, 20:15h
Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker
Im Februar habe ich an einem Treffen des Landesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker teilgenommen. Es waren unter anderem eine Psychiatrieärztin, ein Betreuungsrichter und ein Psychiater eines Gesundheitsamtes geladen. Thema der Veranstaltung war rechtliche Betreuung.
Bei dem größten Teil der Angehörigen handelt es sich um die Eltern von psychisch Kranken. Was durch die Wortbeiträge auf dem Treffen deutlich wurde, ist die oftmals tiefe Verzweiflung der Eltern, die den Problemen ihrer erwachsenen Kinder meist hilflos gegenüber stehen, wie zum Beispiel in der Situation, in der es aufgrund psychischer Erkrankung zum Wohnraumverlust kommt und die Eltern damit konfrontiert sind, dass ihre Kinder auf der Straße leben. Oder aber die Situation eines psychotischen Schubs, bei dem sämtliches Geld verschenkt wird und die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind, sich um die Sicherstellung ihrer Einkünfte zu kümmern.
Rechtliche Betreuung könnte eine Entlastung für die Angehörigen darstellen, da die Befugnisse eines Betreuers größer sind als die der Angehörigen. Um ein Beispiel zu nennen: der Situation, in der jemand in der Phase eines psychotischen Schubs durch Aussetzungen der Mietzahlungen seine Wohnung zu verlieren droht, kann durch einen Betreuer vorgebeugt werden, indem von vorneherein ein spezielles Betreuungskonto eingerichtet wird, von dem die laufenden Kosten automatisch abgebucht werden. Auch bei Situationen, in denen es zu massiven Selbstschädigungen kommt, kann ein Betreuer schneller reagieren als Angehörige.
Ein Problem, das kaum zu lösen ist, sind die Grenzfälle, in denen zwar eindeutig eine psychische Erkrankung vorliegt und diese auch zu massiven Selbstschädigungen führt, aber dennoch die Gründe für die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung noch nicht ausreichen. Zwangsläufig hat dies Auswirkungen auf alle Personen, die dem Betroffenen nahestehen. Dies trifft nicht nur auf die Eltern psychisch Kranker zu, sondern auch auf erwachsene Kinder, Geschwister oder Lebenspartner.
Ein Argument, das auch von Betreuern bei dieser Thematik oft angeführt wird, zumindest, wenn es um die Eltern psychisch Kranker geht, ist, dass diese „doch wohl auch nicht ganz unbeteiligt“ an der Erkrankung sind. Ohne diese Ansicht hier als richtig oder falsch zu bewerten, muss aber dem Umstand Rechnung getragen werden, dass eine psychische Erkrankung in ihren Folgen oftmals die ganze Familie betrifft und es Bereiche gibt, wie Wohnraumsicherung, Sicherung des Lebensunterhalts, die geregelt werden müssen und die dann meist an den Angehörigen hängen bleiben, die daran manchmal zu zerbrechen drohen.
Das, was über die Erwartungen der Angehörigen an rechtliche Betreuer deutlich wurde, ist der Wunsch, durch den Umstand einer rechtlichen Betreuung nicht automatisch ausgegrenzt zu werden. Viele Familienangehörige übernehmen trotz eines rechtlichen Betreuers diverse Aufgaben für den Betroffenen, wodurch sich immer wieder Schnittstellen ergeben, für die Kooperation wünschenswert ist. Um es auf einen Punkt zu bringen – es geht um Miteinbeziehung.
Bleibt noch anzumerken, dass ich die Behauptung eines früheren Kollegen, „alle Angehörigen sind Psychopathen“ als nicht bestätigt empfand. Und dass ich es schade fand, dass außer mir trotz des Themas rechtliche Betreuung kein weiterer Betreuer anwesend war.
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Donnerstag, 26. April 2012, 15:17h
Das Meer in mir - Todeswunsch und Lebenswille
Gestern sah ich den spanischen Film „Das Meer in mir“, dem die wahre Geschichte eines gelähmten Mannes zugrunde liegt, der für sein Recht auf Sterben kämpfte. Ramón Sampedro, der im Alter von 25 Jahren einen Unfall erlitt, aufgrund dessen er von Kopf bis Fuß gelähmt war, wollte nach 28 Jahren, die er nur im Bett liegend verbracht hatte, vor Gericht das Recht auf Sterbehilfe erkämpfen. Obwohl er den Prozess verlor, war seine Freundin bereit, ihm aktiv dabei zu helfen und verabreichte ihm im Jahr 1998 eine Zyankalisösung.
Ich zappte eine Weile nach dem Ende des Films herum und landete bei einer Talkshow, in der es auch um das Leben eines von Kopf bis Fuß Gelähmten ging, nämlich um den jungen Samuel, der vor etwa einem Jahr bei einem Unfall in der Sendung „Wetten, dass?“ schwer verletzt wurde.
Zwei Schicksale, die sich ähneln und die dennoch völlig unterschiedlich sind. Während Ramón Sampedro sein Leben als würdelos empfand, will Samuel auf jeden Fall leben. Zwei Aussagen stehen sich gegenüber: „Es ist ein würdeloses Leben als Gefangener meines Körpers“ und „Glücklichsein kann man auf jedem Niveau“. Man darf natürlich nicht ignorieren, dass Roman 55 Jahre alt war, als er sich entschloss, zu sterben und Samuel erst 23 Jahre alt ist. Vielleicht hat auch Samuel in vielen Jahren nicht mehr die Kraft, ein Leben unter so schweren Bedingungen zu leben.
Was für mich bei den beiden Lebensgeschichten so entscheidend ist, ist die Tatsache, dass beide von Menschen umgeben waren, bzw. sind, die ihnen helfen und von denen sie geliebt werden. Die Entscheidung der Freundin Ramons, aktive Sterbehilfe zu leisten, war keine übereilte Entscheidung, die aufgrund von Argumentationsgängen getroffen wurde. Sie liebte Ramon und erkannte die Bedeutung, die der Todeswunsch für ihn hatte. Erst nach einem langen Prozess war sie bereit, ihm dabei zu helfen, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Der Film „Das Meer in mir“ berührt sehr. Der Anblick von Samuel, der mit einem bewundernswerten Willen für ein lebenswertes Leben kämpft, berührt genauso.
Und deswegen kann die Frage, danach, wann ein Leben lebenswert ist und wann nicht, überhaupt nicht allgemeingültig beantwortet werden und es gibt kein allgemeingültiges Richtig oder Falsch. Es gibt die Entscheidung, für sein Leben zu kämpfen und es gibt die Entscheidung, sein Leben nicht mehr leben zu wollen. Entscheidend ist bei dem Wunsch nach der Beendigung seines Lebens, dass sich nicht irgendwelche Außenstehenden anmaßen, diese Entscheidung beurteilen zu können. Nur Menschen, die wirklich Anteil am anderen nehmen, sind überhaupt in der Lage, die Situation des anderen annähernd zu beurteilen. Nur diese Menschen können beurteilen, ob es vielleicht noch andere Wege als den des Todes gibt. Und nur diese Menschen werden sich die Mühe machen und sich die erforderliche Zeit nehmen, nach den anderen Wegen zu suchen.
Menschen, die mit dem Blick auf die Uhr eine möglichst schnelle Entscheidung fällen wollen, sind bei solchen existentiellen Entscheidungen völlig fehl am Platz. Dies trifft auch auf Menschen zu, denen der zwischenmenschliche Respekt vor andern fehlt und die eigene Entscheidungen für unfehlbar halten. Meine Ansicht deckt sich mit der von Sherwin B. Nuland, für den die Sterbehilfe in die Hand derjenigen Ärzte gehört, denen der Patient langjährig vertraut ist. Wobei für mich auch nahe Angehörige den Platz von Ärzten einnehmen können.
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