Donnerstag, 7. August 2014, 01:33h
Auf Entwicklungsprozesse bauen
Worauf kommt es an, wenn Konzepte entwickelt werden, mit denen Menschen geholfen werden soll, die einen besonderen Hilfebedarf haben? Geht es darum, möglichst schnell ein Defizit auszugleichen, oder steht es im Vordergrund, eine Entwicklung zu fördern? So unterschiedlich, wie die zugrunde liegenden Problemlagen sind, so unterschiedlich sind auch die Hilfsangebote.
Professionelle Hilfe kann auf der Basis von Akzeptanz erfolgen oder auf der Basis von Intervention. Beispielsweise fällt die akzeptierende Drogenarbeit in die erste Kategorie, denn es werden zwar Hilfsangebote wie Kleiderkammer, Schlafplatz, Spritzentausch etc angeboten, aber die Inanspruchnahme erfolgt grundsätzlich auf freiwilliger Basis und mit der Richtlinie, das Klientel nicht zum Entzug zu drängen. Die Familienhilfe hingegen stellt ein Beispiel dafür dar, die Inanspruchnahme nicht immer freiwillig ist, sondern als Auflage erfolgen kann, wie es z.B. der Fall ist, wenn es um die Gefährdung des Kindeswohls geht. Allerdings gibt es wiederum sowohl in der Arbeit mit Drogenabhängigen als auch in der Familienhilfe durchaus Bereiche, in denen auch andere Zielformulierungen handlungsbestimmend sind. Beispielsweise kann die Teilnahme an einer Drogentherapie sehr wohl mit klaren Verpflichtungen verbunden sein und auf der anderen Seite können auch familientherapeutische Hilfsangebote wie beispielsweise eine Erziehungsberatung auf völlig freiwilliger Basis erfolgen.
Wie sieht es denn nun eigentlich im Bereich der rechtlichen Betreuung aus? Hier gibt es ganz eindeutig Maßnahmen, die gegen den Willen des Betreuten durchgeführt werden können. Geldeinteilung, Veranlassung einer stationären Behandlung, Einweisung in ein Heim – all dies sind Maßnahmen, die auch ohne Einwilligung des Betreuten veranlasst werden können. Ohne hier jetzt das Für und Wider zu thematisieren, darf bei der Problematik nie vergessen werden, dass die Priorität immer bei der Ermöglichung von Entwicklungsprozessen liegen sollte. Auch ein Mensch, der nach objektiven Gesichtspunkten kaum noch in der Lage ist, selbständig in seiner Wohnung zu wohnen, sollte zuerst einmal behutsam an Alternativen herangeführt werden. Dies beginnt mit Gesprächen und kann auch den gemeinsamen Besuch einer Einrichtung des betreuten Wohnens oder eines Heimes bedeuten. Viele Betreute sind durchaus ambivalent in ihren Wünschen und sehen sehr wohl, dass die Aufgabe der eigenen Wohnung zwar schwer ist, aber nicht nur Nachteile mit sich bringt.
Ich erinnere mich an eine Fachtagung vor ein paar Jahren, an der neben Betreuern auch Betroffene teilnahmen. Als es um das Thema der Veranlassung einer geschlossenen Unterbringung ging – besser bekannt unter dem Begriff Zwangseinweisung – meldete sich der Vorsitzende des Vereins der Psychiatrieerfahrenen zu Wort und kritisierte die häufige Tendenz, auf psychotische Schübe vorschnell mit der Maßnahme einer stationären psychiatrischen Behandlung zu reagieren. Daraufhin meldete sich ein Betreuer zu Wort, der schilderte, dass er keineswegs auf psychotische Schübe oder psychische Krisen grundsätzlich mit der Veranlassung der stationären Unterbringung reagiert, sondern in solchen Situationen mit dem betreffenden Betreuten immer wieder Gespräche führt und dabei versucht, durch Einsicht die freiwillige Bereitschaft zur einer entsprechenden Behandlung zu erreichen. Nur wenn dies keinen Erfolg hat und Eigengefährdung droht, greift er zu dem Mittel der Veranlassung einer geschlossenen Unterbringung.
Die Schilderung dieses Betreuers stellt ein positives Beispiel dar für ein Vorgehen, das dem Betreuten ermöglicht, an Entscheidungen teilzuhaben. Denn abgesehen davon, dass eine gegen den Willen des Betreuten vorgenommene Maßnahme immer entwürdigend und demütigend ist, werden damit auch jegliche Entwicklungsprozesse im Keim erstickt und zunichte gemacht.
Dennoch darf nicht verschwiegen werden, dass es sehr viele Fälle gibt, in denen Menschen auch gegen ihren Willen eingewiesen werden müssen, weil nur dadurch Schaden an ihnen selbst oder an anderen abgewendet werden kann. Aber dennoch gibt es genug Situationen, in denen es möglich ist andere Wege zu gehen, die weniger rigoros sind. Allerdings setzt dies die Bereitschaft voraus, dem anderen die Zeit zu ermöglichen, die sein individueller Entwicklungsprozess erfordert. Und dies ist das zentrale Thema im Umgang mit Menschen – jedem das ihm eigene Tempo zuzugestehen. Der Kontext für dieses Thema ist beliebig erweiterbar, es muss nicht gleich um eine Zwangseinweisung gehen, sondern es kann sich auch um die Form der Geldeinteilung, um die Art zu Wohnen oder um Umgang mit anderen Menschen handeln.
Auf Entwicklungsprozesse bauen anstatt Entscheidungen anzuordnen – zwei völlig konträre Lebensphilosophien mit einem ebenso konträrem Menschenbild. Wer daran glaubt, dass Menschen entwicklungsfähig sind, wird nicht die zeitsparende lösungsorientierte Entscheidung in den Vordergrund stellen, sondern die Entwicklung der Fähigkeit der Eigenverantwortlichkeit des Betreuten. Dies ist nichts für Menschen mit einer autoritären Persönlichkeitsstruktur. Und auch nichts für Menschen, die damit überfordert sind, sich in die Position des Abwartens und des Gewährenlassens zu begeben.
Das, was letztendlich entscheidend dafür ist, ob Entwicklungsprozesse zugelassen oder blockiert werden, ist zum einen die Bereitschaft, Zeit in einen Menschen zu investieren und zum anderen die Einsicht, dass die eigene Sichtweise nicht unfehlbar ist. Und letztendlich geht es auch um die klare Absage an das Bedürfnis, über andere Menschen bestimmen zu wollen. Zugegeben - einfach ist dieser Weg nicht und leider auch nicht immer von Erfolg gekrönt. Aber er stellt dennoch die einzige Chance dar, die Fremdbestimmung von Menschen so gering wie möglich zu halten.
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