Donnerstag, 13. Januar 2011, 01:54h

EX-IN – Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen in psychosoziale Arbeit

behrens

Einer meiner Betreuten nimmt seit einiger Zeit an einem Projekt teil, in dem die Teilnehmer zum Mitarbeiter in psychosozialen Diensten qualifiziert werden. Das Besondere an dem Projekt ist, dass es sich speziell an Psychiatrie-Erfahrene richtet, also an Menschen, die selbst eine psychische Erkrankung durchlebt haben.

Das Projekt nennt sich Experienced-Involvement - kurz EX-IN - und hat das Ziel, Betroffene in psychosoziale Arbeitsfelder mit einzubeziehen. Dabei geht man davon aus, dass es gerade die konkrete eigene Erfahrung ist, die das Verständnis von psychischen Erkrankungen und das Wissen über Genesung fördert und die die Kenntnisse des psychiatrischen Fachpersonals erweitert.

Ein Baustein des Projekts ist der „Trialog“, bei dem es sich um den Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Therapeuten handelt. Ein Ansatz, den man übrigens auch auf die Betreuungsarbeit übertragen kann und sollte – denn der Betreute befindet sich nicht in einem sozialen Vakuum sondern ist Teil von sozialen Beziehungen und in manchen Fällen kann sehr viel mehr erreicht werden, wenn Angehörige miteinbezogen werden.

Ich begrüße dieses Projekt und hoffe, dass dieser Ansatz Schule macht. Es ist längst überfällig, sich viel mehr mit den Betroffenen auseinanderzusetzen. Bisher gab es die klassische Aufteilung in Experten und Laien. Der Kranke ist auf seine Rolle festgelegt, und zwar auf Lebenszeit. Natürlich kann niemand, der gerade einen akuten psychotischen Schub erleidet, in diesem Zustand andere beraten. Aber eine Psychose ist kein statischer Zustand und wenn die akuten Symptome abgeklungen sind, ist es durchaus möglich, dass jemand stabil genug ist, um anderen beratend zur Seite zu stehen. Gerade weil er selbst psychotische Symptome erlebt hat und diese nicht nur aus der Sicht eines Betrachters kennt.

Ich würde mir diesen Ansatz noch viel öfter wünschen. Zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, wann Kinder zu ihrem Schutz aus einer Familie hinausgenommen werden müssen. Warum bezieht man nicht viel öfter all diejenigen mit ein, die selbst in einer Familie aufwuchsen, in der es Gewalt oder Sucht oder Missbrauch gab? Bei den Fällen von selbst Betroffenen, die mir bekannt sind, gibt es eine klare Kritik an dem Grundsatz, einem Kind erst dann einen Wechsel in ein anderes Umfeld zuzugestehen, wenn es schon fast zu spät ist.

Aber auch in anderen Bereichen halte ich das Prinzip der Mitbeteiligung für dringend erforderlich, wie zum Beispiel auch im Bereich der Verwaltung. Wir werden ständig mit wechselnden Voraussetzungen, Zuständigkeiten und Abläufen konfrontiert, die oftmals völlig an der Praxis vorbeigehen. Meine Idee ist die eines Sprecherrates, der sich aus Mitarbeitern psychosozialer Stellen zusammensetzt, aber auch aus Betroffenen. Ein Beispiel wäre die Gestaltung von Bescheiden. Niemand außer den Behördenmitarbeitern kann die amtlichen Bescheide verstehen und nachvollziehen. Eben darum benötigen immer mehr Menschen professionelle Hilfe. An der Bescheidsgestaltung sollten zwingend auch Vertreter der Bescheidsempfänger beteiligt sein.

„Willst du etwas wissen, frage Erfahrene, nicht Gelehrte“ – dieses chinesische Sprichwort steht auf dem EX-IN-Infoblatt. Und genau das sollte endlich Schule machen – die eigentlich Betroffenen in Gestaltungsprozesse mit einzubeziehen. Es geht dabei um viel mehr als nur um ein Zugeständnis an Betroffene - es geht darum, endlich die Chance wahrzunehmen, wirkliches Fachwissen zu erwerben.

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