Samstag, 20. Februar 2010, 13:58h
Ein ernstes Wort an Guido
Es geht an die Grenzen des Erträglichen, was sich unser Außenminister da leistet. Mag sein, daß seine Sprüche ein gewisses humoristisches Niveau haben – aber dies reicht nicht aus, um den Inhalt zu entschuldigen.
Ich habe mit Sicherheit mehr Einblick in die Hartz IV Problematik als unser gutverdienender Außenminister. Die Auffassung einer „spätrömischen Dekadenz“ mit der er den seiner Meinung nach herrschenden „anstrengungslosen Wohlstand“ vergleicht, macht dies deutlich. Mit einem Regelsatz von 359,00 € in einer Einkaufsgesellschaft zu leben ist alles andere als ein Zuckerschlecken und dürfte wohl kaum den Zuständen des alten Roms ähneln.
Aber mal davon abgesehen: angenommen wir würden ein neues Psychopharmaka entwickeln, das bei allen Menschen eine ausgeprägte Arbeitswut hervorruft (vielleicht Labora-fix?) Wo wären dann die dafür erforderlichen Arbeitsplätze, Herr Westerwelle? Sparen bei den Hartz-IV-Empfängern wäre in diesem Fall eine einzige Augenwischerei. Unter dem Deckmantel des Sanktionierens von Arbeitsverweigerung würde dann etwas sanktioniert werden, was es gar nicht gibt – wo nichts ist, kann auch nichts verweigert werden!
Ich habe aber vermutlich nicht nur mehr Einblick in die Welt der Hartz-IV-Empfänger als unser Außenminister, sondern auch in die Welt der Leichtlohngruppen. Und ich habe große Zweifel, ob Herr Westerwelle in der Lage wäre, 8 Stunden Non-Stopp ohne Pause in einem vollbesetzten Restaurant zu kellnern. Schichtdienst, Wochenendarbeit und 1.000,00 € brutto. Auch als Kantinenhilfe kann ich mir unseren Außenminister nur schwer vorstellen. Während meines Studiums habe ich für einige Wochen in einer Großkantine gearbeitet. Eine für mich damals gern angenommene Begleiterscheinung war mein Gewichtsverlust von 1 bis 2 Kilo pro Woche. Allerdings hätte ich diesen Job nur ein paar Monate ausführen können, da ich irgendwann das Gewicht eines Kleinkinds erreicht hätte. Knochenarbeit nennt man so etwas – wahrscheinlich weil man Gefahr läuft, irgendwann wirklich nur noch aus Knochen zu bestehen. In einer Fabrik kann ich mir Herrn Westerwelle auch nicht vorstellen. Im Akkord Flaschen verstöpseln und dabei noch nicht mal ein paar Sekunden Zeit haben für Dinge wie Nase ausschnauben, am Kopf kratzen oder gar außerhalb der Pausen aufs Klo gehen. Das Ganze bei ohrenbetäubendem Lärm und im Gestank von Chemikalien.
Und ich denke an meine Freundin, die bei einer 6-Tage-Woche nachts Taxi fährt und dabei so wenig verdient, daß sie sich nicht einmal einen Urlaub leisten kann. Oder an meinen Stiefvater, der als Fernfahrer ebenfalls eine 6-Tage-Woche hatte, die von Sonntags abends bis Freitag abend ging. Nach über 40 Jahren Plackerei hat er jetzt eine Rente von etwa 1.000,00 €. Mit Sicherheit gehören solche Menschen nicht zum Bekanntenkreis unseres Außenministers.
Besonders bemerkenswert ist bei der ganzen Diskussion das Nebeneinander von sich völlig widersprechenden Thesen: „Leistung muß sich wieder lohnen“ steht der These „Mindestlohn ist DDR ohne Mauer“ gegenüber. Ja, was denn nun, Herr Westerwelle??? Aber dies ist natürlich eine rhetorische Frage, denn es ist klar, für wen sich Leistung wieder lohnen soll – eben nicht für Kellner, Kantinenhilfen und Fließbandarbeiter sondern für den Mittelstand. Nur damit lösen wir nicht das Problem – oder vielleicht doch? Diejenigen Menschen, die sich weigern, eine Arbeit anzunehmen, bei der der Lohn nicht höher ist als das Arbeitslosengeld, werden dann eben mit den von Herrn Westerwelle so sehnlichst herbeigewünschten Kürzungen sanktioniert. Auf diese Weise kommt dann wieder mehr Geld in die Staatskasse, was wiederum dem Mittelstand zugute kommt und der revanchiert sich dafür bei der nächsten Wahl. Gar nicht so dumm, Herr Westerwelle.
Der Haken an der Sache ist allerdings die immer größer werdende Masse von sozial verelendeten Menschen. Was soll mit denen geschehen, Herr Außenminister? Aber diese Fragen gehören nicht zu einer Partei, die mit einem fast schon an religiösen Wahn erinnernden Eifer an eine freie Marktwirtschaft glaubt. Ein Wirtschaft, in der sich immer wie durch Zauberhand alles von selbst reguliert. Den Kommunismus hat man inzwischen als ideologischen Irrtum entlarvt. Wann passiert dies endlich auch bei dem Märchen von der funktionierenden freien Wirtschaft?
Ich bin aufgrund meiner starken Sympathie für Tibet kein großer China-Fan. Aber eines gab es, was mich schon in der Schule fasziniert hat: Akademiker mußten zu Zeiten Maos regelmäßig für einige Zeit in einer Fabrik oder in der Landwirtschaft arbeiten. Das wäre genau das, was ich unserem Außenminister mal verordnen würde. Würde er dann immer noch gegen Mindestlohn sein – vorausgesetzt er hält so eine schwere Arbeit überhaupt durch, was ich bezweifle – dann könnte man sich nochmal unter neuen Aspekten unterhalten.
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