Dienstag, 30. September 2008, 07:33h

Wilhelsmburger Impressionen

behrens

Mein Büro liegt im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Ich habe kein Auto und benutze daher öffentliche Verkehrsmittel. Dadurch bin ich seit nunmehr 9 Jahren täglich mit der Wilhelmsburger Bevölkerung und deren Gepflogenheiten konfrontiert. An der Zeit, den sprachlichen Eigenheiten der Wilhelmsburger Jugendlichen ein paar Zeilen zu widmen.

Wie bei allen Jugendlichen gibt es lebhafte Auseinandersetzungen. In Wilhelmsburg ist bei anstehender Meinungsverschiedenheit grundsätzlich das obligatorische "ich fick dich" bzw. "ich fick deine Mutter" zu hören. Manchmal wird die Art des Geschlechtsverkehrs auch noch spezifizierter dargestellt. Ohne diese beiden Sätze scheint nichts zu gehen. Bei Gesprächen unter den Jugendlichen rein informativer und nicht streitender Art werden mit Vorliebe Ausdrücke wie "Hurensohn" und "Schlampe" benutzt für diejenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - Mißfallen erregen. Gern wird hierbei auch der Ausdruck "behindert" benutzt.

Der Sprachstil als solcher hat seine ganz eigenen Charakteristika. Aufeinanderfolgende Sätze sind schwer in ihrem Zusammenhang zu erkennen und haben etwas sonderbar Abgehacktes. Am ehesten gleicht dies noch dem Funkverkehr, der sich aus Gründen der Ein-und Ausschaltung nur der rudimentären Worte bedient. Ob man will oder nicht - manchmal drängt sich einem die Assoziation mit Primaten auf, die bei Aufregung kehlige kurze Laute ausstoßen.

Die Thematik ist fast noch eingeschränkter als der Wortschatz. Es scheint ausschließlich um zwei Themen zu gehen: die Beschreibung des Äußeren einer Person - meist des anderen Geschlechts - oder die Beschimpfung von jemandem, die ausgiebig und unter den oben genannten Bezeichnungen ausgeschmückt wird. Hundertprozentig ausgeschlossen sind Themen wie Politik oder Kultur. Ist kein Gesprächspartner vorhanden, dient das Handy als Ersatz. Redestil und Thematik ist dieselbe, nur das der Zuhörer dies nicht in Form eines Dialogs sondern eines Monologs zu hören bekommt.

Je nach Geschlecht unterscheidet sich die Körpersprache erheblich. Den männlichen Jugendlichen scheint es völlig unmöglich zu sein, die Beine geschlossen zu halten und beim Sitzen ist mindestens ein Winkel von 90 Grad erforderlich. Dieser Winkel macht zumindest an der Bushaltestelle auch voll und ganz seinen Sinn, denn in regelmäßigen Abständen wird der Kopf leicht vorgebeugt um zwischen die Füße zu spucken. Ich vermeide es schon seit langem, an Bushaltestellen meine Tasche abzustellen, weil sich vor den Sitzen meist eine von den Spuckern hinterlassene Schleimspur befindet. Neben dem regelmäßigen Spucken gibt es noch eine weitere regelmäßig ausgeführte Handlung: das Befassen des Geschlechtsteils. Es scheint wichtig zu sein, sich immer wieder zu vergewissern, ob dieses wichtige Körperteil noch an Ort und Stelle ist.

Die Körpersprache der weiblichen Jugendlichen hat mit all dem nichts gemeinsam. Es wird züchtig mit geschlossenen Beinen dagesessen, nicht gespuckt und erst recht nicht an das Geschlechtsteil gefaßt. Überhaupt unterscheidet sich zumindest ein Teil der weiblichen Jugendlichen in ihrem Habit extrem von dem der männlichen. Während letztere immer auf dem modisch allerletzten Stand stehen, kleidet sich ein Teil der weiblichen Jugendlichen hartnäckig genauso wie ihre Großmütter und die Mode scheint anachronistisch seit Jahrhunderten stehengeblieben zu sein.


Mit dem Verschwinden des Tageslichtes verschwindet auch der weibliche Teil der Bevölkerung und man hat in Wilhelmsburg das Gefühl, sich auf dem Berge Athos in einer reinen Männergesellschaft zu befinden. Nur daß Wilhelmsburg nicht so schön ist wie Athos (bin mal mit dem Boot drum herumgefahren).

Wer mir jetzt Unverständnis für die Jugendlichen vorwirft hat vielleicht Recht. Aber derjenige arbeitet wahrscheinlich auch nicht in Wilhelmsburg. Und wer auf die aussichtslose Situation der wilhelmsburger Jugendlichen hinweist, der hat ebenfalls nicht Unrecht. Aber hier sollte man sich doch einmal jenseits aller ideologischer Schwarz-Weiß-Denkansätze fragen: wird ein Jugendlicher so, weil er keine Lehrstelle findet oder findet er vielleicht auch deswegen keine Lehrstelle, weil niemand so masochistisch ist, so einen Jugendlichen einzustellen?

Tagtäglich „ich fick dich du Hurensohn“ anhören zu müssen, kann sehr ermüdend sein. Vielleicht sollte man mehr Mitleid haben. Dann aber konsequenterweise auch mit jedem - also auch mit mir und den vielen Anderen, die diesen Sprüchen ausgesetzt sind.

P.S.: ich selbst war von der in den 70er Jahren herrschenden Lehrstellenknappheit betroffen und infolgedessen gleich nach der Schule arbeitslos. Auch ich kenne das Leben am Rande des Existenzminimums, denn mein Vater hat sich konsequent um seine Unterhaltspflicht gedrückt. Meine Mutter war Kellnerin, und hatte eine 60 Stundenwoche, so daß von Familienleben wie bei den Waltons keine Rede war und Gewalt in der Familie ist mir auch nicht unbekannt.
Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, mich bei den vielen Sozialpädagogen einzureihen, die Jugendliche immer nur als Opfer sehen.
Es muß politisch viel verändert werden. Aber dabei ist die Opferideologie alles andere als hilfreich.

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