Samstag, 17. November 2007, 07:56h

Armut als sichere Einkommensquelle für Betreuer

behrens

Armut als sichere Einkommensquelle für Betreuer

Mehr als 90 % meiner Betreuten sind arm und leben am Rande des Existenzminimums. Grundsicherungsleistungen, Hartz 4 oder eine kleine Rente plus Wohngeld – Armut wird aus verschiedenen Töpfen finanziert. Armut bedeutet hier in Deutschland nicht Hunger und Frieren. Anders als in der Nachkriegszeit oder als beispielsweise in Kalkutta oder Kabul sind hier die Grundbedürfnisse erfüllt und die Menschen müßten also zufrieden sein. Sind sie aber nicht, denn unsere Gesellschaft gleicht mehr einem riesigen Shoppingcenter als einem sozialen Gefüge. Während die überall und jederzeit präsente Werbung geschickt und ausgeklügelt ständig neue Bedürfnisse weckt, sollen Arme hier den Gürtel enger schnallen.

Armut gab es schon immer und Armut hatte auch immer schon ein häßliches Gesicht und man darf die sogenannten „guten alten Zeiten“ nicht verklären. Aber früher wurde man für den Umgang mit Armut erzogen. So enthielt zum Beispiel jedes alte Schulkochbuch noch diverse Spartipps (echte und falsche Buttercreme! Die Resteküche!) und lehrte, den schmalen Geldbeutel auszutricksen. Schulunterricht enthielt noch Stricken, Nähen, Kochen - allerdings der Rollenverteilung entsprechend nur für Mädchen, die Jungen hatten „Werken“, was jedoch auch in Richtung Sparsamkeit ging, selber Lampen bauen und Nähkästen herstellen. Spielzeug für die Kinder kam oft aus Eigenproduktion; der Vater baute die Puppenstube, die Mutter kleidete die Puppen ein. Die ganze Schulklasse hat einmal wöchentlich Sparmarken (20 bis 50 Pfennig) geklebt, die am Weltspartag in der Bank eingezahlt wurden.

Auch Freizeit war früher kostenlos oder zumindest kostenarm, den es gab noch keine Eventmanager (heute tatsächlich ein Ausbildungsberuf!), die entdeckt haben, daß man aus Menschen, die ihre Feste selbst organisieren auch Menschen machen kann, die dies plötzlich nicht mehr können.

Doch Vorsicht: würden die Menschen heute plötzlich wieder so wie unsere Großeltern leben und nur das kaufen, was sie wirklich bräuchten, hätten wir binnen zwei Wochen Massenentlassungen und noch mehr Arme. Sparsame und unabhängige Lebensweise ist nämlich auch wirtschaftsschädigend, denn Wirtschaft funtioniert nur, wenn aus voller Kraft gekauft wird.

Wie bereits gesagt, Armut hatte immer schon ein häßliches Gesicht aber heute ist aus der Armut zusätzlich noch eine lächerliche Karikatur des Wohlstands geworden, denn Arme versuchen verzweifelt den Lebensstil derer zu imitieren, die mehr Geld haben. Auch die Kinder von Hartz 4 Empfängern haben selbstverständlich Handys und einen PC und manchmal tragen sie auch Markenkleidung. Das war’s dann aber auch schon – keine wirklichen Interessen, keine aktive Beteiligung am sozialen Leben und völlige Abhängigkeit von staatlichen Zuwendungen. Und nicht selten muß Mama die Lebensmittel von einer der vielen öffentlichen Essensausgabestellen holen, da das Budget für die Nahrungsmittel schon mal für die Telefonrechnungen herhalten muß.

Die Solidarität mit Armen verschwindet zunehmend und Arme stellen immer mehr eine Bedrohung für diejenigen dar, die momentan (noch nicht) arm sind. Das Bild des Armen hat sich vom Mitleidserreger zum Feindbild gewandelt. Und das ist noch nicht einmal völlig unverständlich, denn jetzt stellen die Armen die gleichen hohen Ansprüche wie alle andern auch, ohne anscheinend auch nur einmal daran zu denken, daß andere ja für sie mitarbeiten müssen. Das wurmt natürlich besonders diejenigen aus den unteren Lohnschichten, die oftmals kaum mehr Geld als ein Hartz 4 Empfänger haben, wobei letzterer zumindest über Freizeit verfügen kann.

Diese ganze Entwicklung läßt sich nicht mehr zurückdrehen. Die absolute Priorität des Wirtschaftswachstums in unserer Gesellschaft ist nicht zu trennen vom Wachstum der Bedürfnisse und somit wird alles getan, um möglichst viele und möglichst neue Bedürfnisse zu wecken. Und das ist etwas, was die Wirtschaft erschreckend perfekt beherrscht. Aber einmal geweckte Bedürfnisse sind wie die Geister aus Goethes Zauberlehrling: man kann sie zwar herbeirufen aber nicht wieder zum Verschwinden bringen. Wir müssen also wohl oder übel leben mit Armen, die sich nicht mehr benehmen wollen wie Arme.

Was hat das alles jetzt mit Betreuungsarbeit zu tun? Wie der Titel schon sagt, für uns als Betreuer ist die zunehmende Armut eine sichere Einkommensquelle. Die Armut unserer Zeit hat eben nicht wie die Armut aus früheren Zeiten als Begleiterscheinung die Entwicklung von sozialen Kompetenzen sondern das Gegenteil ist eingetreten, nämlich der Verlust sozialer Fähigkeiten. Früher lautete der Wahlspruch „Armut macht erfinderisch“ und aus der Not wurde eine Tugend gemacht. Die Armen unserer Gesellschaft sind nicht mehr erfinderisch sondern resigniert und sämtliche Tugenden sind abhanden gekommen. Dafür gibt es aber jetzt ja uns Betreuer.

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