Dienstag, 16. Juni 2015, 03:58h
Eine Familie lebt mit einer Leiche in der Küche – wann überlässt man Hilfsbedürftige sich selbst?
Vor einigen Jahren kam eine in meinem Bezirk wohnende Familie in die Schlagzeilen, weil sie den Tod des Familienvaters vertuscht hatte und seinen Leichnam fast zwei Jahre lang in der Wohnung versteckte. Bei der Familie handelte es sich um eine Mutter mit zwei erwachsenen Töchtern, die alle drei an einer geistigen Behinderung litten. Als der Vater an einem Herzinfarkt verstarb, wurde er auf Anweisung der Mutter in einen Teppich eingerollt und in der Küche deponiert. Irgendwann flog dann die Sache auf – nicht zuletzt auch wegen des Verwesungsgeruchs – und für die Mutter und die Töchter wurde sofort eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, weil umgehend für alle drei eine neue Bleibe gesucht werden sollte.
Ich habe damals die Hintergründe dieses Vorfalls aus nächster Nähe mitbekommen, da meine ehemalige Kollegin, mit der ich zu der Zeit gemeinsam in einer Bürogemeinschaft arbeitete, die Betreuung einer der Töchter übernahm. Die Medien haben sich natürlich sofort auf diese schauerliche Geschichte gestürzt und ziemlich schnell wurde auch erwähnt, dass die Familie früher einmal rechtlich betreut worden war, die Betreuung jedoch inzwischen nicht mehr existierte. Die damalige Betreuerin hatte die Aufhebung unter anderem beantragt, weil sich die Mutter gegen die Betreuung sperrte, niemanden in die Wohnung ließ und außerdem die grundlegenden Angelegenheiten der finanziellen Versorgung geregelt worden waren.
Als meine damalige Kollegin die Betreuung übernahm, wurde sehr schnell deutlich, dass es einen riesigen Handlungsbedarf gab, denn die sehr dominante Mutter hatte ihre Töchter völlig bevormundet und als meine Kollegin eine geeignete Einrichtung fand, in der die Betreute viel freier und selbstbestimmter leben konnte, lebte sie erfreulicherweise sichtbar auf. Dennoch gab es leider kein Happy End, denn die Betreute lebte nicht mehr sehr lange, da sie an Krebs erkrankt war. Die Mutter, die jeden Außenkontakt verbot, hatte ihren Töchtern auch Arztbesuche untersagt, so dass die Krebserkrankung sich schon in einem extrem fortgeschrittenen Stadium mit bereits sichtbaren Tumoren befand, die nicht mehr behandelbar waren.
Bei dieser tragischen Geschichte stellt sich unweigerlich die Frage, ob eine derart desolate Familie einfach sich selbst überlassen werden darf. Die Tatsache, dass bei Bekanntwerden der Tragödie sofort mit Hochdruck und im Eilverfahren für jede der drei Beteiligten eine rechtliche Betreuung eingerichtet wurde, zeigt eindeutig, dass es nicht den geringsten Zweifel an deren Notwendigkeit gab. Allerdings muss man fairerweise auch sagen, dass ein Betreuer nicht hellsehen kann und es auch bei sehr desolaten Familien normalerweise nicht zu derartigen Tragödien kommt. Und da die Mutter den Zutritt zur Wohnung konsequent verweigerte, hätte es durchaus auch trotz einer rechtlichen Betreuung zu der grotesken Situation des Zusammenlebens mit einer Leiche kommen können. Dies wäre dann bei Bekanntwerden ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen, die dann etwas hätten vorführen können, auf das in diesem Fall verzichtet werden musste – einen Verantwortlichen. Vor diesem Hintergrund stellt die Beendigung der Betreuung einen durchaus verständlichen Selbstschutz dar, denn die mit einer rechtlichen Betreuung verbundene Verantwortung kann nur schwer übernommen werden, wenn nicht ein Mindestmaß an Kooperation vorhanden ist.
Aber auch bei Berücksichtigung dieser Argumente ist die Frage danach, ob man eine offensichtlich an erheblichen Defiziten leidende Familie einfach sich selbst überlassen darf, nicht beantwortet. Und eine eindeutige Antwort wird es wahrscheinlich auch nicht geben, denn die hängt von dem Arbeitsansatz und dem Selbstverständnis eines rechtlichen Betreuers ab. Man kommt also nicht umhin, die verschiedenen Arbeitsansätze gegenüber zu stellen.
Der Arbeitsansatz, demzufolge es sich bei dem Betreuten um einen „Kunden“ handelt, wird dazu tendieren, die Frage nach Begründbarkeit der Beendigung der Betreuung sofort mit einem klaren Ja zu beantworten, denn wenn der Kunde die ihm angebotene Dienstleistung – in diesem Fall die rechtliche Betreuung – ablehnt, kommt ein dauerndes Geschäftsverhältnis nicht zustande. Bei dem Arbeitssatz, demzufolge es sich bei dem Betreuten um einen Klienten und somit um einen Hilfebedürftigen handelt, ist die Entscheidung nicht so einfach. Denn der Hilfebedarf eines Menschen kann durchaus auch beinhalten, dass der Betreffende eben auch nicht mehr in der Lage ist, erforderliche Hilfe anzunehmen, so wie es zum Beispiel sehr eindeutig bei Demenz oder bei akuter mit Wahnvorstellungen verbundener psychotischer Symptomatik der Fall ist. Und anders als bei der Arbeit mit „Kunden“ besteht das Ziel der Arbeit mit Klienten darin, Entwicklungsprozesse zu fördern, die dem Betreffenden einen größeren Handlungsspielraum und somit Veränderung ermöglichen.
Der eigentliche Unterschied zwischen kaufmännischem und sozialarbeiterischem Ansatz liegt jedoch darin, dass Soziale Arbeit genau darin besteht, sich konfliktreichen und schwierigen Beziehungen zu stellen anstatt ihnen auszuweichen. Um dies mit einem Beispiel zu verdeutlichen: in einer Kita oder in einer Jugend-WG würde man Kinder oder Jugendliche, die schwierig im Umgang sind oder die den Kontakt verweigern, nicht einfach ausschließen, sondern natürlich würde man sich gerade um diese Kinder und Jugendlichen besonders bemühen. Davon ausgehend, dass gerade gegenüber denjenigen, die unter besonderen Problemen leiden, eine besondere Verantwortlichkeit besteht, würde man alles tun, um in ihrer Entwicklung positive Impulse zu setzen.
Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass es durchaus auch in der Sozialen Arbeit Bereiche gibt, in denen berechtigterweise der Ansatz vertreten wird, letztendlich dem Klienten die Wahl zu überlassen, ob er die Hilfe annimmt oder nicht, da davon ausgegangen wird, dass ohne die bewusste Zustimmung auch keine konstruktive Zusammenarbeit möglich sein wird. Hier wäre als Beispiel die suchttherapeutischen Einrichtungen zu nennen, deren Mitarbeiter es als hoffnungslos einstufen, wenn jemand zur Therapie gezwungen wird, weil therapeutische Prozesse nur auf der Grundlage von Freiwilligkeit möglich sind.
Vielleicht ist die Ausgangsfrage eine Frage, die nicht nur die Unterschiede in der unterschiedlichen Arbeitsauffassung rechtlicher Betreuer betrifft, sondern generell die Beziehungen zwischen Menschen. Vielleicht geht es auch darum, ob man nur harmonische Beziehungen als erhaltenswürdig einstuft oder aber auch die mit Konflikten verbundenen. Und vielleicht spielt es dabei eine entscheidende Rolle, ob man bereit ist, sich Konflikten zu stellen und es dabei auch aushält, nicht nur positive, sondern auch negative Rückmeldungen zu erhalten.
Last-not-least: was würde man erwarten, wenn man sich selbst in der Situation befände, einen mit seinen Kindern zusammenlebenden geistig behinderten Angehörigen zu haben, der mit seiner Alltagsbewältigung überfordert ist, aber gleichzeitig Hilfsangeboten ablehnend gegenüber steht? Würde man darauf hoffen, dass der Betreuer am Ball bleibt und alle bestehenden Möglichkeiten der Hinzuziehung weiterer Hilfsangebote nutzt? Würde man sich wünschen, dass wenigstens ein Mindestmaß an Betreuung bestehen bliebe, weil dies die einzige Möglichkeit ist, eine Verschlimmerung der Situation zu verhindern?
Hier zwei Zeitungsartikel zu dem Vorfall:
http://www.mopo.de/news/eissendorf--mutter-und-toechter-hausten-neben-dem-familienvater---er-lag-unterm-kuechenfenster-3-frauen-lebten-neben-einem-toten,5066732,6439892.html
http://www.welt.de/print-welt/article508854/Leichenfund-in-Harburg-CDU-fordert-Aufklaerung.html
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