Mittwoch, 27. Oktober 2010, 01:32h

Gewissensnot, Zweifel und faule Ausreden

behrens

Manchmal gibt es Situationen, die kaum noch erträglich sind. Gestern wurde mir mitgeteilt, dass sich in einer von mir betreuten Familie schauerliche Dinge ereignen. So schauerlich, dass es nicht mehr zu verantworten ist, die Kinder dort zu lassen. Ich habe die Nacht kaum geschlafen, da ich mir immer und immer wieder die Frage stelle, ob ich etwas hätte verhindern können.

Ich hasse diese Gratwanderung zwischen Akzeptanz und Eingreifen. Dieses Abwägen, ob eine Situation noch verantwortbar ist oder aber ob sie soviel Gefahr mit sich bringt, dass man intervenieren muss. Lässt man den Betreffenden ihre Selbstbestimmung oder setzt man etwas auch gegen ihren entschiedenen Willen durch?

Das Tragische an der Situation ist, dass man oftmals erst im nachherein weiß, ob die Entscheidung richtig oder falsch war. Bei der jetzigen Situation, um die es hier geht, wird mir klar, dass ich zum damaligen Zeitpunkt anders handeln hätte müssen. Damals sagte mir eine innere Stimme, dass die Interventionen des Jugendamtes nicht rigoros genug sind. Aber ich bin nicht der inneren Stimme gefolgt, sondern bin den einfacheren Weg gegangen. Den der Toleranz und des Abwägens.

Ich könnte mich jetzt 100prozentig damit herausreden, dass nicht ich an der Tragödie schuld bin, denn die entscheidenden Stellen waren schon seit langem involviert und eventuelle Interventionen liegen überhaupt nicht in meiner Entscheidungsbefugnis. Ich bin rechtliche Betreuerin und somit allein für die rechtliche Vertretung des Betreuten zuständig.

Aber dies wäre tatsächlich nichts anderes als ein Herausreden. Es gab in meiner Berufspraxis immer wieder Situationen, in denen ich etwas gemacht habe, was über die rein rechtliche Betreuung hinausging. Beispielsweise wäre der Ehemann einer von mir betreuten Frau fast gestorben, wenn ich nicht schnellstmöglich die entscheidenden Hilfen veranlasst hätte. Die Tochter einer Betreuten hätte höchstwahrscheinlich nicht ihr Abitur machen können, wenn ich mich ausschließlich nur auf die rechtliche Betreuung der Mutter beschränkt hätte. Immer wieder kommt es vor, dass man als Betreuer Einblick in Zustände bekommt, in denen es nicht ein einzelnes Problem gibt, sondern unzählige, die alle eng miteinander verwoben sind. Manchmal hat man einen viel intensiveren Kontakt als die Mitarbeiter anderer Stellen und kann daher auch bestimmte Dinge besser beurteilen.

Warum habe ich meiner inneren Stimme nicht mehr Beachtung geschenkt? Ich glaube, es war Feigheit. Die Feigheit, mich mit einer ziemlich rigorosen und autoritären Ansicht durchzusetzen. Die aber im nachherein die richtige gewesen wäre. Es gibt ein ungeschriebenes Gebot im sozialen Bereich, immer noch alles zu versuchen. Hier noch eine Hilfestellung, dort noch eine pädagogische Maßnahme und viele, viele runde Tische. Einfach ganz autoritär zu sagen: „Es reicht – so geht es nicht weiter“ – damit verliert man als Sozialarbeiterin die Sympathien. Und damit auch fast die Existenzberechtigung, denn wir sind ja da um zu verstehen und zu helfen.

Manchmal bin ich regelrecht neidisch auf die Menschen, die einfach mit der Schulter zucken und lapidar darauf verweisen, dass sie nicht zuständig sind. Menschen, die dieses lästige Nachdenken und Zweifeln nicht kennen. So wie die Bürokraft eines Kollegen, die noch nicht einmal die Bitte nach ein paar Kopien erfüllen wollte, weil dies – wie sie hochempört feststellte – nicht zu ihrem Arbeitsauftrag gehören würde, der natürlich strikt nur vom Chef erteilt werden darf. Oder wie die Kollegen im Betreuungsverein, denen die dortigen Betrügereien völlig gleichgültig waren, denn schließlich müssen Chefs ja selbst wissen, was sie tun. Vielleicht bin ich aber gar nicht so viel anders? Vielleicht unterscheide ich mich nur in gradueller aber nicht in prinzipieller Hinsicht?

Ich sehe ein Kind vor mir, das im Kindergarten nicht mit den anderen spielen will; sondern allein im Flur sitzt. Das schon im Alter von 10 Jahren davon spricht, nicht mehr leben zu wollen. Ein Kind mit einem versteinerten regungslosen Gesicht.

Und ich sehe dieses Kind auch vor dann noch vor mir, wenn ich mir sage, dass andere die Verantwortlichen sind. Das ist nämlich eine Lüge. Eine sehr bequeme und feige Lüge.

Ich kann nur ahnen, was dazu geführt hat, dass ein kleines Kind sich den Tod wünscht. Ich habe dunkle Ahnungen, die mich auch heute nicht schlafen lassen werden. Aber ruhig geschlafen hat dieses Kind sicherlich auch nicht…

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