Mittwoch, 29. September 2010, 19:56h
Locked-in-Syndrom – Schmetterling und Taucherglocke
Jean-Dominique Bauby erlitt im Alter von 43 Jahren einen schweren Schlaganfall, der so starke Schädigungen verursachte, dass eine komplette Lähmung die Folge war, die auch das gesamte Sprachvermögen zerstörte. Kommunikation war nur noch durch das Blinzeln des linken Auges möglich. Diese schwere Erkrankung wird als Locked-in-Syndrom bezeichnet.
Locked-in – also das Eingeschlossen-Sein im eigenen Körper – bedeutet die vollständige Abhängigkeit von der Versorgung durch die Umwelt in Verbindung mit dem Fehlen der Möglichkeit der Mitteilung. Gleichzeitig erlebt der Erkrankte diese Situation bei vollem Bewusstsein. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Qualen dieser Zustand beinhaltet.
Jean-Dominique Bauby hatte allerdings trotz seiner völligen Lähmung noch eine Möglichkeit der Kommunikation. Durch das Blinzeln des linken Auges konnte er noch Zustimmung ausdrücken. Wenn ihm von seiner Logopädin ein Alphabet vorgelesen wurde, konnte er durch Blinzeln bei einem Buchstaben Wörter buchstabieren. Das Alphabet war speziell für diese Kommunikation abgeändert, indem es auf die Häufigkeit der Buchstaben aufbaute. Und obwohl diese Form der Kommunikation von beiden Seiten enorme Geduld und Konzentration erfordert, fasste Bauby den Entschluss, ein Buch zu schreiben, das nach etwa einem Jahr veröffentlicht und 10 Jahre später mit dem Titel „Schmetterling und Taucherglocke“ auch verfilmt wurde.
Und eben dieses Buch und dieser Film ermöglichen den Einblick in die Gefühlswelt eines Menschen, dem jede Äußerung und Mitteilung sprachlicher oder körperlicher Form versperrt ist. Diese extreme Form der Erkrankung, die es für die Umwelt nahezu unmöglich macht, mit dem Kranken in Verbindung zu treten, wurde durch den eisernen Willen von Bauby und seiner Logopädin gewissermaßen „ausgetrickst“.
Nur drei Tage nach Erscheinen des Buches im Jahr 1997 verstarb Bauby an Herzversagen. Viele Menschen, die Erfahrung im Umgang mit Schwerkranken haben, machen immer wieder die Erfahrung, dass viele Menschen erst dann sterben, wenn sie bewusst loslassen. Und oftmals kann dieses Loslassen erst dann eintreten, wenn ein bestimmtes Ereignis oder Erwartung erfolgt ist. So wie etwa eine Aussprache oder Klärung mit einem nahestehendem Menschen. Oder auch die Geburt eines Enkels oder ein langersehntes Wiedersehen mit einer geliebten Person.
Ich kann mir vorstellen – auch wenn dies reine Spekulation ist – dass auch bei Bauby ein Loslassen erst möglich war, nachdem er sich seiner Umwelt mitgeteilt hat. Das Buch war für ihn ein Heraustreten aus der Sprachlosigkeit. Eine Möglichkeit, wieder in Verbindung zu seinen Mitmenschen zu treten.
Eines der ersten Worte, das Bauby gleich zu Beginn des Kontakts mit der Logopädin formulierte, war das Wort „Sterben“. Und eindruckvoll war die Reaktion der Logopädin hierauf, die nicht etwa rational-verständnisvoll reagierte, sondern höchst subjektiv und emotionell – meine Kollegen würden dies wahrscheinlich als unprofessionell bezeichnen – ihre Entrüstung ausdrückte. Eben dies hat dazu geführt, dass Bauby nicht aufgab, sondern den Entschluss des Schreibens eines Buches fasste.
Eine einfühlsame Logopädin, der das Leben eines Menschen sehr viel bedeutet und ein Schwerkranker, der dadurch wieder Mut zum Leben fasste. Und der eben deshalb die Möglichkeit der Mitteilung seiner selbst erhielt. Dadurch konnte weder die Erkrankung geheilt werden noch wurde letztendlich der frühe Tod verhindert. Aber darum ging und geht es nicht. Jemandem wurde ein menschenwürdiges Sterben ermöglicht. Ein Sterben nicht in Isolation und Einsamkeit, sondern in der Möglichkeit des Austauschs und des Miteinanders.
Montaigne schreibt „Ich kann mir keinen Zustand denken, der mir unerträglicher und schauerlicher wäre, als bei lebendiger und schmerzerfüllter Seele der Fähigkeit beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen“. Besser kann man die Situation eines Locked-in-Erkrankten nicht ausdrücken. Und besser kann man nicht darauf hinweisen, was ein Schwerkranker so dringend benötigt – jemanden, sich die Mühe macht, seine Situation nachzuempfinden und der ihm dabei hilft, sich Ausdruck geben zu können. Dann kann vielleicht auch ein würdiges Sterben möglich sein.
Siehe auch "Bis auf den Grund des Ozeans" von Julia Tavalaro und "Locked-In-Syndrom und große Liebe"
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Während man im Film in der Rolle des Beobachters die schwere Erkrankung vor Augen hat, da man den Autor von außen sieht, bietet das Buch die Sichtweise hinaus auf die Welt. Und gerade, weil der Autor zu keiner Aktivität mehr in der Lage ist und somit auf seine Wahrnehmung beschränkt bleibt, tut sich eine sensible Welt auf.
Das Buch macht deutlich, wieviel Macht Gedanken haben können. Normalerweise ist dies oft im Negativen präsent, wenn z.B. Traumen nicht überwunden werden oder wenn sich bei einer Depression immer wieder die gleichen negativen Gedanken im Kreis drehen. Hier ist es das Gegenteil – die Erinnerungen bilden eine Art Vorratsfond, an dem man sich bedienen kann, wenn die Realität nicht mehr viel zu bieten hat. Es ist beeindruckend, wie Jean-Dominique Bauby, der oral keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann, sich das tatsächliche Essen durch das Erinnern an frühere Mahlzeiten ersetzt. Mir fällt dabei ein Ausspruch des Mystikers Meister Eckehard ein, der die Vorstellungskraft als etwas Wunderbares pries und hierfür als Beispiel anführte: „Selbst im Winter kann ich mir eine Rose vorstellen“.
Das Buch ist ein uneingeschränktes Ja zum Leben. Und gleichzeitig eine Ermahnung, die daran besteht, sich die Mühe zu machen, den anderen so wahrzunehmen, wie er tatsächlich ist und diese Wahrnehmung weder durch Projektionen noch durch Imaginationen zu trüben. Nicht ständig davon auszugehen, wie man selbst mit der Situation umgehen würde, sondern wahrnehmen, was den anderen in seiner Gefühlswelt und seinen Wünschen ausmacht.
Jean-Dominique Bauby hat von seinen Freunden viele Briefe erhalten. Und einer seiner Freunde schrieb ihm vom „Mysterium jeder einzelnen Existenz“. Und darum geht es im Umgang mit Menschen, insbesondere mit denen, die unserer Hilfe bedürfen – diesem Mysterium der einzelnen Existenz zu ermöglichen, sich verwirklichen zu können. Das ist ein hohes Ziel, dem man wahrscheinlich nur in den seltensten Fällen gerecht werden kann. Aber als Ziel darf man es dennoch nicht aus den Augen lassen, wenn man dem anderen gerecht werden will.
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Eine meiner Betreuten befand sich vor einigen Jahren im Wachkoma. Sie wurde dann sehr engagiert und intensiv von ihrer Schwester betreut und irgendwann erwachte die Betreute aus dem Koma. Die Schwester ist trotz des Komas mit meiner Betreuten ans Meer gefahren, weil sie wusste, dass meine Betreute früher das Meer liebte. Mich hat sehr beeindruckt, dass sich jemand durch die - vermeindliche! - Teilnahmelosigkeit nicht hat abschrecken lassen, so eine Idee umzusetzen. Für mich ist es sicher, dass meine Betreute haptsächlich aufgrund der liebevollen und einfühlsamen Umsorgung ihrer Schwester wieder ins Leben zurückfand.
http://home.arcor.de/sonjaackermann/WachkomaOnline/therapien_zieger.htm
P.S. Auch der Verfasser dieser Seite hat den Ausspruch Montaignes zitiert, der sowohl die Situation der Wachkomapatienten als auch die der Patienten des Locked-In-Syndroms sehr genau beschreibt. Wenn man einmal davon ausgeht, dass Montaigne bei der Formulierung seiner Gedanken höchstwahrscheinlich nicht den Schwerkranken beschrieb, sondern eine Grenzsituation des "ganz normalen" Menschens, dann heißt dies, dass der Wachkoma- oder der Locked-In-Patient sich nicht zwangsläufig von den Gesunden unterscheidet - vielmehr stellt die Situation, in der man seinem Leiden keinen Ausdruck mehr geben kann, eine grundlegende Möglichkeit des menschlichen Seins dar.
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