Dienstag, 17. August 2010, 22:49h

Der Tod der kleinen Lara II - der Ruf nach Bestrafung

behrens

Eben gerade habe ich die Berichterstattung über die Gerichtsverhandlung im Fall des tragischen Todes der kleinen Lara aus Wilhelmsburg angesehen. Vor 1 1/2 Jahren wurde Lara so von ihren Eltern vernachlässigt, dass sie an Unterernährung starb.

Diesmal ging es nicht um die Eltern, die bereits vor einiger Zeit Bewährungsstrafen (2 Jahre für die Mutter, 9 Monate für den Stiefvater) erhalten haben, sondern diesmal ging es um die pädagogische (keine rechtliche) Betreuerin, für die vom Staatsanwalt eine Geldstrafe in Höhe von 2.700,00 € per Strafbefehl gefordert wurde. Die Betreuerin nahm nicht an der Verhandlung teil; ihr Anwalt schilderte, dass sich seine Mandantin sehr viele Vorwürfe über Laras Tod machte und sich deswegen seit einem Jahr in psychologischer Behandlung befindet. Ihre Verfassung sei so schlecht, dass sie nicht in der Lage sei, an der Verhandlung teilzunehmen.

Bei der Verhandlung waren auch Angehörige von Lara dabei. Mit einigem Entsetzen habe ich deren empörte Reaktion auf das ihrer Meinung nach viel zu geringe Strafmaß vernommen: „Das kann doch nicht wahr sein, dass die Betreuerin einfach so davonkommt. Wir haben immer wieder bei der Behörde angerufen. Die Betreuerin lacht sich jetzt doch eins.“ Wie können Menschen so dumpf und gedankenlos sein, davon auszugehen, die Betreuerin würde sich jetzt "eins lachen"?

Wir haben immer wieder angerufen“ – wieso haben die Verwandten, die jetzt nach harter Bestrafung der Betreuerin schreien, es beim Anrufen belassen? Wenn man mitbekommt, dass ein Kind in der Familie unterversorgt ist, reicht es nicht, anzurufen. Wenn einem das Kind wirklich etwas bedeutet, dann greift man ein und hilft ihm.

Mag sein, dass man mir jetzt Einseitigkeit vorwerfen kann, da ich als Betreuerin nicht nur die Situation des Kindes sehe, sondern auch meine potentielle eigene Situation. Aber manchmal kann ich es einfach nicht mehr ertragen – dieses entrüstete Fingerzeigen auf die Anderen. Dies Verantwortlichmachen aller und jeder – ausgenommen der eigenen Person. Die Anderen sollen sich kümmern, die anderen sollen die Verantwortung tragen. Institutionen, Sozialarbeiter, Betreuer – auf keinen Fall sind die tatsächlichen Angehörigen mitverantwortlich.

Es gibt für Betreuer immer eine schmale Gratwanderung zwischen zwei Vorwürfen. Der eine Vorwurf ist der des sich nicht genug Kümmerns. Der andere Vorwurf ist der des sich zuviel Kümmerns, der blitzschnell auch in den Vorwurf der Entmündigung gipfeln kann. Wer dafür eintritt, dass man Kinder, deren Eltern in keiner Weise fähig sind, ihre Kinder zu versorgen, in eine Pflegefamilie oder gar zu Adoptiveltern gibt, der muss sich die schlimmsten Vorwürfe anhören. Dabei wäre dies genau das, was für das Kind – und um das geht es ja – das Beste wäre. Wenn man Kinder bei solchen Eltern wie die der kleinen Lara belässt, dann ist die Vorstellung einer hundertprozentigen Sicherheit im Sinne einer ausreichenden Versorgung und Erziehung reine Augenwischerei.

Zur Zeit gibt es ja eine lebhafte Diskussion über den Vorschlag von der Leyens, die mittellosen Familien Bildungsgutscheine für Eltern zukommen lassen will, anstatt den Regelsatz zu erhöhen. Das wird mit Schlagworten wie „Entmündigung“ und „Diskriminierung“ gekontert, denn man solle doch den Eltern so viel Vertrauen entgegenbringen, dass man sie selbst das Geld ausgeben lässt. Aber wenn Eltern noch nicht einmal in der Lage sind, sich ausreichend um die Ernährung ihrer Kinder zu kümmern, dann werden sie wohl kaum in der Lage sein, sich ausreichend um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern. Man muss die Entscheidung fällen, was mehr wiegt: das Selbstbestimmungsrecht der Eltern oder aber die Rechte der Kinder.

Im Falle von Lara haben alle versagt – Eltern, Verwandte, Nachbarn, Behörden, Betreuerin, Politiker. Lara musste sterben, weil sie Eltern hatte, die nicht in der Lage waren, Eltern zu sein. Weil auch ambulante Hilfen in so einer Situation nicht unfehlbar sind. Weil die Verwandten es dabei beließen, Anrufe zu tätigen. Weil die Nachbarn wegsahen. Weil es Gesetze gibt, die nicht das Kindeswohl, sondern das Elternwohl in den Mittelpunkt stellen. Weil in unserer Gesellschaft die Gruppe derer, die nicht in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen, immer größer wird. Und letztendlich: weil niemand sich Gedanken darüber macht, wie es zu so einer Entwicklung gekommen ist.

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Es ist halt total einfach, immer mit dem Finger auf andere zu zeigen. Da verwundert es nicht, dass alle immer nur von sich weg auf die anderen zeigen.

Die Mit-Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ein Kind auf so grausame Art und Weise an der Gefühlstaubheit seiner Eltern zugrunde geht, wäre ein großer Schritt. Zu groß für die meisten Menschen. Denn dass das so ist und in unserer Gesellschaft (wie in vielen anderen auch) immer wieder vorkommt, ist eine Tatsache, die die meisten nicht einmal sehen wollen. Wer nicht sieht, kann aber auch seinen eigenen Teil der Verantwortung nicht sehen.

Die moralinsaure Entrüstung über das Versagen der anderen hängt mir wirklich zum Hals raus. Erst neulich, als der kleine Julian tot in der Garage seines Elternhauses gefunden wurde, waren die fassungslosen Nachbarn wieder ganz schnell vor dem Mikrofon, um kundzutun, dass sie glaubten, im idyllischen Delligsen ("hier bei uns") könne so etwas nicht passieren. Ich will ihnen das Recht auf Schockiert-Sein nicht absprechen, aber ich bin der Ansicht, wer sich vormacht, so etwas "gebe es nicht" (wo auch immer), der trägt seinen Teil dazu bei, dass solche Taten überhaupt möglich werden.

Irgend einen Buhmann werden alle beteiligten Seiten auch in diesem Fall wieder finden, und dann ist es wieder niemand gewesen. Simple Erklärungen gibt es nicht, und das ist für manche schwer zu begreifen.

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Irgend jemand hat unsere Zeit einmal als "Das Zeitalter der Projektion" beschrieben. Fehler und Versäumnisse werden nur nur bei den anderen gesehen, Reflexion der eigenen Unzulänglichkeiten gibt es kaum noch. Das würde ja auch nicht mehr passen, in einer Zeit, in der die Außendarstellung ja schon groteske Formen angenommen hat und es nur noch "hochqualifizierte", "engagierte", "erfahrene" und "attraktive" Menschen gibt. Die Leidtragenden sind die Schwächsten unserer Gesellschaft, für die diese Projektionen ins Gegenteil umschlagen.

Misstände verschwinden nun mal nicht durch Schönfärberei, sondern durch Öffentlichmachen.

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