Samstag, 17. Juli 2010, 16:09h
Versäumnisse
Es gibt immer wieder Situationen, in denen man sich dessen bewusst wird, dass man etwas nicht getan hat, was unbedingt getan hätte werden müssen. Man schiebt etwas immer wieder vor sich hin. So ist es mir bei einer schwerkranken Betreuten passiert. Die Betreute ist Ende 40 und seit ihrem 15. Lebensjahr an Multipler Sklerose erkrankt. Mittlerweile hat sie die höchste Pflegestufe und benötigt bei nahezu allen Verrichtungen Hilfe und sie leidet ungeachtet der hohen Gabe von Medikamenten unter erheblichen Schmerzen. Trotz ihrer schweren Erkrankung hat sie vor etwa 10 Jahren ihre große Liebe kennengelernt und geheiratet. Aber dieses Glück währte nur kurz, denn ihr Mann erkrankte an Krebs und verstarb vor 5 Jahren. Ein Verbleiben in der eigenen Wohnung war nun nicht mehr möglich und ich suchte ein spezielles Pflegeheim für sie aus.
Meine Betreute ist in ihrer neuen Bleibe niemals wirklich heimisch geworden und da sie eigentlich aus einem anderen Bundesland stammt, vereinbarten wir den Wechsel in ein dortiges Heim. Meine Betreute versprach sich davon den Kontakt zu ihrer dort wohnenden Mutter, anderen Verwandten und früheren Freunden. Aber leider hat sich ihre Erwartung nicht erfüllt, denn die Mutter zeigte kein Interesse an Kontakt und hat ihre Tochter seit dem Einzug vor etwa 8 Monaten nur ein einziges Mal besucht. Mir war immer bekannt, dass es auch noch eine Tante gibt, an der meine Betreute sehr hängt und die auch schon vor vielen Jahren den Vorschlag machte, dass ihre Nichte doch wieder in die Nähe ziehen sollte. Leider hatte ich keine aktuelle Telefonnummer und die Mutter meiner Betreuten war mir bei meiner Nachfrage wenig behilflich.
Und als ich jetzt einmal ein bisschen Zeit hatte, habe ich das getan, was ich eigentlich schon lange tun wollte, aber immer wieder verschoben hatte: ich setzte mich an den PC und ans Telefon, googelte und rief Leute mit dem mir bekannten Namen an, um die Tante zu finden. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten wurde ich auch fündig. Während die Mutter meiner Betreuten kaum Interesse zeigte, rief mich die Tante umgehend zurück und besuchte meine Betreute sofort. Die Tante meiner Betreuten war hochbetroffen darüber, wie schlecht es ihrer Nichte ging. Sofort machte sie Pläne, wie man etwas für meine Betreute tun könnte – frühere Mitschüler ausfindig machen, eine neue Brille kaufen, Besuche organisieren und vieles mehr.
Und meine Betreute? Die war vor Freude über die Besuche ihrer Tante völlig aus dem Häuschen. Ich erhielt ein von der Tante gemachtes Foto, auf dem meine Betreute – einen großen Blumenstrauß in der Hand – über das ganze Gesicht strahlte.
Und ich? Einerseits freue ich mich natürlich darüber, wie gut meiner Betreuten der Kontakt zur Tante tut. Andererseits mache ich mir jetzt große Vorwürfe, weil ich mich nicht schon eher um die Organisation dieses so wichtigen Kontakts gekümmert habe. Das Leben meiner Betreuten ist ein einziger Schicksalsschlag und von Schmerzen, Einschränkung und völliger Abhängigkeit von Pflege und Versorgung durch andere gekennzeichnet. Und diese ganze Tragik wird noch durch die Isolation erschwert, da es bisher weder Verwandte, noch Freunde oder Bekannte gab, die an ihrem Leben Anteil nehmen.
Ich könnte mich jetzt damit herausreden, dass mir nur zwei Stunden an Betreuungszeit zur Verfügung stehen, die durch Schriftverkehr, Geldverwaltung, Antragstellungen e.t.c. völlig aufgebraucht werden. Und ich könnte als noch schwerwiegenderes Argument anführen, dass es überhaupt nicht meine Aufgabe ist, mich um der Herausfinden der verwandtschaftlichen Kontakte zu kümmern, da ich nur für die rechtliche Vertretung zuständig bin und der Bereich der sozialen Kontakte normalerweise in den Aufgabenbereich des Heims fällt. Weder irgendein Rechtspfleger noch irgendein Richter würde jemals auf die Idee kommen, mir einen Vorwurf zu machen. Auch Kollegen, mit denen ich über diese Angelegenheit gesprochen habe, haben mir sofort gesagt, dass ich mir nichts vorwerfen muss.
Aber all das kommt mir vor wie fadenscheiniges Herumreden um das, worum es eigentlich geht. Ich habe etwas vor mir hergeschoben, was für jemanden sehr wichtig ist und eine entscheidende Verbesserung seiner Situation darstellt. Und alle Ausreden ändern nichts daran, dass es hierfür nur eine Bezeichnung gibt: Versäumnis.
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Dein Beruf bringt einen hohen moralischen Anspruch mit sich, dem offenbar nach allem, was Du hier so schilderst, so manche Berufsbetreuer kaum gerecht werden (wollen).
Wenn ich jetzt schreibe, dass das, was Du getan hast, keine Selbstverständlichkeit war, dann soll das keine - wie Du es bezeichnest - Ausrede sein für Dein Nichthandeln. Für mein Empfinden hast Du eine gute Antenne für die Befindlichkeiten Deiner Mitmenschen und bist weit entfernt davon, Dich aus irgendwas herausreden zu wollen. Du hast es getan, Du hast die Tante angerufen und der Dir anvertrauten Betreuten damit eine große Freude bereitet - wer urteilt da, ob das zu spät war? Das bist nur Du selbst, und ich bin der Meinung, Du solltest weniger streng mit Dir sein in dieser Sache.
Es ist wichtig, die eigene Menschlichkeit zu akzeptieren, auch und insbesondere deshalb, weil man die Menschlichkeit anderer sonst nicht akzeptieren kann. Du bist so weit davon entfernt, Dich nun im Nachhinein über andere zu erheben und zu sagen: "Schaut, ich habe meine Pflicht übererfüllt, ich bin so toll, dass ich dieser Frau ein Lächeln geschenkt habe!" Ins andere Extrem umzuschlagen und mit Dir selbst zu hadern, begleitet von einem "Hätte ich nur..." wird Dir selbst nicht gerecht, und damit auch Deinem direkten Umfeld nicht. Zwischen Selbstvorwurf und der Glorifizierung der eigenen Person gibt es noch eine Menge anderer Optionen, die Du um Deiner selbst Willen wahrnehmen solltest.
Im Übrigen finde ich schön, was Du erreicht hast. Das Ergebnis als solches kann auch für sich stehen.
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Ich habe mir etwas Zeit genommen, um auf Deinen Kommentar zu antworten. Besonders dieser Satz hat es mir angetan. Ich glaube, dass ich leider zu den Menschen gehöre, die für das, was sie tun, auch immer die Spiegelung durch andere brauchen. Mit „andere“ meine ich aber nicht den Menschentypus, der prinzipiell und rigoros alles aus kaufmännischer Sicht beurteilt. Der würde übrigens in diesem speziellen Problem überhaupt kein Versäumnis sehen, sondern das ganze sofort mit dem kurzem Kommentar „Nicht unsere Aufgabe“ abhaken.
Bei den meisten Tätigkeiten im sozialen Bereich gibt es weitaus mehr Handlungsbedarf, als man erfüllen kann. Nicht nur bei Betreuern, sondern auch in Kitas, Beratungsstellen, Kinderschutzhäusern, Sozialpsychiatrischen Diensten e.t.c. Man wird immer wieder damit konfrontiert, dass man Dinge nicht so gemacht hat, wie es für die einem anvertrauten Menschen erforderlich wäre. Viele Sozialarbeiter sind dann irgendwann ausgebrannt. Andere wiederum erfüllen nur noch das Plansoll um eben nicht auszubrennen. Und wiederum andere halten durch, weil sie immer wieder neu nach Lösungen für die defizitären Bedingungen suchen und daran arbeiten, Abhilfe zu schaffen.
Das, was Du die „anderen Optionen“ nennst, sind für mich die feinen Zwischentöne. Die nimmt man – zumindest ist es bei mir so – aber meist nur wahr, wenn man ein sensibles Feedback erhält und wenn dabei nicht die werbewirksame Außendarstellung im Mittelpunkt steht, sondern es um ehrliche Auseinandersetzung geht. Das fehlt mir zuweilen sehr.
Aber Du hast Recht – ich sollte mich darüber freuen, dass sich jetzt für meine Betreute etwas entschieden verbessert hat. Vielleicht gelingt es uns ja auch noch, ehemalige Freunde wieder zu finden.
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