Mittwoch, 23. Juli 2014, 02:53h

Kranke Kinder und Hartz IV

behrens

Die Umstellung von Sozialhilfe auf Hartz IV war mit vielen Streichungen verbunden, von denen die Öffentlichkeit weitgehend gar nichts mitbekommen hat. So war es vor der Reform beispielsweise möglich, dass vom Sozialamt die Kosten für verordnete Brillen, rezeptfreie Medikamente, erforderliche Taxifahrten zum Arzt/zur Klinik oder für manche orthopädische Hilfsmittel übernommen wurden. Außerdem waren Verordnungen noch nicht generell mit einem Eigenanteil verbunden. Ich will nicht abstreiten, dass es in manchen Fällen auch zu Missbrauch kam, aber für viele war die Kostenübernahme unentbehrlich, wie z.B. für Heimbewohner, die ja gar keinen Regelsatz mehr erhalten, sondern nur ein Heimtaschengeld, von dem nur schwer die Kosten für eine Brille gezahlt werden können.

Wahrscheinlich machen sich diejenigen, denen ein normales Gehalt zur Verfügung steht keine Vorstellung davon, wie schwer es ist, die durch die Erkrankung eines Kindes entstehenden Mehrkosten zu bewältigen. Ich habe gerade aus nächster Nähe mitbekommen, was dies für Eltern bedeutet, deren frisch operierter Säugling noch zur Nachbehandlung ins Krankenhaus gefahren werden muss. Da Hartz IV-Empfänger in der Regel kein Auto haben und öffentliche Verkehrsmittel von den behandelnden Ärzten als zu gefährlich und belastend eingestuft werden, bleibt nur das Taxi für den Transport. Liegt das Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, kann dies mal eben 100,00 € für Hin- und Rückweg kosten. Aber auch schon die durch die Besuche im Krankenhaus anfallenden Fahrtkosten sind nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass beispielsweise eine Tageskarte für einen Erwachsenen schon fast 6,00 € kostet.

Aber es gibt auch noch andere Schwierigkeiten. Die Wohnungen, in denen Hartz IV Empfänger leben, sind oftmals sehr beengt und so kann die dringende Empfehlung des Arztes, das Kinderbett im Schlafzimmer unterzubringen nicht immer erfüllt werden. Bei all dem muss man sich vor Augen halten, welcher psychischen Belastung Eltern ausgesetzt sind, deren neugeborenes Kind gerade eine lebensbedrohende Erkrankung nur knapp überlebt hat. Sich dann noch den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wie man die finanziellen Mehrkosten irgendwie in den Griff bekommt, kann die ohnehin hohe Anspannung noch weiter erhöhen.

Manchmal berührt es mich eigentümlich, wenn ich in irgendeinem Fernsehfilm ein geräumiges nett ausgestattetes Kinderzimmer sehe, in dem eine entzückende Wiege vor einem großen hellen Fenster mit Blick auf den eigenen Garten steht. Mir fallen dann die vielen winzigen Kinderzimmer ein, die ich im Rahmen meiner Arbeit kennengelernt habe, die allenfalls halb so groß sind und die sich von mehreren Geschwistern geteilt werden müssen. Zimmer mit zur Straße gelegenen Fenstern, die oft geschlossen gehalten werden, weil der Straßenlärm kaum auszuhalten ist. Einen Garten, in den man die Kinder auch spielen lassen kann, ohne jede Minute dabei sein zu müssen, gibt es so gut wie nie.

Sicher, eine glückliche Kindheit ist nicht von der Größe des Kinderzimmers abhängig. Aber eine belastende Situation – und dazu zähle ich eine schwere Erkrankung eines Kindes – wird noch schwieriger, wenn sich alle auf die Füße treten und das Haushaltsbudget so gering ist, dass selbst geringe Mehrkosten schon bedenkliche Einschränkungen verursachen.

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Donnerstag, 17. Juli 2014, 02:25h

Schein und Sein

behrens

Gestern habe ich einen Anruf einer Angehörigen eines Betreuten erhalten, die dringend einen neuen Betreuer für ihren Sohn sucht. Ich war äußerst erstaunt, dass mich jemand auf einer Nummer erreichte, die nur wenigen bekannt ist. Der Sohn der Betreffenden befindet sich zur Zeit in einer psychiatrischen Einrichtung und die Mutter und der Sohn sind mit der jetzigen Betreuerin nicht zufrieden. Meinen Namen hat sie von den behandelnden Ärzten erhalten, da diese anscheinend nicht wussten, dass ich nicht mehr als Betreuerin arbeite. Ich kann nicht leugnen, dass ich ein wenig stolz darauf war, vom Krankenhaus weiterempfohlen zu werden. Allerdings ist dies nicht der Grund, warum ich diese Begebenheit hier erwähne, auch wenn mir dies mit Sicherheit von einigen Kollegen unterstellt werden wird.

Was die Beschwerde über einen Betreuer betrifft, so ist es auch mir schon passiert, dass Betreute oder Angehörige mit meiner Arbeit nicht zufrieden waren und einen Betreuerwechsel wünschten. Wenn ich nachrechne, müsste dies so um die drei bis vier Mal passiert sein. Und ich selbst habe in Bezug auf meine Arbeit im nachherein auch längst nicht bei allen Betreuten das Gefühl, dass ich alles so gemacht habe, wie es optimal gewesen wäre.

Mit der Betreuerin, mit der der Betreute und seine Mutter nicht zufrieden waren, hatte ich früher schon zu tun gehabt. Als ich vor etwa einem Jahr ein Fernsehinterview gab, machte sie mir anschließend bitterste Vorwürfe, da ich in dem Interview auch erwähnte, dass es so manches gibt, das dringend verbessert werden sollte. Ich erinnere mich noch an den Wortlaut der Vorwürfe: „Kritik darf nicht in einer solchen Sendung vorgetragen werden, jeder Betreute hat schließlich die Möglichkeit, sich bei Gericht zu beschweren“. Abgesehen davon, dass ein Großteil der Betreuten definitiv nicht in der Lage ist, sich für seine Rechte einzusetzen und sich selbst zu beschweren (sonst hätten diejenigen wohl kaum eine Betreuung erhalten) steht diese Einstellung für eine Überzeugung, die davon ausgeht, dass es grundsätzlich keinen Grund zur Kritik gibt, da Betreuer ausnahmslos mit allerhöchsten Qualitätsanforderungen an sich selbst und somit fehlerfrei arbeiten. Diesen Eindruck hat man übrigens sofort, wenn man sich die Homepage – die es selbstverständlich gibt – ansieht. Diverse Fortbildungen und Abschlusse werden aufgelistet und als Leitbild wird formuliert „Der betreute Mensch steht im Focus“. Alles weist darauf hin, dass die Arbeit so qualifiziert und vorbildlich gemacht wird, dass es niemals einen Grund für berechtigte Kritik geben wird.

Aber wie passt dieses Bild absoluter Perfektion damit zusammen, dass es anscheinend doch vorkommt, dass jemand sich nicht gut betreut fühlt? Ein Einzelfall ist dies übrigens nicht, denn auch eine meiner früheren Betreuten, die ich zufällig traf und die nach Beendigung meiner Tätigkeit von besagter Betreuerin übernommen wurde, hatte einen Betreuerwechsel beantragt und wird inzwischen von jemanden betreut, bei dem sie sich nach eigenen Aussagen wohler fühlt. Man könnte jetzt anführen, dass es sich vielleicht bei der Mutter des Betreuten um eine besonders quenglige und renitente Angehörige handelt. Den Eindruck machte die Betreffende beim Telefonat jedoch nicht, denn sie erhob weder überhöhte Ansprüche noch äußerte sie sich in irgendeiner Form abfällig über die Betreuerin. Der Angehörigen ging es lediglich darum, dass nicht über den Kopf ihres Sohnes hinweg entschieden werden soll, sondern er mitbestimmen möchte.

Um es nochmals zu betonen – es geht mir nicht darum, Urteile darüber zu fällen, ob jemand seine Arbeit gut oder schlecht macht. Was mir jedoch immer ein großes Anliegen war und auch weiterhin sein wird, ist die Auseinandersetzung mit der Frage, in wieweit Anspruch und Realität des Betreuungsgesetzes übereinstimmen und wie man der zunehmenden Kritik an Betreuern konstruktiv begegnen könnte. Die Inszenierung eines Bildes der Perfektion ist dabei genauso wenig hilfreich wie das Totschweigen von Kritik, denn beides verhindert den dringend erforderlichen Dialog mit der Öffentlichkeit.

Während all der Jahre, die ich als Betreuerin gearbeitet habe, habe ich immer wieder festgestellt, dass sich gerade diejenigen Kollegen engagiert und mit dem Ansatz eines demokratischen Führungsstils um ihre Betreuten kümmern, denen die Inszenierung einer Außendarstellung gleichgültig ist und die kein Problem damit haben, dass aus den eigenen Reihen auch Kritik geäußert wird. Und auf der anderen Seite sind gerade mit denjenigen Betreuern, die Auseinandersetzung mit Kritik vehement ablehnen und die sehr viel Wert auf ein ausschließlich positiv inszeniertes Außenbild legen, viele nicht besonders zufrieden.

Ich habe diesem Beitrag den Titel „Schein und Sein“ gegeben, denn genau darum geht es – um das Bild, das nach außen vermittelt wird und um das, was tatsächlich dahinter steckt. Dies ist beileibe kein Thema, dass nur den Bereich der Betreuungen betrifft, denn inzwischen werben auch Pflegeheime, Jungendeinrichtungen, Beratungsstellen etc mit Selbstdarstellungen, die keinerlei Informationen mehr enthalten, sondern stattdessen lediglich aus Aneinanderreihungen positiver Attribute und hochkarätiger Zielformulierungen bestehen. Eigentlich müsste man überall nur noch hochzufriedene überglückliche Menschen antreffen, wenn all dies tatsächlich zuträfe – was natürlich nicht der Fall ist.

Gehen wir doch wieder ein wenig mehr ins Sein, anstatt uns dem Schein zu widmen. Lassen wir doch einfach Kritik zu, anstatt uns als perfekt darzustellen. Die Betroffenen würden es uns sicher danken…

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Freitag, 11. Juli 2014, 14:44h

„Denn ich bin gut dort wo ich bin“ – Statement zur Sterbehilfe von jemandem, der Glück im Unglück hatte

behrens

Durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ wurde ich aufmerksam auf die Lebensgeschichte des Franzosen Philippe Pozzo di Borgo, der seit über zwanzig Jahren aufgrund eines Unfalls querschnittgelähmt ist. Im Film steht fast allerdings fast ausschließlich die Freundschaft zu seinem Pfleger Abdel Sellou im Mittelpunkt, während in der zugrunde liegenden Biographie, die ich bisher noch nicht gelesen habe, auch eingehend der Lebensalltag eines Querschnittsgelähmten und seine Zeit vor dem Unfall beschrieben wird.

Bei Stöbern im Internet fand ich auch ein aktuelles Interview mit Philippe Pozzo di Borgo, in dem er sich zur Sterbehilfe äußert. In Frankreich ist die Gesetzeslage ähnlich wie in Deutschland, das Einstellen lebenserhaltender Maßnahmen ist unter gewissen Umständen erlaubt, aber aktive Sterbehilfe ist verboten. Und ähnlich wie in Deutschland wird darüber diskutiert, ob nicht im Interesse der unheilbar Kranken auch aktive Maßnahmen erlaubt werden sollten („Leonetti-Gesetz“).

Wie beurteilt nun jemand wie Philippe Pozzo di Borgo die aktive Sterbehilfe? Dieser Mann, der vor seinem Unfall ein überaus aktives und selbstbestimmtes Leben geführt hat. Er äußert sich hierzu ganz konkret:

"Man stellt mir die Frage: "Hättest du gewünscht, dass man die Maschinen abschaltet, als es dir nach deinem Unfall so schlecht ging?" Sicher, ich habe daran gedacht, mich nach meinem Unfall umzubringen, aber 20 Jahre danach bin ich jetzt ziemlich zufrieden, dass man die Maschinen nicht abgestellt hat. Man darf diese Dinge nicht überstürzen, ich hätte es lieber, dass die Leute sich die Zeit nehmen, diese Frage zu betrachten, anstatt in einer Aufregung an ein Thema heranzugehen, die nur so lange wie eine Fernsehsendung andauern wird, bevor man dann diese Angelegenheit mit einem unglücklicherweise endgültigen Gesetz beerdigt.

(…) Und ich finde, dass das Leonetti-Gesetz diese Weisheit hat, viele nach ihrer Meinung zu fragen anstatt auf monolithische Art Gesetze zu erlassen. Wenn Sie mich gebeten hätten, als ich noch gesund war, ein Papier zu unterzeichnen, dass man die Maschinen abstellen sollte, wenn ich in so einem so katastrophalen Zustand geraten würde, hätte ich es unterschrieben genauso wie es heute 92 % der Franzosen tun würden. Nett, dass Sie mir jetzt nicht die Maschinen abstellen, denn ich bin gut dort wo ich bin.


Dann wird ein älteres Interview zitiert, in dem Philippe Pozzo di Borgo sich zu dem Recht äußert, den Schmerz zu unterbrechen:

"Was meinen Schmerz betrifft, mischen Sie sich bitte nicht ein. Ich möchte so lange wie ich es kann selbst darüber bestimmen. Und ich möchte nicht, dass jemand für mich entscheidet. Unsere keimfrei gemachte Gesellschaft spricht ungern über Schmerz. Dennoch gibt es einen Reichtum im Schmerz. Sie investieren wieder in die Gegenwart. Sie leben nicht in Bedauern und Erinnerungen, Sie machen keinen Plan über unseren Planeten, weil Sie von dem Schmerz beansprucht werden. Unsere Gesellschaft gleitet durch die Gegenwart, immer mit einem Kalender von 24 Stunden im Voraus im Kopf. Legen Sie ein wenig mehr Gewicht auf den gegenwärtigen Augenblick.

Während im neueren Interview deutlich betont wird, dass es sehr wohl auch unter größten körperlichen Einschränkungen möglich sein kann, sein Leben zu lieben, betont Philippe Pozzo di Borgo im älteren Interview, wie wichtig die Selbstbestimmung in Bezug auf das Aushalten des eigenen Leidens ist. Interessant ist jedoch, dass er nicht den Bogen zieht zum allgemein postulierten: „Jeder hat ein Recht, seinen Schmerz zu beenden“ sondern er kritisiert im gleichen Atemzug das Bedürfnis nach Tabuisierung des Schmerzes und des Leidens. Man könnte sich jetzt fragen: „Ist er denn nun für oder gegen das Recht auf Sterbehilfe?“ Aber wenn man seine Aussagen genau liest, dann erkennt man, dass er aus gutem Grund eine Festlegung ablehnt und stattdessen auf die Bandbreite der Thematik hinweisen will und dabei betont, wie enorm wichtig es ist, sich für eine so existentielle Entscheidung viel Zeit zu nehmen und möglichst viele Meinungen einzuholen.

Respekt vor dem Leiden eines Menschen und seiner Autonomie äußert sich eben gerade nicht in vorschneller und eigenmächtiger Befürwortung des Wunsches nach Sterbehilfe, sondern in der Bereitschaft, sich mit dessen Leiden vor dem Hintergrund seiner individuellen Biographie auseinanderzusetzen.

„Es gibt einen Reichtum im Schmerz“ – diese Aussage aus dem Munde eines Menschen zu hören, der mit Sicherheit ein Höchstmaß an Schmerz am eigenen Leib ertragen muss, öffnet die Sicht auf den existentialistischen Bereich des Daseins, ein Bereich, der durch unsere extrem materialistisches Weltauffassung kaum noch wahrgenommen wird. Und Philippe Pozzo di Borgo trifft mit seiner Formulierung der „keimfrei gemachten“ Gesellschaft genauso ins Schwarze wie mit seiner Kritik an einer überschnell getroffenen Entscheidung zugunsten der Sterbehilfe,

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – niemand darf gezwungen werden, über das Erträgliche hinausgehende Schmerzen zu erdulden. Aber es ist eine Anmaßung, beurteilen zu wollen, ob das Leben eines anderen Menschen für diesen noch lebenswert ist oder nicht. Erst wenn alles getan wurde, um dem Betreffenden sein Leiden zu erleichtern und erst wenn alle Menschen zu Rate gezogen wurden, die dem Betreffenden nahe stehen, werden die Voraussetzungen geschaffen, um den Wunsch nach Sterbehilfe – so dieser unverändert weiterbesteht – erfüllen zu dürfen.

Wie gut, dass es Menschen wie Philippe Pozzo die Borgo gibt, die uns an ihrer Lebensgeschichte teilhaben lassen. Und welch Glück hatte er, dass es niemanden gab, der – mit dem Blick zur Uhr – jegliche Entwicklungsprozesse verhindert hätte durch das lapidare „Wer sterben will, soll doch sterben“.

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