Mittwoch, 7. April 2021, 14:40h
Meine Idee: Bedingtes statt bedingungsloses Grundeinkommen!
Wenn ich meine Meinung zum bedingungslosem Grundeinkommen in einem Satz zusammenfassen sollte, dann würde dieser lauten: Bedingungslose Gewähr von Leistungen ist ein falsches Signal! Allerdings lehne ich die Idee des unbedingten Grundeinkommens nicht gänzlich ab, da ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Sozialarbeiterin das große Dilemma der Transferleistungen zur Genüge kennenlernen konnte.
Warum benötigt eigentlich jemand Hilfe dabei, den erforderlichen Antrag auf das ihm zustehende Existenzminimum zu stellen? Ganz einfach: weil die beantrage Leistung sich oftmals nicht aus einer einzigen Quelle zusammensetzt, sondern aus vielen: Hartz IV, Arbeitslosengeld I, niedriges Gehalt, Ausbildungsbeihilfe, Bafög, Kindergeld, Mietzuschuss, Unterhalt, Unterhaltsvorschuss, niedrige Rente (dann Grundsicherungsleistungen), Krankengeld, Reha-Leistungen etc. Und je mehr Mitglieder eine Bedarfsgemeinschaft hat, desto komplizierter wird es. Als Betreuerin hatte ich den Fall, dass für meine Betreute, eine Mutter von mehreren Kindern, drei (!) verschiedene Sachbearbeiter beim Jobcenter/Sozialamt zuständig waren: einer für die Betreute, einer für den volljährigen und einer für den 15jährigen Sohn. Ohne Betreuerin schafft das wohl kaum jemand, wobei gesagt werden muss, dass selbst die Sachbearbeiter nicht sicher waren, wie und wo die Antragstellung laufen muss.
So richtig kompliziert wird es aber, wenn ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis aufgenommen wird, denn dann werden plötzlich weitere Stellen zuständig, die aber nur dann zahlen, wenn geklärt wurde, ob nicht vielleicht doch ein vorrangiger Anspruch bei einer anderen Stelle besteht. Oftmals wird dann die Wohnungsmiete nicht pünktlich zum Monatsanfang gezahlt, was dann eine Mahnung mit sich bringt und sich negativ auf das Mietverhältnis auswirkt (Mahnungen, Zusatzkosten etc.) Und last not least ist es beim Klientel nicht selten der Fall, dass ein Arbeits-/Ausbildungsverhältnis schnell wieder beendet wird. Dann ist das Chaos perfekt, weil die Abklärung der vorrangigen Zuständigkeit erneut beginnt und diverse weitere Unterlagen vorgelegt werden müssen. Erfahrungsgemäß benötigt das Einholen von Unterlagen jedoch sehr viel Zeit, zumal manche wiederum erst dann ausgestellt werden, wenn zuvor eine andere Unterlage eingereicht wurde.
Tapfer, wer bis hier beim Lesen durchgehalten hat. Meine Geduld stieß bei diesem Antragsmarathon oftmals an ihre Grenzen und den meisten Kollegen ging und geht es genauso. Zumal einige Betreute den Betreuer für das Dilemma verantwortlich machen, was nicht selten lautstark zum Ausdruck gebracht wird und auch schon mal eine Beschwerde beim Gericht oder beim Vorgesetzten mit sich bringt.
Alles in allem erinnern die kaum nachvollziehbaren und oftmals unnötig komplizierten Regelungen des Verfahrens zur Existenzsicherung meist mehr an Schildbürgerstreiche, als an strukturierte und durchdachte Vorgaben. Der einzelne Hilfebedürftige wiederum erinnert in seinem Kampf gegen eine übermächtige Bürokratie an Kafkas Protagonisten in "Der Prozess", welcher nicht mehr versteht, was mit ihm geschieht und der daran langsam verzweifelt.
Ist dieses haarsträubende, zeit- und personalintensive Prozedere tatsächlich unumgänglich? Meiner Meinung nach nicht. Mein Vorschlag:
Schaffung einer übergeordneten Kooperationsstelle für Antragsstellungen!
Das Antragsverfahren wäre hierdurch erheblich vereinfacht und die verschiedenen Ressorts könnten trotzdem beibehalten werden, was bei der Gewährung von Bundes- als auch Ländermitteln nicht unwesentlich ist.
Ein Antrag könnte bei jeder Behörde oder alternativ bei einer extra dafür eingerichteten Anlaufstelle gestellt werden und die Behörde klärt von sich aus ab, ob es vorrangige Ansprüche anderer Leistungsträger gibt. Ist dies der Fall, werden erforderliche Bescheinigung digital übermittelt. Das Einkommen betreffende Daten werden dabei zentral gespeichert und können jederzeit aktualisiert und verlässlich abgerufen werden.
Ansatzweise gibt es diesen Weg in bestimmten Fällen übrigens schon. Beantragt jemand zum Beispiel aus der Arbeitslosigkeit heraus Rente, wird während der Bearbeitungsdauer weiterhin ALG I oder ALG II gezahlt. Bei Bewilligung der Rente wird dann der ab Antragstellung angefallene Betrag von der Rentenkasse direkt an die Bundesagentur oder das Jobcenter gezahlt und verrechnet.
Die Vorteile einer Antragskoordination liegen auf der Hand:
- Der gesetzlich garantierte Anspruch auf ein Existenzminimum wird verlässlich umgesetzt
- Es gibt keine Zahlungslücken, die weitere soziale Schwierigkeiten erzeugen (säumige Miete/drohender Wohnungsverlust, Nichtzahlung von Strom, Gas, etc., Ratenzahlungen)
- Insbesondere in Hinsicht auf Familien mit Kindern ist die erforderliche Versorgung verlässlich sichergestellt.
- Reduktion kosten- und zeitintensiver Verwaltung
- Weitaus weniger Unterstützungsbedarf durch gesetzliche/sozialpsychiatrische Betreuer
Speziell aus meiner Erfahrung der Arbeit als Betreuerin spielt für mich auch ein weiterer Aspekt eine große Rolle. Schon seit längerem steigt die Zahl derer, die eine gesetzliche oder eine sozialpsychiatrische Betreuung benötigen. In beiden Fällen ist die Diagnose einer psychischen bzw. betreuungsrelevanten Erkrankung für die Hilfeleistung erforderlich. Allerdings liegt der Grund für die zunehmende Zahl erforderlicher Betreuungen nicht in erster Linie in einer zunehmenden Zahl psychischer Erkrankungen, sondern vielmehr in der zunehmenden Überforderung bei der eigenständigen Bewältigung von Alltagsangelegenheiten. Das mag auch mitverursacht durch eine Abnahme der Alltagskompetenz sein, aber zu einem großen Teil liegt die Ursache eben auch daran, dass viele Menschen sich übermächtigen Behörden ausgeliefert fühlen, deren Struktur und Vorgaben sie nicht mehr durchschauen und deren geforderter Mitwirkungspflicht sie selbst bei bestem Willen nicht nachkommen können.
Dass sich dies irgendwann auch psychisch bemerkbar macht, ist mehr als verständlich. Aber hier sollte man nicht Ursache und Wirkung verwechseln, denn viele Menschen waren in Zeiten, in denen sie noch durch Arbeit sozial eingebunden waren, psychisch weitaus stabiler. Dies wird insbesondere bei alten Menschen deutlich, die oftmals während ihrer aktiven Zeit den Alltag bestens bewältigt haben, aber die sehr schnell mit Antragstellungen überfordert sind. Als beispielsweise meine Mutter infolge des Schlaganfalls meines Stiefvaters diverse Behörden kontaktieren musste, gab sie sehr schnell auf, obwohl sie zuvor ihr - nicht gerade einfaches - arbeitsreiches Leben immer ohne jegliche Hilfe selbst gemeistert hatte.
Fazit:
Auf lange Sicht ist es keine gesellschaftlich sinnvolle Lösung, Menschen im Bezug von Transferleistungen immer häufiger Betreuer und Sozialarbeiter zur Seite zu stellen. Durch eine Koordination und Neustrukturierung des Antragsverfahrens könnte der Großteil der Hilfeempfänger sich selbständig um seine Belange kümmern und die jetzigen zahlreichen Folgeschäden eines ineffizienten Leistungssystems würden sich reduzieren.Diese Reform stellt kein bedingungsloses Grundeinkommen dar, sondern ein Grundeinkommen, dessen einzige Bedingung in der Hilfsbedürftigkeit besteht. Nur wenn der Staat seiner Verpflichtung zur Schaffung eines unbürokratischen und zeitnahen Antragsverfahrens zum Nachweis von Hilfsbedürftigkeit nachkommt, ist das Grundrecht auf ein Existenzminimum auch realisierbar.
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