Montag, 29. August 2011, 14:15h

Meine Betreuten - Was ist das Menschenmögliche?

behrens

Am Grab der meisten Menschen trauert tief verschleiert ihr ungelebtes Leben.
Hermann Hesse (1877-1962)

Heute habe ich die Nachricht erhalten, dass einer meiner Betreuten verstorben ist. Herr F. ist 47 Jahre alt und befand sich schon seit über zwei Monaten auf der Intensivstation. Allerdings war er auf dem Wege der Besserung und es war schon eine anschließende Reha-Maßnahme geplant, so dass die Nachricht für mich trotz der schweren Erkrankung völlig überraschend eintraf.

Ich betreue Herrn F. schon seit etwa 8 Jahren. Herr F. litt seit seinem vierzehnten Lebensjahr an einer schweren Zwangserkrankung. Er selbst beschrieb die Symptome als Blockaden. Diese Blockaden äußerten sich darin, dass er fast alle Tätigkeiten des alltäglichen Lebens nur sehr langsam und verzögernd ausführen konnte. Fiel beispielsweise etwas auf den Boden, dann brauchte Herr F. mehrere Anläufe, ehe er den Gegenstand wieder aufheben konnte.

Die Symptome waren so stark, dass Herr F. einen Pflegedienst benötigte. Duschen, Anziehen, in der Wohnung etwas ordnen – all diese Tätigkeiten dauerten bei Herrn F. sehr viel länger als bei anderen Menschen. Soziale Kontakte hatte Herr F. kaum, obwohl er sich die sehr wünschte. Dies lag zum einen daran, dass er mit seinem Verhalten bei anderen Menschen oftmals Ablehnung oder zumindest Irritierung hervorrief. Zum anderen lag es aber auch daran, dass Herr F. nicht in der Lage war, wirkliches Interesse für andere zu entwickeln. Manchmal wirkte er regelrecht gefühllos anderen gegenüber. Seine Außenseiterposition wurde noch dadurch erschwert, dass er seinen Kummer durch Essen kompensierte und sich infolge seines Übergewichts nur noch schwer bewegen konnte.

Herr F. hatte sich große Hoffnungen gemacht, als er von einem sogenannten Tiefensimulator hörte. Hierbei handelte es sich um eine Art Schrittmacher, der operativ in das Gehirn eingesetzt wird und der bei einigen psychischen Erkrankungen, wie z.B. bei Zwangserkrankungen oder der Touretteerkrankung Heilerfolge zeigte. Allerdings wird diese Operation nur dann durchgeführt, wenn sich alle psychotherapeutischen Verfahren als erfolglos erwiesen haben. Herr F. musste sich daher mehrere Male in stationäre psychiatrische Behandlung begeben, damit ausgeschlossen werden konnte, dass ihm durch andere Therapien geholfen werden kann. Dies wurde allerdings immer wieder verzögert und jeder ärztlichen Konsultation folgten neue Vorschläge.

Als ich heute Morgen vom Tod meines Betreuten erfuhr, löste dies ein Gefühl aus, das ich vage als Hoffnungslosigkeit oder Trostlosigkeit beschreiben kann. Ich sah vor meinem geistigen Auge das Leben von Herrn F., in dem es kaum so etwas wie Glück gab. Er selbst hat einmal gesagt, dass er nicht mehr viel Sinn in seinem Leben sieht, da er keine Hoffnung mehr hat, einmal so etwas wie Normalität zu erleben. Die Zwänge hatten ihm die Möglichkeit genommen, ein normales Leben zu führen. Dazu kam dann die große Einsamkeit, die einherging mit dem Gefühl, dass sich im Grunde niemand für ihn interessiert und es egal ist, ob er lebt oder stirbt. Bei den meisten Menschen erfuhr er nur Ablehnung, die er sich dadurch erklärte, dass er eben jemand ist, der nichts Liebenswertes an sich hat.

Man könnte jetzt sagen, dass der Tod eine Erlösung für ihn war. Das ist schön einfach, man kann die Sache leicht abhaken und muss sich keine Vorwürfe machen. Aber das mit der Erlösung ist so eine Sache. Bevor man stirbt, sollte man gelebt haben. Und es ist allemal besser, von seinen Leiden durch Heilung erlöst zu werden als durch den Tod. Und so bleibt bei mir dieses vage Gefühl, dass nicht alles versucht wurde. Vielleicht wurde nicht alles Menschenmögliche getan.

Das MENSCHENMÖGLICHE. Hat Herr F. das Menschenmögliche wirklich erhalten? Von uns? Von mir?

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