Freitag, 25. Juni 2010, 16:35h
Der Faktor Zeit im Umgang mit Menschen – die Betreuungsfallzahl
Auch wenn sich die Ansichten über Ziel und Methodik in der Arbeit und im Umgang mit Menschen völlig unterscheiden mögen, es gibt ein Kriterium, das die Basis für alle weiteren Ansatzpunkte bildet und dieses Kriterium ist die Menge an Zeit, die ich jemandem widme. Der Mensch, dessen Wohl mir anvertraut ist, beansprucht Zeit. Und die Menge der Zeit ist gleichbedeutend mit der Menge an Hilfe und Unterstützung, die ich jemandem zukommen lasse.
Und Zeit steht nicht unbegrenzt zur Verfügung, Zeit muss auf die Anzahl der Betreuten verteilt werden. Da freiberufliche Betreuer nicht angestellt sind und der Verdienst sich nach der Höhe der Fallzahl richtet, besteht schon von vorneherein ein grundsätzlicher Konflikt zwischen den Interessen der Betreuten und denen des Betreuers. Für letzteren ist eine große Fallzahl – gleichbedeutend mit viel Einkommen – von Vorteil, für die Betreuten selbst ist eine niedrige Fallzahl – gleichbedeutend mit intensiver Betreuung – von Vorteil. Eine hohe Fallzahl kann nur erreicht werden, wenn ein möglichst geringer Zeitaufwand für den einzelnen Betreuten besteht. Eine qualitativ gute Betreuung ist allerdings mit minimalem Zeitaufwand kaum möglich.
Um Missverständnisse zu vermeiden: ein Betreuer mit geringer Betreutenzahl muss nicht zwangsläufig ein guter Betreuer sein, denn auch trotz großen Zeitaufwands können Fehler gemacht und falsche Entscheidungen getroffen werden. Und auch trotz hoher Fallzahl können, wenn die Arbeitabläufe gut und professionell organisiert sind, Betreute die ihnen zustehende und erforderliche Unterstützung erhalten. Nur – irgendwo gibt es zwangsläufig eine Grenze. Und dieses „irgendwo“ ist genau dort, wo Qualität aufhört und in reine Abfertigung übergeht.
Niemand schreibt einem Berufsbetreuer vor, wie viele Betreuungen er führen darf und entsprechend variiert die Zahl der zu betreuenden Personen zwischen 20 und 70 (manchmal auch erheblich mehr) Personen. Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, dass manche Betreuer auch noch andere Tätigkeiten wahrnehmen, so dass man kaum ermitteln kann, wie viel Zeit denn nun tatsächlich für den einzelnen Betreuten übrig bleibt.
Um nochmals auf das von mir eingangs Gesagte zurückzukommen – Zeit ist die Basis für den Umgang mit Menschen. Das ständige und allgegenwärtige Bestreben, möglichst wenig Zeit aufzuwenden um möglichst viele Menschen zu betreuen, hat erschreckende Auswirkungen auf den Umgang mit Menschen. Dieser selbstauferlegte Zeitdruck bedeutet das Ende des Prinzips des Bestmöglichen zu Gunsten des Prinzips des Mindestmasses.
Vielleicht hat der Ein- oder Andere das Buch „Momo“ von Michael Ende gelesen. In dieser Erzählung treiben sogenannte „graue Herren“ ihr Unwesen, die versuchen, überall und immerzu Zeit einzusparen. Was übrig bleibt, ist eine rein auf Zweckmäßigkeit ausgerichtete menschliche Maschinerie, in der so ziemlich alles fehlt, was Menschen für ein menschenwürdiges Leben brauchen. Gott-sei-Dank gelingt es am Ende der kleinen Momo, die Zeiträuber in die Flucht zu schlagen. Das reale Leben unterscheidet sich leider immer weniger von Michael Endes Zukunftsvision – bleibt zu hoffen, dass es auch irgendwann jemanden gibt, der es Momo gleichtut und den Zeitdiebstahl verhindert.
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